QUABAIN

      PETER SCHMIDSBERGER

Skandal Herzinfarkt

Die Hintergründe einer Epidemie und der Strophanthin-Streit

                                          Eine Analyse

VERLAG R.S.SCHULZ

Copyright zur Internetnutzung vom 19.12.2003, ISBN 3-7962-0061-3 rstveröffentlichung 1975

INHALT

Seite

VORWORT von Dr. Manfred Köhnlechner

 

Warum dieses Buch notwendig ist....................

Einleitung

11

Der Ruf nach dem Scheiterhaufen..............................

17

Ein gesundes Herz tut nicht weh.................................

19

Sind Sie noch nie einer Autorität aufgesessen?..........

22

Universitäten behindern den Fortschritt......................

23

Verdammt wird nur der Ketzer....................................

Kapitel

Die Pille gegen den Herzinfarkt

26

1. » Sie verderben sich die Laufbahn! «   .............

31

Ein Wust von Gedankenlosigkeit ..........................

32

Die Fachwelt erkannte, welche Throne wackelten.

33

2. Die Milch der alten Leute ......................................

34

Zähneputzen gegen Herzschmerzen ....................

35

Die Spritze wird zum Hindernis ..............................

37

» Strophanthin beugt dem Infarkt vor « ..............

39

3. » Die größte Epidemie der Menschheit « ..........

41

Immer Jüngere sind die Opfer ..............................

43

Nur umwälzende Neuerungen können helfen .......

45

5

Seite

  1. » Der Mensch ist so alt wie seine Arterien «   .... 46

Pipelines des Lebens - Schleichpfade des Todes ..        47

Wenn das Herz stehenbleibt....................................        49

  1. Infarkte wachsen in Etappen ................................... 53

Auf der Suche nach dem Wegwerf-Herzen ............ 54

Der Linksdrall der Herzinfarkte ...............................        56

Es beginnt mit toten Pünktchen ............................ 57

Kakteen verdorren nicht so rasch ......................... 59

  1. Der unsichtbare Detektiv ........................................ 61

Ein Physiker bietet seine Hilfe an ...........................        62

Das Herz verträgt keinen Muskelkater .................. 65

Explosion im Zeitlupentempo .................................        66

Anatomie der Infarktverhütung ...............................         68

  1. Der Weg nach Heidelberg ...................................... 71

Opfer einer falschen Lehre .....................................        72

Mutig gegen den Strom ..........................................        75

Vor einem Wandel der Auffassung? ...................... 77

II. Kapitel

Der Schauprozeß

  1. Wie man ein Spektakel inszeniert ......................... 83

Er sprach, als wollte er um Entschuldigung bitten ...    85

Die Kern-Explosion fand nicht statt ........................      86

  1. Der eindrucksvolle Augenschein .............................. 89

Fragen, die nicht vorgesehen waren ........................      90

Der Gesprächsleiter sorgt für Ordnung ...................        93

6

Seite

  1. Durch Experimente in die Sackgasse ..................... 96

Ein Mörder, eine Leiche, aber kein Infarkt .............        97

Kunstblut enthüllt ein Wunder der Natur ................        99

Wie ein Dogma entsteht ........................................         102

  1. Virtuosität kennt keine Grenzen .............................. 105

Infarkte während der Operation .............................        107

Sogar Infarkte tun nicht mehr weh .........................        109

Kein Unterschied zwischen Gesunden und

Kranken    111

  1. Ein Professor gibt Rätsel auf .................................. 113

Zunahme der Blutgerinsel - Zunahme der

Infarkte? « ............................................................ 115 Eine Ursache kann nicht später auftreten als ihre

Folgen ....................................................................         116

Wenn ein Wissenschaftler zu liberal ist ..................        119

  1. Und sie verschließt sich doch! .............................. 122

I. Kapitel

Bis alles in Scherben fällt

  1. Gesundheit - ein Monopol der Spezialisten ...........        129

Die zerfledderte Statistik ........................................         131

Dem Ketzer die Beweislast ....................................         133

88 Prozent der Infarkte verhütet .............................        135

» Wir sind nicht bereit « .....................................     136

  1. Die verhinderte Infarkt-Verhütung ..........................        138

» Fett schwimmt immer oben « .........................     140

» Ein sehr sonderbarer Außenseiter « ................    142

7

Seite

  1. Der Drahtzieher ...................................................... 144

Herrn Professors Märchenstunde ..........................      145

Die Forscher schauen in die Röhre ........................      147

Wer krank ist, bestimme ich ...................................        149

Warum die Herzpille boykottiert wurde ...................        151

  1. Kerngesunde Herzkranke ........................................ 153

» In ein Wahnsystem Verstrickt « .......................    154

  1. Das Herz schlägt Alarm ............................................ 157

Der Konflikt zwischen Befinden und Befunden .........      158

» Die nützlichste Neurose der Welt « ..................    159

» Rechtzeitige Behandlung ist entscheidend « ..... 162

» Beschwerdefrei ist auch infarktfrei « .................. 163

  1. Die Rede ................................................................... 165

IV. Kapitel

Der Rache letzter Akt

  1. » Sie kommen noch vor den Staatsanwalt« ......... 177

Zweimal sollte die Herzpille verboten werden ...........      179

Strophanthin darf nicht verdünnt werden ..................      180

» Das ist ja unerträglich! « ...................................   183

  1. Die richtige Dosierung ............................................... 186

Die Pille ist genauso zuverlässig wie die Spritze ......      187

Gegen dieses Herzmittel ist jedes Mittel recht ..........      189

  1. Analyse eines Briefwechsels ..................................... 192

» Die Schulmedizin kann nicht daran

vorbeigehen « ........................................................ 193

» Allen Beteiligten droht Unheil « .........................   196

8

Seite

  1. Der Kronzeuge ........................................................ 199

Sind 200 000 Tote nicht Grund genug? ...................    200

» Das ist in der Medizin manchmal so « ..............        202

» Hochmütig, unlogisch, geschmacklos « .............       204

  1. » Ungeheurer Vorwurf gegen alle Ärzte « ............. 206

Kranke Herzen sind gegen Digitalis empfindlich .......     208

Strophanthin schützt das Herz vor Sauerstoffmangel      211

  1. Wie der Spieß umgedreht wurde ............................... 214

Auch das noch: ein Falschzitat ..................................     216

Tatsachen, die ausgeklammert wurden ....................      218

» Strophanthin ist gefährlich « ............................... 221

  1. Nicht jeder Herztod ist ein Infarkt .............................. 224

Zwei Drittel sterben, bevor der Arzt kommt ............... 226 ehret den Anfängen! .......................................... 228

  1. » Widerrufen Sie, Doktor Kern! « ........................... 231

» Wir sind Ärzte und keine Heiler « ...................... 232 » Das ist kein Tribunal « ...................................... 234

V. Kapitel

» Mehr Ehrfurcht vor dem Leben als vor den Lehren! «

  1. Kern-Spaltung .......................................................... 239

Die Professoren wollen reinen Tisch machen ...........     241

Alle mit voller Kraft zurück ........................................      243

  1. Schreckgespenst Cholesterin ................................... 244

Vergiftete Versuchskaninchen ..................................      246

Kosmetik statt Ursachenforschung ...........................      247

9

Seite

  1. Lieber rechtzeitig sterben ......................................... 199

» Iß nicht, trink nicht, arbeite nicht! « ..................     251

Das glücklichere Leben nach dem Infarkt ............... 252

  1. Ein Lehrstück ........................................................... 255

Menschenversuche mit Schwerkranken? ................ 257 Respekt vor Tatsachen steht über dem Respekt

vor Autorität ..............................................................        259

» Für Strafexzesse dieser Art gibt es kein

Verzeihen « ............................................................ 261

  1. Die Zwangsjacke von Betriebsblindheit und

Prestige ....................................................................        265

Warum die Menschheit nicht vom Fleck kommt ........   266

Trennung von Forschung und Lehre ........................   268 Kontrolle der Wissenschaft durch die

Öffentlichkeit ............................................................         269

Aufwertung des selbständigen Arztes ....................... 271

Anhang

Ergänzungen und Hinweise - Literaturverzeichnis

  1. Kapitel .......................................................... 277
  2. Kapitel ........................................................... 287 IM.    Kapitel ........................................................... 298 iv.    Kapitel .......................................................... 308 v.    Kapitel .......................................................... 319

10

Warum dieses Buch notwendig ist

Wenn der Leser dieses Buch in die Hand nimmt, dann sicherlich mit dem Gefühl: hier wird wieder einmal eine Attacke gegen die Schulmedizin geritten.

Das ist aber nicht der Fall. Denn die vorgebrachte Kritik richtet sich nicht gegen die Schulmedizin generell. Sie zielt auf diejenigen Hüter medizinischer Lehren, die den erreichten Wissensstand für absolut und endgültig halten. Als ob es ausgerechnet heutzutage gelungen wäre, die medizinische Lehre über jenen Stand des Wissens zu erheben, den ein Professor einmal „den augenblicklichen Stand unseres Irrtums" genannt hat. Die Hochschulen sind weder im Besitz der allein selig machenden Wahrheit noch im Besitz eines unantastbaren Monopols.

Deshalb sollte man den Begriff Schulmedizin eigentlich immer in Anführungszeichen setzen: ein Begriff, der mehr aus Verlegenheit geboren wurde. Denn er steht für einen Lehrstoff, der in fortwährender Veränderung begriffen ist. Was vor 50 Jahren noch als felsenfest untermauerte medizinische Erkenntnis galt, dürfte heut zum großen Teil auf starke Zweifel stoßen und in wenigen Jahren vielfach nur noch ein Grund zu nostalgischem Lächeln sein.

Nicht die sogenannte „Schulmedizin" also ist der Angriffspunkt dieses Buches, sondern die Haltung vieler Vertreter der Hochschulmedizin, die nicht akzeptieren

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wollen oder können, daß eben diese Lehre nur das Abbild einer augenblicklichen Erkenntnis ist und nichts Absolutes. Die aus diesem Grund auch alles, was noch einen Fortschritt zu neuen Erkenntnissen erahnen läßt, fast panikartig abwehren und verleugnen.

Das Prinzip ist einfach: was eine Erweiterung der Grenzen der Medizin sein könnte, wird als „Außenseitertum" bezeichnet und damit außerhalb der wissenschaftlich ernst zunehmenden Belange gestellt. Und Pioniere der Wissenschaft - die schließlich das gleiche Recht auf Irrtümer besitzen wie die Hochschulherren selbst - sehen sich als Ketzer von ihren Kollegen isoliert.

Dieser geistige Hochmut sollte nicht widerspruchslos hingenommen werden.

Deshalb bin ich mit diesem Buch einverstanden. Nicht etwa mit jeder darin diskutierten Meinung. In einer wissenschaftlichen Diskussion über den Wert einer auf Digitalis oder aber auf oral verabreichtem Strophanthin bei Herzerkrankungen basierenden Therapie fühle ich mich selbstverständlich weder als

Diskussionspartner, noch etwa als Schiedsrichter berufen. Aber: ich fühle mich sehr wohl verpflichtet, mich dafür einzusetzen, daß diese Diskussion überhaupt geführt wird. Und dazu gehört das Recht der bisher gar nicht fair behandelten Seite auf die Veröffentlichung ihrer Argumente, das Recht auf die Information des Patienten. Denn der Patient ist mündig und muß Zugang erhalten zu allen Fragen, die schließlich seine ureigenen Probleme betreffen. Kein Professor einer medizinischen Fakultät sollte versucht sein, sich als Zensor zu betätigen. Es besteht immer die Möglichkeit, daß sich später einmal die Zensur als verhängnisvoll herausstellen kann. Für den Professor mag das nicht weiter tragisch sein, er müßte sich höchstens mit mangelndem Nachruhm abfinden.

Für die große Zahl der

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Patienten jedoch, die dank dieser Behinderung möglicherweise nicht mehr rechtzeitig oder nicht früher zu einer Linderung ihrer Beschwerden finden konnten, hat ein solches Verhalten natürlich ernste Konsequenzen.

Der Autor des Buches hat ein Lehrbeispiel dieser Art aufgegriffen.

Es begann damit, daß eine Gruppe von Ärzten den Vorwurf erhob, die bisher gültige und zwar allein gültige Theorie über die Entstehung des Herzinfarktes sei falsch. Aus diesem Grund müsse auch die Behandlung der Patienten falsch sein, und die ungemein hohe Zahl an Herzinfarkt sterbenden Menschen habe

daher ihren Grund auch im Versagen der offiziellen Medizin, also der vom Katheder der Universitätsprofessoren verkündeten Lehre.

Die Gruppe der anders denkenden Ärzte rief in ihrem Bemühen, die Öffentlichkeit aufzurütteln, nach dem Staatsanwalt. Die

Inhaber der Hochschulweisheit rieten dagegen zum Besuch des Psychiaters, erklärten die anders denkenden Ärzte zu Außenseitern und taten die neue Lehre kraft ihres Amtes in Acht und Bann.

Wenn man liest, wie dies geschieht, wie hier eine Art von „Hexenjagd" in Samt und Seide verpackt wird, bis sie kaum noch erkennbar ist, dann wird die Frage des Rechthabens

sekundär.

Wie ich für die von mir vertretenen Methoden eintrete und nichts weiter fordere als eine sachliche und objektive

Nachprüfung der damit erreichten Erfolge und eine sich daraus ergebene Konsequenz der Hochschullehre, so trete ich dafür ein, daß der neuen Lehre über die Behandlung des Herzinfarktes eine faire Chance gegeben wird.

Wenn eine Krankheit so alarmierend zugenommen hat und immer häufiger von einem tödlichen Ausgang begleitet ist wie

der Herzinfarkt - die sonst nicht immer zuverlässige Statistik spricht hier eine allzu deutliche Sprache -,

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dann ist klar ersichtlich, daß die bisherige Bekämpfung der Krankheit nicht geeignet ist, das Problem zu lösen.

Ärzte, die der Meinung sind, der einem Herzinfarkt erliegende Patient sei selbst an seinem Tode schuld, machen es sich etwas zu einfach: wird der Patient gesund, dann hat der Arzt ihn gesund gemacht; stirbt er, dann hat der Patient es sich selbst (Rauchen, Streß, Übergewicht etc.) zuzuschreiben. So sollte sich die Medizin nicht der Verantwortung entziehen. Die offiziellen Vertreter der Medizinischen Hochschulen haben bis heute leider noch nicht jene vorbeugenden Maßnahmen und Methoden der Behandlung erkannt, entwickelt und verkündet, die mit allgemeinem Erfolg gegen den Herzinfarkt angewendet werden können, an dem jährlich in der Bundesrepublik mindestens 150 000 Menschen sterben.

Volkswirtschaftlich ausgedrückt bedeutet das: die Universität produziert am Markt vorbei. Denn, wie Prof. Schaefer einmal formulierte: „Ärzte werden bekanntlich auf Universitäten ausgebildet. Sollte etwas an den Ärzten nicht in Ordnung sein, so können die Universitäten nicht in Ordnung sein. Sind die Universitäten nicht in Ordnung, so werden auch die Ärzte nicht in Ordnung sein."

Gesundheitsversorgung ist eine Dienstleistung. Die Ärzte haben eine Leistung zu erbringen, die den Bedürfnissen der

Öffentlichkeit entspricht. Am Leistungsprinzip gemessen hat die

Medizin auf dem Gebiet der Herzinfarktbekämpfung die

Bedürfnisse nicht gedeckt. Die unbefriedigenden Erfolge der Kardiologen lassen deshalb die Frage zu: was ist in diesem Bereich an den Universitäten nicht in Ordnung?

Sie lassen die weitere Frage zu, ob es nicht legal ist, bei einer offensichtlich am Markt vorbeiproduzierenden Hochschul-Lehre einmal Ausschau nach Alternativen zu halten,

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att sklavisch der Lehrmeinung zu folgen, nur weil es nun

einmal die Lehrmeinung ist. Das ist gewiss keine neue Erkenntnis, denn schon 1899 schrieb der Kardiologe Ludolf Krehl: „Wenige Dinge schaden der praktischen Heilkunde so sehr wie ... kritiklose Abhängigkeit von den jeweiligen theoretischen Vorstellungen."

Die hier vorgebrachte Lehre von der Behandlung des

Herzinfarktes durch Einnahme von strophanthinhaltigen

Medikamenten ist eine echte alternative. Ein Angebot an die Medizin, das sachlich, nüchtern und objektiv geprüft und ohne jedes Vorurteil im Rahmen des Notwendigen und Verantwortlichen erprobt werden sollte.

Das scheint, nach den Unterlagen über das „Heidelberger Tribunal" aus dem Jahre 1971 zu urteilen, keineswegs der Fall gewesen zu sein.

Der Autor war in Heidelberg dabei, er hat die Vorgänge spontan niedergeschrieben und dann mit Hintergrund-material ergänzt. Was geschah und warum es wohl geschah, welche Kräfte und

Interessen beteiligt zu sein scheinen und welche bitteren

Konsequenzen die Vorgänge unter Umständen bis heute zu Lasten des Patienten sich daraus ergeben haben, wird hier deutlich gemacht.

Diesem Buch wünsche ich viele aufgeschlossene und kritische

Leser. Es geht nicht nur die Millionen an, die täglich mit dem Risiko eines Herzinfarktes leben müssen. Es geht gleichermaßen jeden Arzt an, der sich die Fähigkeit erhalten hat, unbefangen über den Gartenzaun der Hochschulweisheit zu blicken.

Schon manches bekämpfte Unkraut hat sich später als wertvolles Heilkrauterwiesen.

Dr. Manfred Köhnlechner

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Einleitung

Der Ruf nach dem Scheiterhaufen

Ein gesundes Herz tut nicht weh

Spüren Sie gelegentlich Ihr Herz? Dann schenken Sie solchen

Warnzeichen in Zukunft mehr Beachtung. Denn ein gesundes

Herz tut nicht weh. Was Sie spüren, sind immer krankhafte Vorgänge. Zwar bedeuten Herzschmerzen nicht gleich, daß Sie schwer herzkrank sind. Aber sie weisen auf eine Schädigung dieses Organs hin. Weil Herzerkrankungen das Leben unmittelbar bedrohen, hat die Natur ein empfindliches Warnsystem eingerichtet, das schon frühzeitig Signale aussendet.

Ein Arbeitskreis von Ärzten hat nach jahrelangen

Beobachtungen vieler Tausender von Patienten einen Katalog von Symptomen zusammengestellt. Danach macht sich der vorgeschädigte Zustand dieses Organs auf folgende Weise bemerkbar: durch

•     Herzbeschwerden aller Arten und Schweregrade. Sie äußern sich unterschiedlich als Brennen, als Drücken oder

Stechen, als ein Gefühl des Klemmens oder der

Verkrampfung, als eine eigenartige bedrückende

Beengung , die keiner vergisst, der sie einmal erlebt hat. Sie treten auch als starker Schmerz auf, als Angina- pectoris-Anfall („Brustenge"). Aber ein geschädigter Herzmuskel macht nicht nur im Bereich des Organs selber Schmerzen, es kommt zu einem

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  • Ausstrahlen der Beschwerden. Das wird empfunden als ein dem Rheumaschmerz ähnliches Ziehen und Stechen in der linken Schulter, im linken Arm, zum Teil bis in die Fingerspitzen, auch in die linke Seite des Rückens. Anders machen sich diese Ausstrahlungen in der Halsgrube über dem Brustbein bemerkbar. Dort sind sie als eigentümliches Druckgefühl spürbar, als steckte einem ein Kloß im Halse. Der Kranke hat das Bedürfnis, hinunterzuschlucken, es würgt ihm und drückt ihm die Luft ab. Auffallend auch dies:
  • Kurzatmigkeit bei Anstrengungen und ungewöhnlich rasche Ermüdbarkeit im Alltag. Es kommt, ohne sonderliche Leistung, schon nach kurzer Zeit zu Erschöpfungszuständen. Selbst das Treppensteigen macht Schwierigkeiten, der Kranke glaubt nicht mehr weiter zu können, er keucht nach Luft. Besonders quälend wird diese
  • Atemnot in der Nacht. Die Kranken steigen aus dem Bett und reißen das Fenster auf. Denn sie führen dieses Frischluftbedürfnis aufstickige Luft im Schlafzimmer zurück. Doch zu Unrecht. Ihre Atemnot entsteht nämlich nicht durch Mangel an Sauerstoff im Raum, sondern infolge einer Blutstauung in der Lunge. Es würde genügen, wenn der Kranke sich neben das Bett stellt, so daß das Blut aus der Lunge in den Unterkörper abfließt. In der Nacht kann noch ein weiteres Problem lästig werden:
  • die herzverursachte Schlafstörung. Der Kranke wacht nach wenigen Stunden Schlaf plötzlich mit Herzklopfen auf. Manchmal ist er nass von Schweiß und erinnert sich noch der erschreckenden Angstträume,

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die er kurz vor dem Erwachen hatte. Er kann nicht wieder einschlafen, oft liegt er stundenlang wach, obwohl er übermüdet ist. Erst gegen Morgen fällt er in einen bleiernen Schlaf. Dieses „Nachtleben" der Patienten ist eines der am wenigsten bekannten und gleichzeitig besonders typischen Anzeichen für eine Herzerkrankung. Ein anderes Symptom, das im Bett auftritt, ist die

  • Unverträglichkeit des Liegens auf der linken Seite. Denn das Linksliegen führt zu Unruhe, zu Herzklopfen oder Druckgefühl in der Herzgegend. Die Folge sind

Angstträume und schreckhaftes Erwachen. Überhaupt tritt bei all diesen Symptomen eine Besonderheit auf:

  • Herzangst. Sie äußert sich nicht nur in Alpträumen, sondern auch in Zuständen der Sorge oder der Hoffnungslosigkeit. Während der Nacht macht sich häufig eine Bangigkeit bemerkbar, die in das Gefühl völliger Ausweglosigkeit mündet und den Morgen herbeisehnen läßt. Diese Angst hat anfangs gar keine Beziehung zu einem bestimmten äußeren Anlass. Aber unangenehme Vorstellungen oder Erlebnisse, mit denen sich der Kranke herumzuschlagen hat oder hatte, beginnen sich in diese Gemütslage hineinzudrängen, um sie schließlich mit persönlichen Konflikten, beruflichen Kümmernissen, mit

Angst vor einer Wirtschaftskrise, Krebs oder Krieg, mit Erinnerungen an bedrohliche Situationen längst vergangener Zeiten peinigend zu erfüllen.

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Sind Sie noch nie einer Autorität aufgesessen?

Wer aufgrund solcher alarmierenden Empfindungen argwöhnt, daß mit seinem Herzen etwas nicht in Ordnung ist, wird natürlich einen Arzt aufsuchen. Dort aber kann ihm Unerwartetes widerfahren.

Es kann nämlich geschehen, daß der Arzt, sobald er von den Befürchtungen seines Patienten erfahren hat, den Mund verzieht und mit Mühe ein Lächeln unterdrückt. Oder daß er gar laut herauslacht und dem „eingebildeten Kranken" erklärt, er solle sich nur keine Sorgen machen, an seinem Zustand seien nur die Nerven schuld.

Der Patient weiß jetzt nicht mehr, woran er ist. Er hat Herzschmerzen, und er hat Angst, aber sein Arzt sagt ihm, daß es sich nur um einen harmlosen Schabernack übermütiger Nerven handelt. Ja, sein Arzt zeigt ihm sogar das Buch eines Universitätsprofessors, in dem das Gleiche drinsteht. Weil diese berühmten Leute aber die anderen Ärzte unterrichten und sich daher die ganze Medizin nach ihren Meinungen auszurichten hat, sind sie gewissermaßen die höchste Instanz. Wenn irgendjemand, dann müssen ja sie die Wahrheit kennen. Jetzt seufzt der Patient erleichtert auf und schluckt beruhigt seine Nervenmittel. Die da oben, so denkt er, die werden's schon wissen. Aber wissen sie es wirklich besser als die Natur, die den kranken warnt? Oder irren sie auch hier wieder? Es sollte doch eigentlich zu denken geben, daß die Geschichte der Medizin in großem Ausmaß die Geschichte gerade ihrer

Irrtümer ist.

Greifen wir einen harmlosen Fall heraus. Jeder kennt das

Märchen vom enormen Eisengehalt des Spinats. Weil ein Wissenschaftler ein Komma zu weit nach rechts gerückt hatte, wurden ganze Generationen von protestierenden Schreihälsen mit diesem Gemüse vollgestopft. Ein

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einziger Fehler nur und jahrzehntelang weltweite Auswirkungen - das regt zum Nachdenken an: Warum kann eine falsche Lehre so lange Bestand haben?

Ein amerikanischer Forscher hat das sehr gründlich getan, er hat fünfzehn Jahre lang Material zu dieser Frage zusammengetragen und dabei erstaunliche Gesetzmäßigkeiten aufgedeckt. Aus der kritischen Studie der

Wissenschaftsgeschichte „Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" von Professor Thomas Kuhn geht nämlich hervor, daß in der Wissenschaft gar nicht so sehr der Irrtum selbst von Bedeutung ist, sondern erst seine Zementierung in einem Lehrbuch. Auch der hohe Eisengehalt des Spinats wurde ja erst dann zum „allgemein anerkannten" Wissen, als er in solch einem klugen Wälzer Eingang gefunden hatte. Denn was erst einmal in einem Lehrbuch steht, modert dort Jahrzehnt um Jahrzehnt vor sich hin. Und dieser Sachverhalt ist nur scheinbar belanglos, in Wirklichkeit hat er ungeahnte Auswirkungen. Richten Sie einmal Ihr Augenmerk darauf. Es könnte nämlich sein, daß Sie dann die Warnsignale Ihres Herzens doch ernster nehmen als die Beschwichtigungen der Medizinlehrer. Immerhin stehen Herzerkrankungen an der Spitze der Todesursachen.

Falls Sie sich jetzt „verunsichert" fühlen, dann denken Sie daran, daß es besser ist, mit Zweifeln zu überleben, als vertrauensvoll zu sterben.

Universitäten behindern den Fortschritt

Wer diese Überschrift liest, wird zunächst denken, eine solche Behauptung sei mindestens etwas weltfremd. Leben wir doch in nem Zeitalter, das einen wahren Triumph so vieler Wissenschaftszweige gebracht hat. Und ausgerechnet

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die Universitäten, der Hort unseres Wissens, sollen wissenschaftliche Fortschritte zugleich auch blockieren? Gerade solch ein Horten des Wissens ist es aber, das zu diesem Problem geführt hat. Mit geistigem Kapital ist es nämlich genauso wie mit finanziellem: Kapital muß immer arbeiten, damit es Früchte trägt; Geldscheine gehören nicht zwischen Buchseiten geklemmt ins Regal.

Eben solch ein unüberlegtes Speichern aber geschieht auf den Universitäten. Der gegenwärtige Stand unseres Wissens wird dort in Lehrsätze abgepackt und in Lehrbüchern konserviert, unsere Erkenntnisse genau so wie unsere Irrtümer. Der Lehrbetrieb einer Schule setzt immer Autorität voraus, menschliche Macht also; die Lehrer müssen sich ja gegenüber den Schülern durchsetzen können. Sie müssen als Experten anerkannt werden, gegen die nicht aufgemuckt werden darf- ebenso wenig wie gegen ihren Beschluss, welcher Lehrstoff zu gelten hat: diese absolute Gültigkeit eines Lehrsatzes nennt man Dogma.

Nun ist es aber häufig genug geschehen, daß ein Irrtum zum Dogma erhoben wurde, und es gibt berühmte Beispiele dafür in der Geschichte. Einst hatte sich die Menschheit von den Priestern und Gelehrten überzeugen lassen, daß die Erde der Mittelpunkt des Weltalls sei. Als dieses Dogma zerbrach, wurde die bisherige Weltanschauung dadurch buchstäblich auf den Kopf gestellt. Die Menschen mussten sich damit abfinden, daß ihre Erde nur ein Himmelskörper ist wie unzählige andere auch, der in irgendeinem Bereich des Universums um die Sonne kreist. Die Erkenntnis dieser Wahrheit wäre aber für das „Ebenbild Gottes" nicht ein so furchtbarer Schock gewesen, hätten nicht Dogmatiker im gnadenlosen Kampf gegen unabhängige Forscher in ihm die selbstherrliche Überzeugung genährt, daß sich alles in der Welt buchstäblich nur um den Menschen drehe.

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Wir hätten also allen Grund, sorgsam bei der Suche nach der

Wahrheit vorzugehen. Statt dessen erheben wir durch Universitätsbeschluss einfach den gegenwärtigen Stand unseres Wissens zur „Wahrheit" und machen ihn damit nahezu unabänderlich, auch dann, wenn die Lehrsätze nichts weiter sind als Glaubenssätze. Das aber ist gefährlich: denn nichts verteidigt der Mensch so hartnäckig und mit so großem Aufwand wie das, was er glaubt. „Eine falsche Lehre läßt sich nicht widerlegen, denn sie ruht ja auf der Überzeugung, daß das falsche wahr ist", heißt es bei Goethe. Und Thomas Kuhn stellt dazu fest: hat ein Wissenschaftler erst einmal eine Überzeugung gewonnen, ist er auch dann nicht mehr davon abzubringen, wenn er mit einem „einwandfreien Beweis konfrontiert" wird, der seine Anschauungen als Hirngespinste entlarvt:

  • Er ist „niemals" auch nur zu einer Überprüfung der undlagen bereit, auf denen er sein Denkgebäude errichtet hat.
  • Er läßt sich auch dann nicht von seinen Überzeugungen abbringen, wenn sich die Unhaltbarkeit seiner Theorie dadurch erwies, daß sie zu „skandalösen Zuständen" geführt hat.

Aus der Studie geht hervor, daß Wissenschaftler ihre durch gemeinsamen Beschluss geadelten Überzeugungen

„lebenslang", „unbeschränkt", „unbeugsam", „töricht und starrköpfig" verteidigen. Das trifft sich mit dem berühmten Ausspruch des Nobelpreisträgers Max Planck: „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, daß ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern dadurch, daß die

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Gegner allmählich aussterben und daß die heranwachsende Generation von vornherein mit der Wahrheit vertraut gemacht ist".

Verdammt wird nur der Ketzer

Angesichts eines Irrtums der Wissenschaft könnte man sich also auf den Standpunkt stellen, man müsse einfach abwarten, bis „die letzten Widerstandleistenden gestorben sind". Es gibt aber gewichtige Gründe dafür, daß man es sich damit etwas zu leicht macht. In der Medizin etwa bedeutet die Vorherrschaft einer falschen Lehre, daß die Behandlung von Kranken im Argen liegt. Je länger sie verteidigt wird, umso mehr Leid und vorzeitiger Tod sind die Folge. Doch selbst unter diesen Umständen wurde noch nie eine falsche Lehre von jenen „verdammt", die von der Überzeugung besessen sind, daß sie richtig ist.

Verdammt wird immer nur der Außenseiter, jener also, dessen neue Erkenntnisse nicht mit der alten Lehre zu vereinbaren sind. Er wird zum Ketzer, zum Aufrührer erklärt, der Ruf nach dem Scheiterhaufen erschallt. Dabei ist in den

Geschichtsbüchern nachzulesen, daß die meisten großen Erfindungen von solchen Außenseitern gemacht wurden, weil sie nicht in starren Lehr- und Denkgewohnheiten befangen waren und geistiges Neuland zu betreten wagten. Ohne Ketzer hätte es keinen wissenschaftlichen Fortschritt gegeben. So sehr die Universitätsdogmen den Fortschritt behindern - verhindern können sie ihn doch nicht. Zwangsläufig muß es zwischen den Außenseitern und den „Innenseitern" in den Hochschulen zu einem Konflikt, zu einem erbitterten Kampf führen. Die amerikanische Studie bezeichnet diese Auseinandersetzung als „wissenschaftliche

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Revolution", und sie kommt zu dem Ergebnis, daß solche Revolutionen notwendig sind, also sein müssen.

Das heißt: es muß zu Gewaltakten kommen, sobald die

Wissenschaft auf der Stelle tritt. Gerade auch in jenen Bereichen, die wirfern den Leidenschaften dieser Welt vermuten, wird rücksichtslos gehauen und gestochen. Über den Starrsinn wissenschaftlicher Dogmatiker sagte Friedrich Schiller, seines Zeichens übrigens auch Doktor der Medizin, bei seiner Antrittsvorlesung an der Universität Jena: „Jedes Licht, das durch ein glückliches Genie, in welcher Wissenschaft es sei, angezündet wird, macht ihre Dürftigkeit sichtbar; sie fechten mit Erbitterung, mit Heimtücke, mit Verzweiflung, weil sie bei dem Schulsystem, das sie verteidigen, zugleich auch für ihr ganzes Dasein fechten. Darum kein unversöhnlicherer Feind, kein neidischerer

Amtsgehülfe, kein bereitwilligerer Ketzermacher als der

Brotgelehrte."

Besonders in der Geschichte der Medizin fällt auf, wie roh und wie dumm Neuerer zumeist behandelt wurden. Vielleicht liegt es daran, daß hier der psychologische Widerstand noch stärker ist als in jedem anderen wissenschaftlichen Bereich. Denn eine falsche Lehre in der Medizin bedeutet ja doch, daß Jahrzehnte hindurch Kranke falsch behandelt worden sind. Das aber ist sicherlich das Allerletzte, was ein medizinischer Schulbetrieb eingestehen kann. Und vermutlich liegt darin der Schlüssel für den sich immer wiederholenden Sachverhalt, daß die absoluten Herrscher in der medizinischen Hierarchie jeweils besonders grimmig mit ihren geistigen Widersachern umgegangen sind. Trotz einer erschreckend langen Reihe solch wenig rühmlicher

Vorkommnisse in ihrer Geschichte erleben wir derzeit eine Auseinandersetzung, die selbst in der Medizin-

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Historie nicht ihresgleichen hat: den Streit um den Herzinfarkt.

Alle Voraussetzungen, die Thomas Kuhn skizziert hat, sind gegeben -

Widersprüche zwischen Theorie und Wirklichkeit, Versagen in der Praxis, Verteidigung um jeden Preis, kurz: skandalöse Verhältnisse.

Noch nie aber ist das Kardinalskollegium" der Medizin so weit gegangen, über einen Revolutionär aus den eigenen Reihen Gericht zu sitzen wie einst die Heilige Inquisition über Abtrünnige von kirchlichen Dogmen. Das HerzinfarktTribunal von Heidelberg kann sich nur an Vorbildern aus dem Mittelalter messen lassen, aus Zeiten also, in denen Interessenparteien sich noch allen Ernstes zum Richter über andere aufwerfen konnten, um ihnen -wie einst

Galilei - nur die Wahl zwischen

Abschwören wissenschaftlicher

Erkenntnis oder Feuertod zu lassen. Der Angeklagte, Dr. med. Berthold Kern, darf von Glück sagen, daß Ketzer heute nicht mehr verbrannt werden dürfen.

 

 

 

 

 

 

 

 

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I. Kapitel Die Pille gegen den Herzinfarkt

1. „Sie verderben sich die Laufbahn!'

Es war empfindlich kalt in der Dachkammer, aber er merkte nichts davon. Er hatte zwei Pferdedecken so zu- geschnitten und zusammengenäht, daß für den Kopf und für die Arme drei Löcher freiblieben. Der einzigen Sitz- gelegenheit — einem ausrangierten Holzstuhl aus einer Kaserne — hatte er kurzerhand die Lehne abgesägt, weil die selbstgeschneiderte Kutte sonst nicht bis auf den Boden herabhängen konnte. Auf dieses Weise erreichte er, daß ihn das verwaschen-braune Gewand vom Hals bis zu den Füßen einhüllte.

Weil der Wind durch die mit Zellwollstreifen und Rollglas notdürftig abgedichteten Fensteröffnungen pfiff, trug er unter dem Umhang sämtliche Militärklamotten, die er aus dem Kriege mitgebracht hatte. In den hohen Marschstiefeln steckten die Füße in mehreren Paar Sok- ken. Seinen Kopf bedeckte ein verblichener Ohrenschützer.

Unter der Kutte kam ein Kabel hervor. Dadurch wurde ein Heizöfchen unter dem Hocker mit Strom gespeist, jeden Tag für einige Stunden.

Berthold Kern, Doktor der Medizin, 34 Jahre alt, Ruß- land-Heimkehrer, ausgebombt, verbrachte den Winter 1945/46 in einer fremden, Bombengeschädigten Dach- kammer auf dem Killesberg in Stuttgart.

Am grünen -Tisch in der Dachkammer entstand als

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Auftragsarbeit sein Lehrbuch Grundlagen der Inneren

Medizin".

In jenen trostlosen Tagen des ersten Nachkriegswinters beschäftigte er sich mit den Krankheiten des Herzens — dem königlichen Thema der Inneren Medizin", wie er hervorzuheben nicht müde wurde. Ihn beeindruckte wohl die Fülle der Einzeltatsachen, die auf diesem Gebiet er- forscht und in den Fachbüchern zusammengetragen waren. Weniger befriedigte ihn allerdings, wie er in seinen da- maligen Briefen anmerkte, „die geistige Verarbeitung die- ser Fakten zur Lehre". Er kam zu dem Ergebnis, daß vieles davon „allein schon physikalisch unmöglich" war.

Ein Wust von Gedankenlosigkeit

Dankbar äußerte er sich darüber, daß er „das unwahr- scheinliche Glück" habe, „hier ein Gebiet vorzufinden, auf dem seit Generationen ein riesiger Schatz an Einzelwissen unverarbeitet zusammengetragen ist". Berthold Kern ge- langte bei seiner Arbeit immer mehr zu der Überzeugung, auf eine Goldmine gestoßen zu sein: „Ich hatte niemals das Gefühl, etwas neuzuschaffen, sondern nur etwas frei- zulegen, was bisher unter einem Wust von Gedankenlosig- keit verborgen lag."

Die Gedankenlosigkeit, die Dr. med. Berthold Kern in diesem Brief an seinen Vater anprangerte, war die Gedan- kenlosigkeit der Lehrer an den Hochschulen, der Profes- soren der Medizin.

Zwar erntete jenes Erstlingswerk von 1946, die „Grundlagen der Inneren Medizin", in Fachkreisen noch viel Lob.

Aber dann traf ihn der Bannstrahl der Autoritäten.

Anlaß war das Erscheinen seines zweiten Werkes von

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1948, eines schmalen Buches mit dem Titel "Die Herz - insuffizienz". Darin hatte er die im Herzkapitel seines Lehrbuchs dargestellten Erkenntnisse weiter ausgeführt und ergänzt und konsequent weiter gedacht. Es ist der Schlüssel zu allen späteren Arbeiten Kerns.

Herzinsuffizienz heißt Funktionsschwäche des Herzens.

Und diese Funktionsschwäche ist das klassische Gebiet der Herzforscher. Nun wagte es ein unbekannter Assistenz- arzt, ein Anfänger noch, an den Säulen dieses Lehrge- bäudes zu rütteln, ja es sogar zum Einsturz bringen zu wollen. Denn die Kardiologen der ganzen Welt, so heißt es in dieser Schrift, hätten übersehen, daß es nicht nur eine, sondern insgesamt drei Insuffizienzformen des Her- zens gebe. Und von der wichtigsten, der sogenannten Linksinsuffizienz, hätten sie bislang nicht einmal die Symptome beachtet...

Die Fachwelt erkannte, welche Throne wackelten

Der Autor hatte sich damit selber von einer etwaigen aka- demischen Karriere ausgeschlossen. Zwar war er, um nicht allzu verletzend zu wirken, vorsichtig gewesen, etwa in- dem er beim Widerlegen irrtümlicher Lehren die Namen ihrer prominenten Vertreter ungenannt ließ. Aber die Fachwelt erkannte sofort, welche Throne wackelten. Dem Autor war es auch klar: solche Versuche der Abmilderung konnten nicht verhindern, daß dieses Werk unangenehm aufstößt". Er wußte es spätestens, als einer seiner Chefs ihn wohlwollend warnte: Mit solchen Schriften verder- ben Sie sich Ihre Laufbahn!"

Dr. med. Berthold Kern avancierte nicht von vorn- herein zum Außenseiter. Er hat sich diese Rolle, gewisser- maße Szene für Szene, konsequent aufgebaut.

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2. Die Milch der alten Leute

Auf einem Absatz der steilen Treppe, die zur dritten Etage des Hauses Augustenstraße Nr. 56 in Stuttgart führte, stand ein einsamer Stuhl. Denn die meisten der Patienten, die sich in die Arztpraxis im dritten Stock mühten, waren herzkrank, und es gab keinen Lift, der sie in die Praxis des Dr. Kern hätte transportieren können.

Der Rastplatz auf halber Höhe war so häufig besetzt, daß der Arzt darüber nachzusinnen begann, warum sich wohl so viele Herzkranke Stuttgarts ausgerechnet bei ihm ein Stelldichein gaben. Denn er fand bei seinen Patienten gerade die Symptome der beginnenden Linksinsuffizienz, der Funktionsschwäche des linken Herzens, in besonders vielen Fallen.

Aber bald gewann er die Überzeugung, daß nicht die Herzkranken bei ihm, sondern daß diese Herzkrankheiten bei der Bevölkerung in auffallend großer Menge auftraten.

Kern suchte deshalb nach einem Medikament, mit dem er diese Schäden, die Vorstufen der Herzschwäche, wir- kungsvoll behandeln konnte. Zuerst wendete er das ge- bräuchliche Herzmittel Digitalis an, sah aber bei diesen Kranken oft sogar ihm unerklärliche Verschlechterungen; viele gaben an, daß sie dieses Medikament riicht vertrü- gen. Dagegen erlebte er mit Strophanthin, einem anderen Herzmittel, das bis heute der Digitalis als völlig gleich- wertig gilt, überraschend gute Resultate und zufriedene Patienten. Wer einige Male damit behandelt worden war, mußte bei einem nächsten Praxisbesuch den hilfreichen Stuhl im Zwischenstock nicht mehr benützen.

Kein Herzmittel war früher in Deutschland so geschätzt worden wie Strophanthin. Deshalb war auch hier mehr Erfahrung und mehr Wissen über diese Arznei angesam- melt worden als sonstwo in der Welt. Einer der Herz-

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Spezialisten brachte es auf die Formel: "Was Insulin für die Zuckerkranken, ist Strophanthin für die Herz- kranken."

Die Ärzte nannten es die „Milch für die alten Leute" und wußten, daß es „auch dann noch hilft", wenn alle anderen Medikamente versagen. Strophanthin scheint in seiner Zusammensetzung einem körpereigenen Wirkstoff, vielleicht einem Hormon, ähnlich zu sein. In Leipzig hatte Professor Hermann Rein vor dem Zweiten Weltkrieg viel experimentiert, um diese Substanz, den „Herz-Kraftstoff" mit der Bezeichnung Hypoxie-Lienin zu finden.

Im Tierversuch läßt sich die Ähnlichkeit dieser Substanz mit dem Strophanthin aufzeigen. Einem Hund wird die Leber herausoperiert, und das Tier stirbt dann nach weni- gen Tagen. Denn weil der in der Milz erzeugte und in der Leber umgebaute Kraftstoff fehlt, tritt eine Herzschwäche ein, die sich zusehends verschlimmert. Verabreicht der Experimentator aber rechtzeitig Strophanthin, so arbeitet das Herz wieder normal: das fehlende Hypoxie-Lienin läßt sich durch Strophanthin ersetzen.

Seit mehr als 100 Jahren ist Strophanthin als herzwirk- sam bekannt, genau seit 1859, als der schottische Bota- niker Dr. Kirk mit der Livingstone-Expedition in Südost- afrika unterwegs war. Sein Interesse erweckte unter ande- rem das Pfeilgift Kombi, das aus dem Samen eines Strau- ches gewonnen wird. Kirk nahm eine Handvoll dieses Samens mit und packte ihn zu seinen Toilettenartikeln.

Zähneputzen gegen Herzschmerzen

Am nächsten Morgen beim Zähneputzen ärgerte er sich darüber, daß die mit dem Samen verunreinigte Zahn- bürste bitter schmeckte. Doch kurz darauf — „immedia-

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tely", wie er vermerkte — stutzte er. Er hatte während der letzten Tage an Herzschmerzen gelitten, und an die- sem Tag waren sie besonders schlimm. Aber gleich nach dem Zähneputzen waren sie wie verflogen. Außerdem stellte er eine Verlangsamung seines Pulses fest.

Dr. Kirk war ein guter Beobachter. Er wiederholte das ungewollte Experiment immer dann, wenn er Herzbe- schwerden hatte. Und jedesmal verzeichnete er den glei- chen Erfolg. Deshalb nahm er auf die Heimreise einige Töpfe des zu einem wäßrigen Brei zerstoßenen Strophan- thus-Samens mit, den die Eingeborenen auf ihre Pfeil- spitzen strichen. Er war der Überzeugung, eine neue Heil- pflanze entdeckt zu haben, und er sollte recht behalten.

Der schottische Arzt Dr. Fräser isolierte aus dem Samen die Herzglykoside, jene Wirkstoffe also, denen die gün- stige Herzwirkung zuzuschreiben ist. 1885 brachte er, nach langen Beobachtungen an Kranken, die Tinctura Strophanthi heraus. Das Medikament setzte sich rasch durch, und bereits nach fünf Jahren waren schon mehr als 100 Publikationen über oral, also durch den Mund ver- abreichtes Strophanthin erschienen, wobei man berück- sichtigen muß, daß zu jener Zeit bei weitem noch nicht so viele wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht wurden wie heute. Besonders rühmte man die rasche Wirksamkeit und die nur minimal nachteiligen Wirkungen auf das Herz.

Zu Beginn des 20. Jahrhundert kam es zur Entwicklung der intravenösen Verabreichung. Professor Albert Fraenkel setzte sie an den Kliniken durch. Wie das geschah, ist eine Geschichte für sich:

Der Ordinarius der Straßburger Universität, Professor

Ludolf Krehl, eine medizinische Kapazität von hohem

Rang, gestattete einem unbekannten Dorfarzt auf seiner Station, an seinen Patienten eine neue Therapie auszu- probieren. Über den Erfolg dieser intravenösen Strophan-

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thin-Injektionen an bisher unheilbar Schwerkranken be- richtete Albert Fraenkel 1906 in einem berühmt geworde- nen Vortrag auf dem Kongreß für Innere Medizin in Wiesbaden:

Von der internen Therapie her sind wir an das all- mähliche Eintreten der Digitaliswirkung gewöhnt, die wir nach Zeit und Intensität nie genau voraussagen können. Hier stehen wir vor einer Wirkung, die innerhalb drei bis vier Minuten einsetzt und die wir beherrschen. Unter unseren Augen vollzieht sich das Umschalten des patho- logischen Kreislaufes zur Norm. Der Puls des Kranken wird voller, seine Atmung langsamer, und eine Harnflut bricht los, wie wir sie in solch kurzer Zeit bisher auf keinem Wege erreichen konnten."

Die Spritze wird zum Hindernis

Seitdem war es allgemein üblich geworden, Strophanthin nur noch intravenös zu verabreichen, und auch Dr. Kern wandte diese Methode an. Im Laufe der Zeit erwies sich diese Form der Verabreichung aber als nicht weiterhin durchführbar, weil insbesondere Patienten mit stark vor- geschädigtem Herzen zu oft gespritzt werden mußten. Das ging schon aus zeitlichen Gründen nicht, außerdem waren den Kranken mehrmalige Injektionen während eines jeden Tages auf die Dauer nicht zuzumuten. Ei n Ausweg war nur durch eine Anwendung in Tropfen- und Tablettenform zu suchen, und Dr. Kern stellte beim Lite- raturstudium fest, daß diese orale Form der Verabrei- chung über Jahrzehnte hinweg mit Erfolg gehandhabt worden war.

Schließlich  fand  er  die  Unterstützung  eines  großen pharmazeutischen Unternehmens. Die Firma Boehringer,

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Mannheim, die schon eng mit Professor Fraenkel zusam- mengearbeitet hatte, erklärte sich bereit, ein orales Stro- phanthinpräparat auf den Markt zu bringen. „Bei der Entwicklung der Strophanthin-Tabletten wurde sehr viel probiert", schilderte Dr. Kern später. „Es wurden härtere, es wurden weichere Tabletten hergestellt, mit verschiede- nem Material, mit verschiedenem Preßdruck." Er hatte damals aus seinen Patienten einen Stamm „herangezüch- tet", bei dem die Symptome rasch ansprachen, so daß die Wirkung prüfbar war. Auf diese Weise konnte er testen, wie gut die unterschiedlichen Chargen wirkten. Als Ergeb- nis wurde schließlich das „Strophoral" auf den Markt ge- bracht, Strophanthin in Tropfen- und Tablettenform.

Die Erfolge mit Strophanthin-Pillen und -Tropfen waren erstaunlich gut. Es zeigte sich, daß damit noch ge- ringere Nebenwirkungen auftraten als bei intravenöser Verabreichung. Kern nahm an, daß das langsame Anfluten des Medikaments mit dem Blut zum Herzen — im Gegen- satz zu der stoßartigen Wirkung bei der Injektion — sich besonders günstig auswirkte. 1951 erschien Kerns Buch „Die orale Strophanthin-Behandlung", in dem er seine Erfahrungen an 150 Fällen umfassend darstellte.

0 In diesen Jahren ab 1947 beobachtete der Stuttgarter Arzt zu seiner Überraschung, daß bei seinen Klienten Angina-pectoris-Anfälle (wörtlich: Brust-Enge, sehr schmerzhafte Herzanfälle, als Vorstufe des Herzin- farktes angesehen) ausblieben und daß kaum noch einmal ein Herzinfarkt auftrat.

Gerade in jener Zeit nahm aber überall sonst die Zahl der Herzinfarkte sprunghaft zu. Warum blieben sie in seiner Praxis aus? Liefen die Infarktgefährdeten einfach von ihm weg? Wollten sie ihm das furchtbare Ereignis

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ersparen und lieber einen anderen Arzt damit belasten, der ihnen ebensowenig helfen konnte? War es ein Sugge- stiveffekt? Aber warum trat er dann immer nur unter Strophanthin, nie unter Digitalis auf? Oder war es immer nur Zufall?

Das gab alles keinen Sinn. Die Tatsache, daß andere Ärzte, die ebenso wie Dr. Kern Strophanthin zur Herz- behandlung einsetzten, gleichfalls kaum noch Infarkte bei ihren Patienten erlebten, gab Anlaß zu fruchtbarem Nach- denken.

Lag es also an diesem Medikament? War damit etwa noch viel mehr zu erreichen, als jene Schäden zu korrigie- ren, die allmählich zur Herzschwäche führten?

Und wieder wurde Dr. Kern in der Literatur fündig. Die beste Bestätigung für seine These, daß Strophanthin ein Mittel gegen Angina pectoris und Herzinfarkt sein könnte, fand er in den Veröffentlichungen von Professor Ernst Edens. Dieser Düsseldorfer Kliniker hatte seit 1929 15 Jahre lang Herzkranke mit Strophanthin behandelt. Es waren besonders arge Fälle von Angina pectoris und von Infarkt-Kranken, deren er sich hatte annehmen müs- sen, berufsunfähige Schwerkranke, die jahrelang ohne Er- folg behandelt worden waren.

„Strophanthin beugt dem Infarkt vor"

Edens verabreichte ausschließlich Strophanthin, zumeist intravenös, aber auch rektal. Oft schon nach wenigen Tagen, spätestens nach zwei Wochen, war der größte Teil der Patienten beschwerdefrei. Einige berichteten noch über leichte Schmerzen, die aber erträglich waren. Allerdings hatte der Herzmuskel dieser Patienten bereits einen

Dauerschaden erlitten, der nicht mehr rückgängig zu ma-

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dien war. Die Patienten brauchten deshalb das Medika- ment ständig weiter. Wurde es für einige Zeit abgesetzt, kamen die Anfälle wieder. Auf neuerliche Behandlung mit Strophanthin trat der gleiche gute Erfolg ein.

Professor Edens war aufgrund dieser Erfahrungen zu der Überzeugung gekommen, daß von allen Behandlungs- methoden „Strophanthin am wirksamsten dem Infarkt vorbeugt1'. Er konnte jedoch nicht ahnen, welche Bedeu- tung seine Aussage einmal erlangen sollte. Denn damals war der Herzinfarkt eine noch seltene Erkrankung, und nichts wies darauf hin, daß sie einmal epidemische Aus- maße annehmen würde.

Deshalb wurde seinen Feststellungen auch wenig Beach- tung geschenkt, bis infolge des rapiden Ansteigens der Erkrankungs- und TodeszifFern durch Herzinfarkt die Zeit dafür reif geworden war: bis ein nachdenklich gewor- dener Arzt diesen längst vergessenen Erfahrungsschatz entdeckte.

Was er da fand, elektrisierte ihn. Er war auf eine de- taillierte Bestätigung seiner eigenen Beobachtungen gesto- ßen. Die Strophanthin-Tablette, die er gemeinsam mit der pharmazeutischen Großfirma entwickelt hatte — war sie die Pille gegen den Herzinfarkt?

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3. »Die größte Epidemie der Menschheit"

Das Organ ist nur so klein wie eine Faust, es wiegt weni- ger als ein Hundertfünfzigstel des Menschen. Dennoch ist es der begrenzende Faktor" für Leistung und Leben. Und zunehmend werden die Grenzen, die „das Herz, die- ses miserable Organ" uns setzt, enger.

Diese schonungslose Beurteilung durch Professor Wil- liam Kolff aus Ohio, eines Pioniers der Ersatzteil-Chirur- gie, hat innerhalb der letzten Jahre immer mehr an Ge- wicht gewonnen. Die Pannen des „miserablen Organs" füllen die Kliniken. Totenscheine und Sektionsprotokolle mit dem Vermerk „Herzinfarkt" haben sich zu einer er- schreckenden Dokumentation seines Versagens angehäuft.

Ein Herzinfarkt ist die Nekrose, das Absterben eines Stück Herzmuskels. Die Symptome des akuten Anfalls, nach den Angaben der American Heart Association: hef- tiger Druck oder beengender Schmerz in der Brustmitte hinter dem Brustbein. Der Schmerz kann in Schultern, Nacken, Kiefer und in den linken Arm ausstrahlen. Schmerzen und Mißgefühle sind oft von Schweißausbrü- chen begleitet. Auch Übelkeit, Erbrechen und Kurzatmig- keit können auftreten.

 Allein in den Industrieländern der westlichen Welt erleiden innerhalb eines Jahres rund 10 Millionen Menschen einen Herzinfarkt. Etwa drei Millionen sterben daran.

 In den USA sterben rund 700 000 Menschen jährlich an tödlichen Herzattacken. Zwei Millionen Herzin- farkte pro Jahr werden insgesamt registriert.

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 In der Bundesrepublik Deutschland nähert sich die

Zahl der jährlichen Infarkterkrankungen der halben Million. Rund 150 000 sterben, daran.

Der Herztod ist zu einer Volksseuche geworden. In Europa stirbt alle 30 Sekunden ein Mensch daran, in der Bundesrepublik Deutschland alle vier Minuten.

Was diese Zahlen noch bedenklicher macht, ist die Fest- stellung, daß sich das „Herzinfarkt-Roulette** immer schneller dreht:

Nach offiziellen Angaben starben in der Bundesrepu- blik Deutschland 1948 2600 Menschen an einem Herz- infarkt. Der Vergleich mit den heutigen Zahlen macht die erschreckende Entwicklung deutlich: eine Zunahme um mindestens 5000 Prozent innerhalb eines Vierteljahrhun- derts, um das 50f ache also, wo doch schon das Doppelte, das Dreifache oder gar das Zehnfache bedenklich genug wäre.

Diese Statistiken schreckten sogar die WHO, die Welt- Gesundheits-Organisation, auf: „Wir haben zu spät be- gonnen, darüber nachzudenken, was die Gesellschaft tun kann, um der Umweltverschmutzung vorzubeugen und unsere Umwelt zu erhalten. Laßt uns nicht denselben Feh- ler machen bei der Vorbereitung des Kampfes gegen den Herzinfarkt", so der Wortlaut ihres dringlichen Appells. „Die heranwachsende Jugend und die künftige Generation stehen auf dem Spiel. Krankheiten des Herzens und der Blutgefäße sind nicht mehr ausschließlich eine Domäne der Mediziner und der Wissenschaftler; sie sind ein sozia- les Problem geworden von großer menschlicher und öko- nomischer Tragweite."

 In den USA verursachen die Herzerkrankungen jähr- lich einen Schaden von rund 70 Milliarden für die Volkswirtschaft.

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In der Bundesrepublik Deutschland mußten schon 1965 18 Milliarden Mark für Herz -Kreislauferkran- kungen und ihre Folgen aufgewendet werden.

Immer Jüngere sind die Opfer

„Die Lebenserwartung der Menschen mittleren Alters in diesem Land ist seit der Jahrhundertwende nur wenig höher geworden — eine höchst entmutigende Feststel- lung", schreibt ein amerikanischer Spezialist. Das heißt: Viele Krankheiten, an denen früher Massen von Menschen starben, sind längst ausgerottet oder heilbar geworden. Damit hätte die durchschnittliche Lebensdauer enorm an- steigen müssen. Es geschah nicht, weil andere Krankheiten — der Medizin zum Hohn — heute Massen dahinraffen. An der Spitze der Ursachen steht die vorzeitige Herz- attacke. In einem Bericht des National Heart and Lung Advisor Council heißt es, die Herz- und Gefäßkrank- heiten würden die durchschnittliche Lebenserwartung um ganze elf Jahre senken!

Denn nicht nur die absoluten Zahlen werden größer, der Herztod ereilt seine Opfer auch in immer früheren Jahren. „Vorzeitiger Tod in den produktivsten Jahren der Menschen bedeutet einen nicht wieder gutzumachen- den Verlust an geistigem Kapital (brain drain), den kein Land sich leisten kann", warnt die WHO.

 Aus den USA, ihrer Zeit auch hierin voraus, wurden schon vor einem Jahrzehnt alarmierende Zahlen ge- meldet. Im Sektionsgut von Boston/Massachussets, von jenen Patienten also, deren Leichen nach dem Tod geöffnet wurden, waren 25 Prozent der Infarkt- toten, das heißt jeder Vierte, jünger als 40 Jahre.

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 Von den rund 600 000 Infarktopfern der USA von 1970 waren 165 000 — also mehr als ein Viertel — jünger als 65.

 In der Bundesrepublik Deutschland erkrankt jeder fünfte Mann vor seinem 50. Lebensjahr an einem Herzinfarkt.

 Die Herztodesfälle haben bei Männern der Alters- gruppe zwischen 45 und 54 Jahren so rapid zuge- nommen, daß sie beispielsweise in den Niederlanden ein Maximum von 66 Prozent der Todesursachen er- reichten.

# Die Hälfte aller Rentenversicherten in der Bundes- republik Deutschland, die vorzeitig aus dem Beruf ausscheiden, ist herzkrank.

Zwar hört man immer wieder Kritik an dieser oder jener Zahl: "Da immer noch Uneinheit in Terminologie und Klassifizierung besteht, ist genaues Zahlenmaterial über die Mortalität und Morbidität auf der Welt nicht nur schwer zu ermitteln, sondern bei dessen Auswertung auch eine gewisse Zurückhaltung geboten."

Aber selbst dann, wenn man von allen Zahlen willkür- lich die Hälfte abzöge, würden sie immer noch ein solch erschreckendes Ausmaß der Katastrophe signalisieren, daß die Kassandrarufe der Verantwortlichen volle Berechti- gung haben. Was als „Managerkrankheit" vor Jahren ex- klusiven Kreisen vorbehalten schien, ist inzwischen eine Volksseuche geworden, und die WHO sah sich zu einer düsteren Prognose veranlaßt: „Wenn es nicht möglich sein wird, den Trend umzukehren — durch intensive For- schung nach Ursachen und vorbeugenden Maßnahmen —,

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wird der Herzinfarkt in den kommenden Jahren zur größten Epidemie werden, welche die Menschheit je er-

lebt hat."

Nur umwälzende Neuerungen können helfen

Deshalb haben die Amerikaner dem Herzinfarkt den „totalen Krieg" angesagt und einen „Feldzug zur Aus- rottung des Killers Nummer eins" angekündigt. Mehr als 300 Millionen Dollar, verteilt auf mehrere Projekte, wer- den dort jährlich allein in die Forschung investiert und noch höhere Summen für die Zukunft gefordert.

Aber auch all die immensen Aufwendungen für die

Forschung, für Notfallmaßnahmen, für Behandlung und Nachbehandlung dieser Krankheit konnten das Ansteigen der Herzinfarkt-Todeskurve bisher nicht aufhalten. Das klinische Bemühen läuft dem Geschehen meist hinterher.

Ohne „umwälzende Neuerungen" in der Behandlung sind die Überlebensraten der Infarktpatienten nicht mehr wesentlich zu steigern. Mit dieser Feststellung alarmierten Referenten der American Heart Association die Öffent- lichkeit.

„Wenn wir die Bekämpfung des Herzinfarkts mit dem Besteigen eines Berges vergleichen", schreibt einer der US- Spezialisten, „dann haben wir erst seine Höhe abgeschätzt, eine Strategie des Aufstiegs geplant, die Mannschaft am Fuße des Berges versammelt und sind nunmehr höchstens den fünften Teil des Weges aufgestiegen. Jetzt haben wir das erste Plateau erreicht, das Gelände vor uns erscheint steiler und rauher. Es ist ein günstiger Augenblick, um uns zu sammeln und die Aufstiegsroute neu festzulegen."

Eine neue Route? War der bisherige Weg etwa falsch?

Was lehrt die Medizin über die Ursachen und die Be- kämpfung des Herzinfarkts?

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4. Der Mensch ist so alt wie seine Arterien"

Der Mann wirkte nicht nur kleiner als bei Lebzeiten, die wächserne Leichenblässe ließ ihn gänzlich fremd erschei- nen. Dennoch zögerte der junge Arzt ein wenig, bevor er den Brustkorb des Toten auf dem Seziertisch öffnete. Sein Lehrer Professor John Hunter war im Alter von 65 Jah- ren plötzlich verstorben. Weil er schon seit 17 Jahren an Angina pectoris gelitten hatte, glaubte Dr. Jenner, daß dies die Todesursache gewesen sei. Jetzt wollte er nach- forschen, ob er sichtbare Ursachen dieser Krankheit ent- decken konnte. Der Brief, in dem er 1793 über diese Sektion berichtet, ist ein wichtiges Dokument der Medi- zingeschichte:

Als ich nach dem Tod die wichtigsten Teile des Her- zens untersuchte und nichts finden konnte, was mich so- wohl auf die Ursache seines plötzlichen Todes als auch auf die der Symptome, die ihm vorausgingen, schließen ließ, so durchschnitt ich das Herz nahe der Basis desselben, wobei mein Messer auf so etwas Hartes und Sandiges stieß, daß es eine Scharte bekam." Er habe zuerst zur bau- fälligen Decke des Anatomieraums emporgeblickt, schreibt Jenner weiter, weil er annahm, von dort könnten Kalk- oder Mörtelbrocken auf den geöffneten Leichnam gefallen sein.

Aber der „Kalk" war nicht von oben gekommen. Jen- ner konnte sich davon überzeugen, daß er aus den Blut- gefäßen des Toten stammte und sich schon zu dessen Leb- zeiten dort abgelagert hatte. Dadurch, so schloß er, mußte die Durchblutung des Herzmuskels erheblich beeinträch- tigt gewesen sein. Und dieser Blutmangel wiederum mußte die Ursache der Angina pectoris gewesen sein und schließ- lich zu Hunters Tod geführt haben!

Jenner, der später auch die Pockenschutzimpfung be-

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gründete, kann als Vater der modernen Lehre von der Entstehung des Herzinfarkts gelten: jener Lehre, die be- sagt, daß Arteriosklerose, die Verhärtung der Blutgefäße, zu einer Verengung der sogenannten Kranzadern führt, die den Herzmuskel mit Blut versorgen sollen. Weil aber infolgedessen zu wenig Blut durchströmen kann, besteht „im Herzmuskel ein Mißverhältnis zwischen Blutbedarf und Blutangebot".

Dieses Mißverhältnis wird in der Sprache der Medi- ziner Koronarinsuffizienz genannt. Koronar kommt vom lateinischen corona, Kranz, weil sich die Blutgefäße des Herzens kranzartig um den Muskel schlingen; und In- suffizienz heißt Funktionsschwäche. Die Angina pectoris wird nach dieser Lehre als "akute Koronarinsuffizienz" verstanden, weil sie durch einen akuten Blutmangel in- folge Funktionsschwäche der Kranzadern bewirkt werde. Als Spuren dieser Anfälle zeigen sich bei einer Unter- suchung nach dem Tode "feinherdige Narbefelder" im Herzmuskel, die dann als Folgen eines Blutmangels ge- deutet werden.

Pipelines des Lebens — Schleichpfade des Todes

Schuld an diesen Narben im Herzmuskel sollen also schlechtfunktionierende Kranzgefäße sein. Das Herz durchblutet ja nicht nur den ganzen Körper mit all seinen Organen, sondern auch seine eigene Muskelwandung; da - zu dienen diese Koronararterien. Sie entspringen als linke und rechte Kranzarterie der Hauptschlagader, wobei sich die linke in zwei größere Äste teilt. Wenn der Herzbeutel geöffnet wird, sind sie deutlich zu sehen, weil sie dem Herzmuskel außerhalb aufliegen; von dort strömt das Blut in vielen Verästelungen in alle Gewebsschichten der Herzwand hinein.

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Sie gelten als sogenannte „funktioneile End-Arterien", weil die Hochschullehrer keine Verzweigungen, sozusagen Nebenstraßen, zwischen den einzelnen Gefäßästen gefun- den hatten und sie deshalb als blind-endende Arterien, als Sackgassen ansahen. Wenn aber der Verkehr in einer Sackgasse an einer Stelle behindert wird, dann kommt kein Auto mehr hinein, da es andere Zufahrtswege ja nicht gibt.

Weil die Blutzufuhr zu den Zellen des Herzens aber lebensnotwendig ist, sind solche Verkehrsbehinderungen in den Kranzgefäßen besonders gefürchtet. Als Haupt- hindernis gilt allgemein die Arteriosklerose der Koronar- arterien, die Koronarsklerose.

Was die Arteriosklerose eigentlich ist, weiß die Medizin bis heute nicht. Der Name ist ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Veränderungen in den Gefäßwänden, die zur Verhärtung und Funktionsschwäche führen können.

„Um das Wesen der Arteriosklerose zu erfassen, ist so- zusagen schon alles gemacht worden, — gemessen, gewo- gen, gerechnet, getrocknet, verascht, maceriert, aufgelöst, fermentativ verdaut, der chemischen Elementaranalyse, der technischen Materialprüfung unterworfen, histo- und topochemisch, im Sinne einer vergleichenden und in dem einer geographischen Pathologie untersucht", faßt der Hei- delberger Pathologe Professor Wilhelm Doerr zusammen. Aber obgleich die Gefäße zu Lebzeiten und nach dem Tode in jeder Weise behandelt und mißhandelt wurden und sehr viel Scharfsinn aufgebracht worden ist, sei man zu keinem endgültigen Ergebnis gekommen.

Man ist sich nur dahingehend einig, durch Arterioskle- rose werde die Lebensdauer eines Menschen entscheidend beeinflußt. „Der Mensch ist so alt wie seine Arterien", sagen die Ärzte, das heißt, jeder einzelne könne nur so alt wer- den, wie es der Zustand seiner Blutgefäße erlaubt, also:

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Alterung ist gleich Arterienverengung. Denn arterioskle- rotische Ablagerungen machen die Gefäßwände rauh und holprig, es bilden sich Höcker in der Gefäßlichtung, der Blutfluß wird durch diese Verengungen — in der Fach- sprache Stenosen genannt — so sehr beeinträchtigt, daß die im Versorgungsbereich liegenden Gewebe Mangel zu leiden beginnen und allmählich oder plötzlich zugrunde- gehen.

Ein plötzlicher Untergang, so steht es in den Lehr- büchern, kommt dadurch zustande, daß sich auf den ver- krusteten Gefäßwänden Blutgerinnsel absetzen. Wenn sie der Pathologe findet, hält er sie für die Ursache der Blut- stromminderung, denn er stellt fest, daß diese sogenann- ten Thromben in vielen Fällen die Arterie völlig verstop- fen. Daher kommt auch der Name Infarkt: Infarcire heißt, lateinisch, verstopfen, Infarctus also ist etwas Ver- stopftes, die Folge einer Verstopfung. Als Folge einer ver- stopften Herzkranzarterie, so heißt es, wird ein Teil des Herzmuskels von der Blutzufuhr abgeschnitten und stirbt ab: Herzinfarkt. Deshalb wird die Thrombose als eigent- lich auslösende Ursache schwerer Infarkte angeschuldigt.

Werden solche — unterschiedlich großen — Zerstörun- gen des Herzmuskels von einem Kranken überlebt, dann kommt es an diesen Stellen zu Vernarbungen im Herz- muskel, zu Nekrosen oder Schwielen, wie die Fachleute sagen.

Wenn das Herz stehenbleibt

Tritt jedoch der Tod ein, dann ist entweder ein Pumpver- sagen des beschädigten Herzmuskels die Ursache oder der elektrische Tod: das Herz erzeugt nämlich elektrische

Impulse, gewissermaßen Zündfunken, die dafür sorgen,

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daß sich die Muskulatur rhythmisch zusammenzieht und wieder entspannt, daß das Herz also „schlägt" und sich den wechselnden Belastungen anpassen kann. Dazu müs- sen die Herzmuskelzellen jedoch intakt sein, weil sonst das elektrische System gestört ist oder zusammenbrechen kann. In diesem Fall kommt es zu Herz-Rhythmusstörun- gen, die in der Fachsprache Arrhythmien heißen, in der dramatischen Phase zum Kammerflimmern, einer ober- flächlichen, „flimmernden" Pumparbeit mit anschließen- dem Herzstillstand, der häufigsten Todesursache bei einem Herzinfarkt.

Alle diese Komplikationen, so steht es in den Lehr- büchern, sind fast ausschließlich Folgen der Arterioskle- rose. Ist der Mensch also wirklich so alt wie seine Gefäße?

Die Statistiken zeigen, daß bei Kranken mit Herzin- farkten in weit über 90 Prozent der Fälle auch eine Koro- narsklerose gefunden wird. Eine überzeugende Zahl, wie es scheint. Nur muß man die Frage stellen, ob Korrelation auch Kausalität bedeutet, ob eine Wechselbeziehung auch auf einen ursächlichen Zusammenhang schließen läßt. Be- ginnt man erst einmal, die Fakten kritisch zu untersuchen, so stößt man noch auf andere interessante Zahlen.

Die Statistiken zeigen nämlich auch, daß an anderen

Ursachen Verstorbene in gleich hohem Prozentsatz der Fälle verengende Ablagerungen in den Herzkranzgefäßen aufweisen. Sie hatten Koronarsklerose, aber keinen In- farkt. Die jugendlichen Kriegsgefallenen in Korea zeigten bei der Leichenöffnung „reihenweise" Totalverschlüsse ihrer Herzkranzgefäße, waren aber infarktfrei und voll kriegstauglich geblieben.

Was soll das aber für eine Krankheitsursache sein, die einmal wirksam wird und ein anderes Mal nicht? Wie ist es zu verstehen, daß trotz schweren arteriosklerotischen

Prozessen und Verschlüssen oft gar keine oder nur unbe-

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deutende Schäden entstehen, während wenig ausgedehnte, mäßige Verengungen große Zerstörungen zur Folge ha- ben? Und die Statistik wirft noch eine Reihe weiterer Fra- gen auf:

 Es ist bekannt, daß die Arteriosklerose Gefäße in allen Bereichen des Körpers in Mitleidenschaft zieht. Wäre sie infarktauslösend, dann müßten demnach

83 Prozent aller Infarkte in der Muskulatur und im

Bauchraum vorkommen, 13 Prozent im Hals- und

Kopfbereich, aber nur vier Prozent im Herzen. Die Wirklichkeit ist aber anders, denn Infarkte treten fast nur im Herzen auf. Fast ausschließlich sogar nur in der linken Herzhälfte, die rechte bleibt trotz glei- cher Arteriosklerose infarktfrei!

 Man kann das Problem auch anders herum angehen: Innerhalb der letzten 40 Jahre hat die Arterioskle- rose nur unbedeutend zugenommen. Und die Zahl der Herzinfarkte? Der Zuwachs dürfte mehr als das Hundertfache betragen. Wird auf diese Weise nicht auch die Korrelation infrage gestellt?

Bei Lichte besehen, ist die Theorie der koronar beding- ten Entstehung des Herzinfarktes so einleuchtend nicht mehr, wie es der erste Augenschein vorgaukelt. Wie lassen sich die aufgezeigten Widersprüchlichkeiten ausräumen? Gibt es ein Bezugssystem, in das sich die Fakten wider- spruchsfrei einordnen lassen?

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DIE ZWEI THEORIEN

LEHRSATZ

Herzinfarkte entstehen stets und ausschließlich durch Erkrankungen der Herzkranzgefäße. Die Arterio- sklerose führt zur Verminderung oder gänzlichen Unterbrechung der Durchblutung. Ursache der Zer- störungen im Herzmuskel ist der Mangel an Blut- und Sauerstoff-Zufuhr.

Vergleich Verbrennungsmotor: Die Benzinleitung ist verstopft. Deshalb kommt kein Treibstoff in die Zy- linder. Der Motor bleibt stehen.

KERN-SATZ

Herzinfarkte entstehen immer nur durch Erkran- kungen im Herzmuskel selbst. Die Arteriosklerose der Herzkranzgefäße hat auf diese Veränderungen des Herzstoffwechsels keinen Einfluß. Ursache des Zelluntergangs ist die gestörte Verwertung von Blut und Sauerstoff.

Vergleich Verbrennungsmotor: Es kommt zwar ge- nügend Treibstoff durch die Benzinleitung, aber die Zündkerzen sind so verschmutzt, daß er nicht mehr verbrannt werden kann. Der Motor bleibt stehen.

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5. Infarkte wachsen in Etappen

Mitte der 50er Jahre tat Dr. Berthold Kern den Schritt vom Außenseiter zum Ketzer. Vorher hatte er sich nur außer- halb der Lehrmeinung gestellt, jetzt trat er gegen sie an.

Die deutschen Kardiologen und Pharmakologen hatten sich nach dem Krieg fast gänzlich vom Strophanthin ab- gewendet. Es war vorwiegend amerikanischen Einflüssen zuzuschreiben, daß sie »von einem Tag auf den anderen", wie einer von ihnen darstellte, einem anderen Herzmittel den Vorzug gegeben hatten — der aus der Fingerhut- pflanze gewonnenen Digitalis. Denn die sem Medikament schreiben sie nicht nur die gleiche Wirkung wie dem Stro- phantin zu, es ist nach ihren Experimenten auch genauer zu dosieren. Vor allem aber werden nach diesen Unter- suchungen die Digitalispräparate auch bei oraler Verab- reichung, also als Pillen oder Tropfen, vom Körper voll- kommen resorbiert, das heißt in die Blutbahn aufgenom- men, während es den Anschein hatte, als sei dies bei den Versuchstieren für Strophanthin nicht der Fall.

Da Dr. Kern von seiner Vorliebe für das oral verab- folgte Strophanthin jedoch nicht abzubringen war, tat ihn die Fachwelt als Sonderling ab. Doch was vorerst als eine mehr oder minder harmlose Narrheit erschien, nahm all- mählich gefährliche Formen für das Ansehen ihrer Lehre an. Denn der Stuttgarter Praktiker hatte aus den Tat- sachen folgende Überlegung abgeleitet:

Er erlebte bei seinen Patienten keine Angina-pectoris- Anfälle und keine Herzinfarkte mehr, und ebenso erging es allen Kollegen, die in seinem Sinne arbeiteten. Die Hauptursache dafür war ihrer Meinung nach in der Stro- phanthin-Wirkung zu suchen, denn mit keinem anderen Medikament war Ähnliches zu erreichen. Wenn aber, so überlegte Dr. Kern, dank Strophanthin die Herzinfarkte

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ausblieben, dann konnte die Ursache für diese Erkran- kung keinesfalls die Arteriosklerose sein. Denn auf die Verhärtung der Gefäßwände hatte Strophanthin keinen Einfluß, dafür gab es nicht die geringsten Anhaltspunkte.

Falls aber die Koronarsklerose nicht die Ursache war, dann waren sämtliche Vorstellungen von der Entstehung des Herzinfarktes falsch. Wie aber entstand dann dieses Leiden? Strophanthin, das war unbestritten, wirkt direkt auf die Zellen des Herzmuskels ein. Lag etwa dort der Ursprung der Erkrankung? Nahm der Herzinfarkt also nicht in den Gefäßwänden seinen Ausgang, sondern in den Zellen des Herzens?

Warum aber sollte es so viel anfälliger sein als alle an- deren Organe? Das Herz — was wissen wir eigentlich darüber?

Auf der Suche nach dem Wegwerf-Herzen

Also sprach Professor Christian Barnard: Das Herz ist nichts weiter als eine Pumpe. Pumpe — das heißt Ma- schine, ersatzteilbedürftig, Massenware. Solch eine An- schauung nährt die Hoffnung, daß „dieses miserable Or- gan" durch ein preiswertes Konfektionsherz ersetzt wer- den kann, aus Weichplastik, nur gedämpft klappernd, erhältlich im Supermarkt gleich um die Ecke, Abteilung Pillen und Pumpen, steril verpackt, bereit zum Austausch gegen das alte im nächsten Krankenhaus, zwei Jahre Garantie...

Das Wegwerf-Herz, das ist es, was uns noch fehlt. Aber tut man damit dem von der Natur geschaffenen Organ nicht unrecht? Seine Leistung ist doch zumindest außer- gewöhnlich.

Der kegelförmige Hohlmuskel besteht aus zwei Kam- mern und zwei Vorhöfen. Die rechte Kammer pumpt das

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aus den Venen kommende, verbrauchte Blut in die Lunge und von dort, frisch mit Sauerstoff angereichert, weiter zum Vorhof des linken Herzens, von wo es in die linke Kammer strömt. Sie hat die Hauptarbeit zu leisten und das Blut durch 50 000 Kilometer lange Gefäße des ganzen Organismus zu pressen, durch die Arterien, über die Ka- pillaren in die Venolen und in die Venen, dann zurück zum Vorhof des rechten Herzens, in die rechte Kammer.

Das gesunde Herz schlägt, pumpt, kontrahiert sich mehr als 70mal in der Minute, mehr als 4200mal in der Stunde, mehr als lOOOOOmal am Tag, an die 40millionen- mal im Jahr. Während eines 75jährigen Lebens leistet es die Arbeit von drei Milliarden Pumpstößen, ohne auch nur ein einziges Mal Pause machen zu können oder zu brauchen. Wäre etwa eine künstliche Pumpe vorstellbar, die 60 oder sogar 100 Jahre lang ohne Reparaturen, ohne Ersatzteile pausenlos so gut arbeitet? Ein Maschinchen, das nicht rastet und nicht rostet?

„Dieses kleine Muskelorgan muß Belastungen aushalten, die eine aus einem herkömmlichen Material gefertigte Pumpe mit den gleichen Abmessungen über längere Zeit hinweg zu verkraften nicht in der Lage ist", konstatierte Professor Valeri Schumakow, Leiter des Laboratoriums „Künstliches Herz" am Institut für Klinische und Experi- mentelle Chirurgie der UdSSR. Die bisher erprobten Kunststoffe und Legierungen haben sich als dem natürli- chen Material nicht ebenbürtig erwiesen.

Und dennoch steht in den Sektionsprotokollen verzeich- net, wie anfällig das Herz ist, auch wenn die Techniker der Qualität seines Materials bisher nichts Ebenbürtiges entgegensetzen konnten. Vernarbt und zerschunden kann es immer häufiger seiner Aufgabe nicht mehr nachkom- men. Ein Wunderwerk aus der Werkstatt der Natur ist zum schwächsten Teil unseres Organismus geworden.

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Der Linksdrall der Herzinfarkte

Genaugenommen ist es nicht einmal das ganze Herz, das so anfällig ist. Der Tod lauert links, in der linken Herz- kammer, denn nur dort sind die Infarkte, ausgedehnte Zerstörungen des Muskelgewebes, lokalisiert — nicht im linken Vorhof oder gar im rechten, aber auch nicht in der rechten Kammer. Infarkte werden fast ausschließlich in der linken Herzkammer festgestellt. Rechtsinfarkte sind so selten, daß sie für das weltweite Massensterben keine

Rolle spielen. Was ist die Ursache dieses „Linksdralls?"

Das linke Herz hat ungleich mehr Arbeit zu leisten als das rechte, deshalb ist auch die Muskulatur dichter ge- packt, es ist zumindest zweimal so dick wie das rechte und hat rund dreimal soviel Gewicht. Die Kraftleistung der linken Kammer hat nachteilige Folgen, vor allem für die Durchblutung der eigenen Wandung. Jedesmal, wenn sie sich bei einem Pumpstoß zusammenzieht, um das Blut in die Körperarterien zu drücken, steht vor allem die innere Schicht selbst unter hohem Druck.

Aber auch dieses strapazierte Gewebe muß ernährt wer- den, auch seine schwerarbeitenden Zellen sind von haar- feinen Gefäßen umgeben, die ihnen Blut zuführen. Bei jedem Pumpstoß wird aber das Blut wieder aus diesen Kapillaren hinausgepreßt, die einzige Stelle im Kreislauf, an der ein Zurückfließen von Arterienblut beobachtet wer- den kann. Dieses Phänomen spielt in der Infarkttheorie des Dr. Kern eine entscheidende Rolle.

Jede Herzkammer ist ein Hohlkörper. Das Blut in der Höhle ist von muskulösen Kammerwänden umgeben. An einem Fußball läßt sich das veranschaulichen: die Leder- hülle ist die Außenschicht, die Gummiblase die Innen- schicht, welche die luftgefüllte Höhlung umschließt wie die muskuläre Innenschicht des Herzens die blutgefüllte Kam-

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merhöhle. Sie gibt bei jedem Pumpstoß als innerste und damit letzte Wandschicht den Druck der Muskulatur wei- ter und muß sich dabei so sehr zusammenquetschen, daß sie in diesem Augenblick selbst völlig blutleer wird. Auf diese Weise schneiden sich die Innenschichten der linken Kammer regelmäßig selbst die Versorgung ab. Als einziges Gewebe des Körpers haben sie siebzigmal und öfter in jeder Minute einen Durchblutungsstopp — ein Sachverhalt, der 1879 von dem deutschen Wissenschaftler Professor Landois entdeckt wurde.

Es beginnt mit toten Pünktchen

Dieser Durchblutungsstopp der Links-Innen-Schichten (LIS) ist nach der Vorstellung von Dr. Kern der Aus - gangspunkt für die Infarktentstehung. Denn hier finden sich bei Leichenöffnungen in gehäufter Zahl winzige Ge- websbezirke, in denen Muskelzellen abgestorben sind, so klein in ihren Anngen, daß sie kaum mit der Lupe sicht- bar sind. Diese „toten Pünktchen* nennt man Kleinst- Nekrosen, sie werden von den Pathologen in großer Zahl, manchmal bis über 1000 gefunden.

Weil aber gerade in den Innenschichten Schädigungen so gehäuft auftreten, muß man annehmen, daß dort eine besondere Anfälligkeit herrscht, hervorgerufen durch den Durchblutungsstopp. Denn wenn die LIS nur die Hälfte ihrer Lebenszeit durchblutet werden, haben sie auch nur halb so viel Zeit, Nährstoffe aufzunehmen und Schlacken abzubauen wie andere Gewebe des Organismus, selbst der übrigen Herzbezirke. Nur während der Erschlaffungspause des pumpenden Muskels, jeweils 0,2 bis 0,3 Sekunden, ein Augenzwinkern lang, haben sie Gelegenheit für Blutzu- fuhr und Stoffwechselaustausch.

Diese angeborene Benachteiligung und Anfälligkeit der

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LIS ist nun nicht etwa die Folge einer Koronarinsuffizienz, einer Mangelversorgung durch Mängel der Kranzgefäße. Andersherum gesagt: das Blutangebot durch die Arterien könnte sogar beliebig vermehrt werden, ohne daß der Versorgungs-Engpaß in den LIS dadurch erweitert oder umgangen werden könnte.

Ein Beispiel kann das verdeutlichen: Eine Verkehrs- ampel ist nur für kurze Phasen auf Grün geschaltet. Wäh- rend dieser Zeit überqueren Autos nur in begrenzter Zahl die Kreuzung, zu wenige für den Verkehrsbedarf. Die Ampel schaltet auf Rot, der Verkehrsstrom reißt gänzlich ab. Wie läßt sich solch ein Engpaß im Verkehr beheben? Kein Polizeipräsident der Welt würde es etwa dadurch versuchen, daß er noch mehr Autos in die Kreuzung hineinleiten laßt. Hier kann nur eine längere Grünphase Abhilfe schaffen.

Aber solch eine verlängerte Pause zwischen den Pump- stößen gibt es für die Innenschichten nicht. Im Gegenteil, unter bestimmten Bedingungen verkürzt sie sich: bei An- strengung, Aufregung, Herzjagen, der sogenannten Tachy- kardie, wird die Frequenz des Herzens gesteigert, es schlägt statt 70mal jetzt 100-, 150-, ja 180mal und öfter in der Minute. Die „Grünphase" wird immer kürzer, immer weniger Blut erreicht das darbende, wenn nicht sterbende Muskelgewebe, das zudem auch noch Mehrarbeit leisten muß.

Kommen jetzt schädliche Einflüsse hinzu, dann gehen zuerst einzelne Zellen, später ganze Zellgruppen zugrun- de. Sie werden zur Keimzelle für größere Zelluntergänge und Gewebszerstörungen, r den Infarkt.

Für Dr. Kern, der selbst als pathologischer Anatom ge- arbeitet hatte und die Fachliteratur dieses Gebietes mit großer Aufmerksamkeit verfolgte, fügte sich die Fülle der erforschten Details harmonisch zu einer Einheit zusam-

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men: ausgehe nd von kleinsten Anfängen wachsen Herzin- farkte in Schüben heran. Sie entstehen fast ausschließlich nur im linken Herzen, weil der Durchblutungsstopp der Innenschichten dort die Voraussetzungen dafür schafft.

Kakteen verdorren nicht so rasch

Und vor allem: dieser angeborene Engpaß schafft unter ungünstigen Bedingungen solche Versorgungsschwierig- keiten, daß auch der reichlichste Blutnachschub aus den Kranzgefäßen keine Wendung zum Besseren bringen könnte. Nicht das verminderte Blutangebot und der da- durch eintretende Sauerstoffmangel führen die gefährliche Situation herbei, weil die LIS ohnedies auf ein Überleben unter kärglichsten Lebensbedingungen eingerichtet sind wie Kakteen in der Wüste. Dr. Kern stellte deshalb der Theorie des Sauerstoff-Mangels die These der Sauerstoff- Verwertungsstörung entgegen.

Am Beispiel eines Verbrennungsmotors lassen sich die gegensätzlichen Vorstellungen erläutern. Die Mangel- Theorie geht davon aus, daß die Benzinleitung verstopft, die Treibstoffzufuhr unterbrochen ist. Der Motor kommt aus Spritmangel zum Stottern, zum Stillstand.

Nach der Theorie der Verwertungsstörung gelangt zwar genügend Sprit in den Zylinder. Aber weil die Zündker- zen verrußt sind, kann die Maschine den angebotenen Treibstoff nicht verbrennen und läuft deshalb nicht mehr weiter.

Drei Gründe bestärkten Dr. Kern noch darin, die Blut- mangeltheorie gänzlich in Frage zu stellen:

 Beide Hauptgefäße des Herzens schlingen sich wie ein Kranz um das Organ, und beide versorgen Teile sowohl der-rechten wie der linken Kammer. Bei der Verstopfung einer dieser Arterien müßten deshalb stets auch im rechten Herzen Infarkte auftreten. Das ist jedoch nicht der Fall. Infarkte sitzen nur links.

 Nach dem Verschluß einer Kranzader müßte durch den totalen Blutausfall das gesamte Gebiet hinter der Gefäßsperre absterben. Auch das ist aber nie der Fall. Infarkte sitzen viel tiefer, im Bereich der Herzspitze, und stets sind auch Muskelbezirke innerhalb von In- farkten voll durchblutet und gesund geblieben.

# Die Strophanthin-Wirksamkeit setzt die Anwesen- heit von Sauerstoff voraus. Bei Blutmangel müßte das Medikament wirkungslos bleiben. Das ist nicht der Fall. Auch bei Patienten mit klinisch diagnosti- zierter schwerer Gefäß Verengung werden beeindruk - kende Behandlungserfolge erzielt.

Dr. Kerns Einwände hätten zwingend zu einem Über- denken der bisherigen Anschauungen über die Entstehung des Herzinfarkts führen müssen. Aber niemand folgte den revolutionären Auslegungen des Stuttgarter Arztes. Zu überzeugend war der Augenschein, den die verkrusteten und verstopften Gefäße boten.

Wie sollte Dr. Kern die Wirksamkeit der von ihm an- gewendeten Behandlung beweisen? Wie konnte er den vorteilhaften Einfluß des Strophanthins auf zerstörende Prozesse im Herzen anschaulich machen? Wer vermochte schon, in ein schlagendes Herz hineinzusehen? Was für ein Spion könnte im Herzmuskel auskundschaften, welche der zwei Theorien recht hat, auf welche Weise beim Infarkt der Muskelmord verübt wird?

Eines Tages fand er einen Tatzeugen. Einen Zeugen, so ungewöhnlich wie die Aufgabe, die er erfüllen sollte.

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6. Der unsichtbare Detektiv

Er ist stumm, weiß aber Aussagen von einmaliger Wich- tigkeit zu machen. Er ist blind, und doch beobachtet er das Geschehen mit größter Genauigkeit. Überdies zeichnet ihn jene Feinhligkeit aus, wie man sie nur bei Blinden findet.

Der Zeuge besitzt aber noch eine Eigenschaft, die seinen Wert vor allen andern übersteigt: er ist so winzig, daß man ihn mit bloßem Auge nicht wahrnehmen kann. Mit Hilfe dieser Winzigkeit ist ihm möglich, was bisher un- möglich schien: er kann in ein lebendes Herz eindringen und der Entstehung des Herzinfarktes nachspüren.

Dieser Detektiv ist die Spitze einer Meßsonde, ein

Zehntel eines Millimeters lang und ein Hundertstel eines Millimeters dünn. Mit größter Behutsamkeit wird sie an das schlagende Herz herangeführt. Kein Tröpfchen Blut fließt, wenn sie zwischen die Muskelfasern eindringt. Das Instrument, um vieles feiner als ein Menschenhaar, stört die Stoff Wechselabläufe des arbeitenden Herzens nicht.

Die Beine eines Versuchstieres sind mit Klebestreifen auf einer Metallplatte befestigt. Diese nach Bedarf heiz- bare oder kühlbare Unterlage hält die Körpertemperatur der in Vollnarkose liegenden Ratte konstant. Die Beat- mung erfolgt mit Hilfe eines Schlauches durch einen Schnitt in die Luftröhre.

Der Brustkorb ist geöffnet, Haken ziehen Haut und Muskeln auseinander. Das Herz liegt frei.

Die biegsame Meßelektrode ist mit einem Zielgerät ge- koppelt. Ein r diesen Zweck konstruiertes Stativ ermög- licht, daß die Sonde exakt nach oben oder unten, nach links oder rechts, vorwärts oder zurück bewegt werden kann. Die Steuerung erfolgt mit Hilfe eines Doppelmi- kroskops zum plastischen Sehen kleinster Details.

Das hochempfindliche Instrument registriert den elek- trischen Ladungszustand des Gewebes in der linken Herz- kammerwand, nach Wunsch in den Außen- oder in den Innenschichten, die sich sehr unterschiedlich verhalten. Als Gegenpol für diese Messung dient eine zweite Elek- trode aus Spezialmetall, mit festem Kontakt zur Herz- oberfläche. Was die Sonde registriert, wird elektronisch durch einen automatischen Schreiber aufgezeichnet.

Dieser erstaunliche Apparat ist das Werk eines erstaun- lichen Mannes. Der Minispion zur Beobachtung des Stoff- wechsels im lebenden Gewebe wurde von Professor Man- fred von Ardenne entwickelt. Ungewöhnlich ist, daß der 1907 in Hamburg geborene Wissenschaftler zwar Weltruf besitzt, jedoch als Physiker, nicht als Mediziner. Seine technischen Erfindungen, mit denen er als 15jähriger an die Radiofirma Loewe herangetreten war, hatten den Rundfunk zum Massenmedium gemacht. 1931 war ihm eine Weltpremiere besonderer Art gelungen: er hatte als Erster eine Fernsehü bertragung auf elektronischer Grund- lage bewerkstelligt und gilt deshalb als einer der Väter des heutigen Fernsehens. Die Zahl seiner technischen Ent- wicklungen ist immens. Zeitweise hat er wöchentlich zwei Patente erworben. Seine Forschungen waren grundlegend für die Entwicklung des Elektronenmikroskops, für Be- reiche der Radartechnik, der Raketentechnik, der Kern- physik. In seinem Forschungsinstitut auf dem „Weißen Hirsch" in Dresden experimentiert er zusammen mit 400 Mitarbeitern.

Ein Physiker bietet seine Hilfe an

Seit eineinhalb Jahrzehnten hat er seine unerreichte Meß- technik in den Dienst der medizinischen Forschung ge- stellt. Die von ihm entwickelte Krebs-Mehrschritt-Thera- pie ist darauf aufgebaut, die Unterschiede zwischen Krebs-

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Zeilen und normalen Zellen zu verstärken. Auf diese "Weise sollen bei einem Therapieschlag die Krebszellen voll ge- troffen werden, ohne daß gesundes Gewebe und die Ab- wehrkräfte des Körpers dabei Schaden nehmen. „Seien wir dankbar, daß ein Wissenschaftler von so hohem Rang seine Hilfe angeboten hat", charakterisierte der inter- national bekannte deutsche Krebsforscher Professor Druck- rey die Situation.

Auch auf dem Gebiet des Herzinfarkts war diese Hilfe dringend nötig: „Die Medizin wird in Zukunft keine ent- scheidenden Fortschritte mehr machen, solange die Bio- logen nichts von Physik und die Physiker nichts von Bio- logie verstehen", gab der zweifache Nobelpreisträger für Medizin Professor Albert Szent-Györgyi zu bedenken.

Dr. Kern war an einem Punkt angelangt, wo er drin- gend der Hilfe der experimentellen Forschung bedurfte. Aufgrund der beobachteten und der in der Fachliteratur zusammengetragenen Fakten hatte er den Schluß gezogen, daß der Herzinfarkt durch Entgleisung des Stoffwechsels in der linken Herzkammer entsteht, als chemische Kata- strophe, die von den Muskelzellen der vorgeschädigten Stellen her ihren Ausgang nimmt. Er sprach von einem Perrosionsprozeß, einem Zerfressen des Gewebes, bei dem es jauch zur Blutgerinnung in kleinsten Gefäßen kommt.

Dieser Gerinnungsprozeß setzt sich nach Dr. Kerns

Feststellungen bis an solche Stellen fort, an denen andere

Gefäßästchen abzweigen, und verstopft auch dort den Blutzufluß. Dadurch werden weitere Muskelbezirke nicht mehr mit Blut versorgt und in den Zerstörungsprozeß ein- bezogen, der sich dadurch noch beschleunigt.

Vieles von diesen Abläufen ließ sich auf Grund der be- kannten Tatsachen nachvollziehen. Anderes wieder blieb hypothetisch. Die naturwissenschaftlich orientierte Medi- zin aber verlangt Bestätigung durch das Experiment.

Professor von Ardenne wurde durch die Ähnlichkeit von ihm entdeckter und von Dr. Kern festgestellter bio- logischer Prozesse zu weiteren Experimenten in der Herz- forschung angeregt. Er fand zuerst, daß die Innenschichten der linken Kammerwand von Natur aus das sauerste Gewebe des Organismus sind, wie Dr. Kern aufgrund des Durchblutungs-Stopps gefolgert hatte.

Die Maßeinheit für diesen Säuregrad ist der pH-Wert, der die Konzentration positiv geladener Wasserstoff- Teilchen angibt. Als ausgeglichen gilt ein pH-Wert von 7; was darüber ist, wird als alkalisch oder basisch bezeichnet, was darunter liegt, als sauer. Gesunde Gewebe haben einen pH-Wert von knapp über 7.

Wird ein Gewebe übersäuert, sinkt der pH-Wert ab. Sinkt er unter eine bestimmte Gefahrenschwelle, setzt ein tödlicher Zerstörungsprozeß ein: in der Zelle explodieren „Molotow-Cocktails", nur daß es sich dabei nicht um Sprengladungen, sondern um ätzende Wirkstoffe handelt, die eine Selbstverdauung der Zellen bewirken.

Diese Selbstverdauung ist ein Trick der Natur, die nicht nur produziert, sondern ihre Produkte auch wieder ab- baut, sobald sie unbrauchbar geworden sind. Zellbestand- teile, die nicht mehr verwendbar sind, werden zersetzt und fortgeschwemmt. Die Natur hat die Müllverwertung gleich in die Zelle mit eingebaut. Kugelförmige Bläschen, die Lysosomen (Auflösungskörperchen), beherbergen die lysosomalen Enzyme (Auflösungs-Wirkstoffe), die ver- brauchte Stoffe verdauen" (chemisch auflösen). In gerin- ger Zahl sind sie auch im gesunden Gewebe wirksam.

Von einem bestimmten Grad der Übersäuerung an, etwa von pH 6,7 abwärts, werden diese Wirkstoffe durch die Einwirkung der Säure vermehrt gebildet, schwärmen aus ihren Quartieren aus und beginnen die Zelle zu zer- stören. Ja noch mehr: sie dringen durch die Zellmembran,

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die Wand der Zelle, nach außen und greifen dort Nach- barzellen an. Aus den zerstörten Nachbarzellen werden weitere Verdauungs-Wirkstoffe freigesetzt und immer mehr Zellen aus der Umgebung in den Zerstörungsprozeß einbezogen.

Das Herz verträgt keinen Muskelkater

Durch den Durchblutungsstopp haben die Zellen der LIS weniger Sauerstoff zur Verfügung als andere Zellen des Organismus. Deshalb liegt ihr pH-Wert auch unter Nor- malbedingungen oft nicht höher als bei 6,8. Doch die Natur hat vorgebeugt.

Bei der Gewinnung von Energie für die Lebensvor- gänge fällt Milchsäure an. Fällt zuviel an, so verspüren wir die dadurch entstehende Übersäuerung als Muskel- kater. Das Herz kann sich einen Muskelkater jedoch nicht leisten. Es würde sofort in einen lebensgehrlich niedrigen pH-Bereich geraten. Weil aber gerade in diesen Gewe- ben je nach Anstrengung zu viel Milchsäure anfällt, ist es dem Herzmuskel als einzigem Muskel des Menschen mög- lich, die Milchsäure wieder zur Energiegewinnung zu ver- werten. Um nicht an seinem giftigen Abwasser zugrunde zu gehen, führt er es wieder dem Produktionsprozeß zu.

Sind der Durchblutungsstopp der LIS und seine Folgen also doch harmlos? Muß man so ausführlich darauf ein- gehen, wenn er keine nachteiligen Auswirkungen hat?

Der Durdiblutungsstopp bleibt nur so lange ungefähr- lich, als die Zellen gesund sind. Wenn irgendwelche nach- teiligen Einwirkungen erst einmal Schäden gesetzt haben, ist die Zelle weder in der Lage, Sauerstoff noch Milchsäure zu verwerten, sie beginnt gleichsam nach Luft zu japsen. Bevor sie jedoch erstickt, beginnt ein Notstrom-Aggregat zu arbeiten:

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Weil die Zelle ihre Energie nicht mehr aus der Sauer- stoff-Atmung decken kann, muß sie auf eine andere Form der Energiegewinnung zurückgreifen, auf jenen Prozeß, durch den einst die Anfänge des Lebens ermöglicht wor- den sind, als es noch keinen Sauerstoff auf der Erde gab: die Zelle schaltet um auf den Gärungs-Stoffwechsel.

Jetzt sind die Innenschichten zwar vor dem sofortigen Gewebstod bewahrt, aber sie geraten mehr und mehr in eine andere Notlage: durch den Gärungsstoff Wechsel wird noch mehr Milchsäure erzeugt, während gleichzeitig keine Milchsäure mehr verarbeitet werden kann. Die angeschla- genen Zellen bringen sich selbst in eine ausweglose Situa- tion, sie beginnen gleichsam im eigenen Saft zu schmoren. Die eine oder andere stirbt ab, Verdauungs-Wirkstoffe aus ihrem Innern treten aus und beginnen in der Nachbar- schaft ihr ätzendes Werk: fünf Zellen, zehn, fünfund- zwanzig und mehr werden vernichtet. Es bilden sich die „toten Pünktchen".

Explosion im Zeitlupentempo

Noch besteht keine ernsthafte Gefahr für das Herz im ganzen oder gar für das Leben des Menschen. Erst wenn durch schädigende Einflüsse die Übersäuerung zunimmt, wenn mehrere tote Pünktchen zusammenzufließen" be- ginnen wie Tintenflecke im Löschpapier, wenn also ein größerer Bezirk übersäuert und vom Gewebstod erfaßt wird — dann wird die Situation kritisch. Sprunghaft setzt jetzt eine Kettenreaktion der Zerstörung ein.

Wer etwas von Kettenreaktion hört, denkt an das Schießpulver oder an die Atombombe. Aber es gibt sie auch im menschlichen Gewebe, nur daß die Explosion gleichsam im Zeitlupentempo erfolgt. Anfangs waren nur

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wenige Zellen von der Übersäuerung erfaßt. Weil „eine Kettenreaktion mit Beteiligung von nur wenigen Zellen nicht möglich" ist, beginnt die Katastrophe erst ab einer Größe von etwa zehn Kubikmillimetern.

Jetzt breitet sich die Zersetzung wie eine Feuersbrunst aus. Ein Waldbrand nimmt ja auch nur von einer kleinen Fläche seinen Ausgang, und erst nach und nach springt das

Feuer auf immer entferntere Bäume über. Die erfaßten Stämme und Äste entwickeln ihrerseits eine solche Hitze, daß das Flammenmeer immer größer wird und in einem Feuersturm alles Brennbare ringsum ergreift.

Was beim Waldbrand der anfachende Feuersturm, ist bei der biologischen Kettenreaktion die Übersäuerung mit der von ihr ausgelösten Aktivierung der Verdauungs- Wirkstoffe. In den Innenschichten des Herzens, vergleich- bar einem von langer Dürre ausgedörrten Waldstück, greift der Säuretod rasch um sich. Die in dem zugrunde- gehenden Gewebe eingebetteten Nerven geben Katastro- phenalarm — den Kranken erfasst unerträ glicher Vernich- tungsschmerz: Herzinfarkt!

Aber nicht nur die Katastrophe tritt aufgrund der Messungen des Dresdner Forschungsinstituts bildhaft vor Augen — auch der Weg der Verhütung wird augenfällig: der Prozeß der Kettenreaktion, je nach Schweregrad, ist innerhalb von zwanzig bis vierzig Minuten noch rever- sibel, der Tod des Gewebes noch nicht endgültig. Dadurch wird auch verständlich, daß wirksame Behandlung in den ersten Minuten die Sterblichkeit senken kann.

Die Untersuchungen Manfred von Ardennes veran- schaulichen aber vor allem, daß verhütende Maßnahmen dann am erfolgreichsten sind, wenn sie die Entwicklung von „toten Pünktchen" zum großen Gewebsuntergang, oder in der Fachsprache: von Kleinherd-Nekrosen zur

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Groß-Nekrose verhindern. Ist so der Muskel erst einmal vernarbt, kann der beste Arzt, die wertvollste Methode den gesunden Normalzustand nicht mehr herstellen.

Anatomie der Infarkt-Verhütung

Als Dr. Kern Professor von Ardenne einige Monate nach Beginn der Untersuchungen in Dresden besuchte, sah er seine Erkenntnisse bestätigt, zudem erweitert und vertieft. Der Herzinfarkt war meßtechnisch so genau erfaßt, daß er ihn wie auf einem Reißbrett vor sich sah. Er fand eine exakte Anatomie dieser biologischen Katastrophe vor:

Die wachsende Übersäuerung durch die zunehmende Zerstörung aktiviert immer mehr auflösende Wirkstoffe. Kleinste Gefäße werden in den Zerstörungsprozeß mit hineingezogen, verquellen, verschließen sich; für weitere Kleinstbereiche ist die Blut- und damit die Sauerstoff- Zufuhr unterbunden, die Übersäuerung nimmt zu, und das Tempo der Vernichtung wird immer schneller.

An nicht übersäuerten Stellen jedoch, an den Rand- schichten gesunder Gewebe zum Beispiel, Gewebszonen um Fettzellen oder größere Gefäße, reißt der zerstörende Prozeß plötzlich ab. Wie Halbinseln oder Inseln liegen solche gesunden Gewebe inmitten der zerfressenen Berei- che. Dem Pathologen zeigt sich unter dem Mikroskop eine Landkarte des Todes, aus der er den zeitlichen Ablauf der Katastrophe rekonstruieren kann.

Was den Stuttgarter Gast aber am meisten beeindruckte, waren jene Darstellungen, die eine Umkehr des Gesche- hens veranschaulichten. Professor von Ardenne vermochte zu zeigen, wie sich die Katastrophe in ihrem Ablauf stop- pen ließ, wie sie durch Strophanthin unterbunden werden konnte — jenes Medikament also, das sich in der Praxis

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Dr. Kerns vieltausendfach bewährt hatte. Denn die Meß- kurven zeigen:

0 Innerhalb von Minutenfrist kann durch Strophan- thin das Lebensmilieu eines vom Säuretod und In- farktsterben bedrohten Herzens wieder normalisiert werden. Wurde dem Versuchstier während des expe- rimentell ausgelösten Säuerungszustands (Herzin- farkts) Strophanthin verabreicht, stieg der pH-Wert sofort wieder an und kletterte aus der Gefahrenzone in den gesunden Normalbereich.

Vielleicht, so hoffte Dr. Kern, würde die Fachwelt einer Meßkurve, einem Zackenstrich aus Rattenherzen mehr glauben als seinen jahrelang ungehört verhallten Mittei- lungen über erfolgreich behandelte Patienten...

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DIE THESEN DES DOKTOR KERN

  1. Herzinfarkte entstehen so gut wie ausschließlich aufgrund von Stoff Wechselstörungen des Herz- muskels. Sie entstehen so gut wie nie aufgrund von Blutmangel hervorgerufen durch Erkrankun- gen der Herzkranzgefäße.
  2. Herzinfarkte sind deshalb nur mit solchen Mit- teln zu verhüten, die den Herzmuskel unterstüt - zen und seinen gestörten Stoffwechsel wieder nor- malisieren. Zum Beispiel mit Strophanthin.
  3. Das Versagen der offiziellen Kardiologie in der Infarktforschung und -Verhütung stellt das größte Theorie- und Therapieversagen in der Geschichte der Medizin dar. Neun von zehn Herzkranken hätten nicht sterben müssen. Sie sind Opfer einer falschen Lehre.

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7. Der Weg nach Heidelberg

Auf dem Fernsehschirm bewegte sich der Zeiger einer Stoppuhr. In ihr Ticken hinein sprach der Kommentator:

„Der Film, den Sie jetzt sehen, dauert acht Minuten und

35 Sekunden. In einem Zeitraum von acht Minuten und 35 Sekunden sterben in der Bundesrepublik drei Menschen an Herzinfarkt. In Europa fordert dieser Herztod alle

30 Sekunden ein Opfer."

So begann am 13. September 1971 ein Beitrag des kri- tischen Fernseh-Magazins „Report München", dem der Autor Dieter Hanitzsch den Titel „Bei Irrtum Tod" ge- geben hatte. Sein Thema war das Versagen der Schulmedi- zin gegenüber dem Herzinfarkt und ihre Mißachtung der von Dr. Kern angebotenen Methode zur Verhütung dieses Leidens: „Die Herzmedizin steht diesem Massensterben hilflos gegenüber, obwohl sie es möglicherweise verhin- dern könnte."

Es konnte nicht überraschen, daß die Sendung vor allem bei denen, die angesprochen waren, wie eine Bombe ein- schlug. Dr. Kern legte sich nach den Jahren erzwungenen Schweigens vor den Fernsehkameras keinerlei Zurückhal- tung auf. Er warf der Schulmedizin, die ihn als spinneten Außenseiter verketzert hatte, nichts anderes vor, als daß sie durch falsche Behandlung indirekt „zu der Lawine der Infarkte" beitrage: „Ein deutscher Professor kann lehren, was er mag, auch wenn es wider besseres Wissen ist. Es gibt keine Möglichkeiten, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen oder ihm Weisungen zu erteilen, er möge sich besser mit der wissenschaftlichen Erkenntnis koordinieren."

Der Aufruhr unter den Betroffenen verstärkte sich, als in der gleichen Woche die „Bunte Illustrierte" einen acht- seitigen Artikel mit dem Titel „An Herzinfarkt muß kei- ner mehr sterben" als erste Folge einer Serie zum gleichen

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Thema veröffentlichte. Andere Zeitungen und Zeitschrif- ten zogen in den darauffolgenden Tagen nach.

Anlaß für diese Presskampagne war die Veröffentli- chung neuer Arbeiten aus dem Forschungsinstitut Profes- sor von Ardennes, die Dr. Kerns Vorstellungen von einer vorbeugenden Therapie des Herzinfarkts experimentell bestätigten. Ihr Ergebnis sollte zwei Monate später eine direkte Konfrontation zwischen Dr. Kern und Vertretern der von ihm angegriffenen akademischen Medizin sein — ein in der Geschichte der Medizin beispielloses Ergebnis.

Wie war es möglich, daß ein Arzt, vom Typ eher ein stiller Privatgelehrter, zu einem Revolutionär gegen die etablierte Wissenschaft wurde? Das sich immer weiter aus- breitende Infarktelend hatte die Voraussetzung dafür ge- schaffen. Hinzu kam noch, daß sich im Laufe der Jahre zwischen dem drängenden Neuerer und den Schulkardio- logen „emotionelle Barrieren aufgetürmt" hatten, wie ein Fachblatt die Situation charakterisierte. Die Mediziner, die an den Schalthebeln der Macht im akademischen Be- trieb manipulieren, hatten nur dann, wenn es gar nicht anders ging, öffentlich zu den Vorschlä gen und Theorien Dr. Kerns Stellung bezogen, und wenn sie es taten, ge- schah es in gereiztem oder hämischem Ton. Es erschien ihnen zumeist als die bessere Methode, den lästigen Stö- renfried durch Stillschweigen mundtot zu machen. Über Kern und mit Kern wird nicht gesprochen", formulierte es einer seiner Gegner. Orales Strophanthin war für alle fachliche Arbeit und Diskussion tabu.

Opfer einer falschen Lehre

Jetzt entlud sich, was sich seit Jahrzehnten in dem Stutt- garter Arzt aufgestaut hatte, in schweren Anschuldigun- gen. Die Lage hatte sich zu seinen Gunsten gewendet, und

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er setzte nunmehr voll auf Angriff. Doch er hatte vor die- ser Reaktion nicht erwogen, ob er dieser Rolle auch ge- wachsen sein würde. Denn seine in der Presse vorgetrage- nen Attacken ließen die Wogen immer höher schlagen.

Ein Arzt klagt an", hieß es da. Neun von zehn In- farkttoten hätten nicht an dieser Krankheit zu sterben brauchen, wären sie von ihrem Arzt richtig behandelt worden." Das Leitmotiv aller seiner Anschuldigungen lau- tete: "Infarktkranke sind Opfer einer falschen Lehre!"

Zusammenfassend gipfelten seine Vorwürfe in diesen

Worten: „Millionen Herzkranke mußten sterben, wie die Theorie, ,wie das Gesetz es befahl', weil ihre kranken Her- zen kein wirksames Herzmittel mehr bekommen durften, sondern nur noch nutzlose Maßnahmen gegen unschuldige Adern." Konsequent führte er seinen Gedankengang zu

Ende: „Alle medizinischen Theorien wirken sich auf die Volksgesundhe it aus. Richtige Theorien helfen heilen, falsche Theorien können massenhaft tödlich wirken. So im schlimmsten Beispiel dafür in der Medizingeschichte: der Infarktlawine als der größten und tödlichsten Epidemie der Menschheit."

Damit hatte er die volle Tragweite seiner Anklage aus- gesprochen. Sie besagt nicht weniger, als daß eine medizi- nische Irrlehre Opfer in jener Größenordnung gefordert hat, wie sie etwa für die Zahl der Toten des letzten Welt- krieges errechnet wurde. Noch nie war die Wissenschaft herausgefordert worden, zu einer Frage von solcher Wucht Stellung zu nehmen. „Eineinhalb Millionen Tote jährlich, macht in 25 Jahren rund 37 Millionen Tote, die zu Lasten der "Schulmedizin" gehen — wie gesagt, hätte sich ein Re - dakteur diese Zahlen durch den Kopf gehen lassen, dann wären ihm vielleicht Bedenken gekommen, ob man das drucken lassen darf, entrüstete man sich in der Fachwelt, deren Glaubwürdigkeit auf dem Spiel stand. „Höchste

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Zeit, daß es jemand unter die Leute brachte: Unsere Me- dizin wird von engstirnigen Professoren terrorisiert, und Hunderttausende müssen sinnlos sterben", wetterte ein Fachblatt. Nun will man mit der Macht der Massenpub- lizistik die Menschen aufrütteln. Sollte dies wahrgemacht werden, muß auf Hoffnung Resignation folgen und wei- terer Schwund des Vertrauens in die Medizin."

In solcher Bedrängnis schien es das dienlichste Mittel, den Spieß einfach umzudrehen: Von den vielen Millio- nen, die jetzt durch die Berichte in den Illustrierten und Zeitschriften verunsichert sind, errechneten wir eine Mil- lion zusätzlicher Infarkt-Todesfälle innerhalb von vier Jahren. Sie gehen zu Lasten der Massenmedien, die — be- wußt oder unbewußt — einen Massenwahn verbreiten, um die ,Schulmedizin' oder »herrschende Lehrmeinungen* zu erschüttern. Ein Politikum also."

Da war es, das Schlagwort vom Politikum, gezielt in die Debatte geworfen. Mit keiner anderen Warnung wa- ren die Ärzte so leicht aufzuschrecken wie mit dem Orakel drohender Systemveränderung, auf keine Weise einfacher zum gemeinsamen Widerstand aufzurufen. Zwar gab es nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, aber die Parole von der „Revolution der Linken" wurde auch hier rasch in Umlauf gesetzt.

Es wurde wieder einmal versucht, eine Diskussion da- durch für sich zu entscheiden, daß man die Vertreter an- derer Meinungen als „Kommunisten" abqualifizierte. Es ist unklar, ob solch eine Argumentation hierzulande im- mer noch verfängt und ob sie genügt, eine Sachdebatte ab- zuwürgen. Angewendet wird sie jedoch weiterhin. In die- sem Fall wurde beispielsweise versucht, sogar exakte Ex- perimente auf diese Weise abzuqualifizieren. Weil die Untersuchungen Professor von Ardennes in der „sowjeti- schen Besatzungszone"  durchgeführt wurden,  seien sie hinfällig". Seine Arbeiten hätten den gleichen minderen Stellenwert wie etwa die nazibegünstigten Untersuchungs- ergebnisse" einstiger Wissenschaftler.

Mutig gegen den Strom

Die Front gegen Dr. Kern und Professor von Ardenne formierte sich. Die Befürworter blieben in den Minder- zahl. „Wir haben mit der oralen Strophanthinbehandlung bei Patienten mit Angina pectoris und Fällen mit soge- nannten Koronarerkrankungen ganz ausgezeichnete Er- fahrungen gemacht", wußte etwa Professor Hanns Fleisch- hacker zu berichten. Der Wiener Arzt hatte als erster Kli- niker die neue Richtung befürwortet. „Alle bisherigen Be- mühungen, mit den zur Verfügung stehenden Medikamen- ten die Häufigkeit und die weitere Zunahme des Herz- infarkts zu beeinflussen, hatten keinen überzeugenden Er- folg. Die Lage der Dinge war so, daß wir zwingend die Anregung von Kern aufgreifen mußten." Die Arbeiten aus dem Dresdner Institut betrachtete er als „eine faszi- nierende Leistung".

Einen Brückenschlag versuchte der Kölner Sportmedi- ziner Professor Wildor Hollmann: „Wenn nur ein kleiner Teil dessen richtig ist, was Dr. Kern behauptet, wäre der Einsatz aller Mittel gerechtfertigt. Es ist imponierend, daß ein Arzt, der auf die Möglichkeiten seiner Praxis be- schränkt ist, den Mut hat, gegen den Strom zu schwim- men. Wir sollten uns nie über etwas lustig machen, wie unvorstellbar es uns auch vorkommen mag: denn wir soll- ten uns daran erinnern, daß Wissenschaft immer nur der letzte Stand unseres Irrtums ist."

Diese Worte fielen als Diskussionsbeitrag auf einem

Kongreß der Internationalen Gesellschaft zur Infarktbe-

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kämpfung (IGI), einer Vereinigung von etwa 50 Ärzten, die Dr. Kerns Behandlungskonzept anwenden. Professor Hollmanns Ausführungen kam deshalb besondere Bedeu- tung zu, weil er den Namen Bajusz in die Debatte warf und dadurch ins Blickfeld rückte, daß auch noch andere Forscher immer weiter von der Lehrmeinung über die Entstehung des Herzinfarkts abrückten.

Professor Eörs Bajusz gehörte zu jener kleinen Gruppe von Wissenschaftlern der Neuen Welt, die ihre Aufmerk- samkeit gleichfalls darauf konzentrierten, welche Rolle der Stoffwechsel des Herzmuskels für die Infarktentste- hung spielte. Er bezeichnete die „streng mechanistische" Koronar-Theorie als „eine falsche Auffassung", obwohl in der klinischen Medizin „der Glaube noch immer weit verbreitet" sei, daß Sauerstoff-Mangel im Herzen mit sei- nen gefürchteten Folgen „allein durch die Verminderung des Koronar-Blutflusses" auftrete; dafür liege aber kein Beweis vor, solche Vorstellungen seien vielmehr nur „zu einer allgemein angenommenen Gewohnheit geworden".

Und der Begründer dieser neuen Forschungsrichtung in den USA, Professor Wilhelm Raab, hatte schon vor Jah- ren auf einer Europareise bedauert, daß die Bedeutung von schädlichen Einflüssen auf den Herzmuskel hier so gar keine Beachtung fände, weil immer nur die Gefäße im Blickpunkt stünden: „Die traditionelle, rein an den Gefäßen orientierte Auffassung ist einfach nicht mehr ak- zeptabel, ob es der uniformierten »Opposition' paßt oder nicht."

Aber die Opposition gegen Neuerungen auf ihrem Fach- gebiet, die Vertreter der Schulmedizin, schien auf einmal gar nicht mehr so uniformiert. Im offiziellen „Deutschen Ärzteblatt" erschien als Reaktion auf die öffentliche Aus- einandersetzung eine Stellungnahme von Professor Hel- mut Gillmann, in der der Ludwigshafener Chefarzt behauptete: »Die Reduzierung der ,Lehrmeinung* auf die Koronarsklerose beruht daher entweder auf unverständ- licher Simplifizierung oder hoffentlich unwahrschein- licher böswilliger Unterstellung."

Dieser Ton war für die Öffentlichkeit neu. Denn die Mitteilungen über den Herzinfarkt, die sie von Kongres- sen erreichten, wußten über die „Haupttodesursache Koro- narleiden" zu berichten, es war Sprachgebrauch, daß nicht etwa der Herztod oder der Herzinfarkt, sondern der „Koronartod" und der „Koronarinfarkt" reiche Ernte hielten.

Vor einem Wandel der Auffassung?

In solch einem Zeitalter der absoluten Koronarherrschaft mußte es deshalb aufhorchen lassen, wenn in einer offi- ziellen Stellungnahme erklärt wurde: „Der klinisch viel verwandte Begriff der Koronarinsuffizienz wird daher der Vielfalt der möglichen Ursachen nicht gerecht." Zwar bleibe das System der Herzkranzgefäße nach wie vor „die Nabelschnur der Herzmuskelzelle", aber es zeichne sich

»ein Wandel der Auffassung" ab, der vor allem in der Abkehr von der Koronar-Therapie, der bislang üblichen Gefäßbehandlung, zum Ausdruck komme.

Waren die Vertreter der Schulmedizin zum Einlenken bereit? Mit Datum vom 12. 10. 1971 erreichte Dr. Kern völlig überraschend eine Einladung der Deutschen Gesell- schaft für Innere Medizin „zu einer ärztlichen Diskussion" nach Heidelberg. Sollte endlich wahr werden, worauf er seit vielen Jahren vergeblich drängte? Hatte es wirklich seiner Flucht in die Öffentlichkeit bedurft, um seine Kon- trahenten an den Verhandlungstisch zu bringen?

Noch konnte er nicht glauben, daß die andere Seite

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nach Jahren der Ablehnung und des nur verachtenden Spottes von heute auf morgen gesprächsbereit geworden sein sollte. "Wir haben Wichtigeres zu tun, als uns mit Kern abzugeben", hatte man ihm noch kürzlich gering - schätzig bedeutet. Und sein Mißtrauen wurde sofort be- stätigt, als einer der zu dem Gespräch geladenen Schul- mediziner in einem Lokalblatt ein seltsames Interview gab:

„Kern kann nicht für voll genommen werden", erläu- terte der Herr Professor dem Reporter. „Ich werte die Sache als einen politischen Angriff, um das Image der

Schulmedizin herabzusetzen." Da war es wieder, das Schlagwort vom Politikum. Besonderes Interesse aber ver- diente dieser Satz: Dr. Kern sei „aufgefordert, im No- vember in Heidelberg vor einem kompetenten Gremium seine Theorien zu erläutern, die nichts weiter darstellten als „unausgegorene Ideen".

Aufgefordert? Kompetentes Gremium? Wer konnte ihn, einen freien Arzt, zu einer Versammlung laden außer ein ordentliches Gericht? Maßte sich hier eine Gruppe von Ärzten an, eine Jury zu bilden, um einen mißliebigen Kollegen abzuurteilen?

Oder war das Urteil etwa gar schon gesprochen? Er- innerten die „unausgegorenen Ideen" nicht peinlich an ähnliche Vorwürfe? Dr. Kern habe keine Lehre begründet, hatte man ihn verspottet, sondern eine gläubige Sekte um sich geschart, sei ein Geisteskranker, der seinen Jüngern eine Heilsbotschaft verkünde. Und jetzt sah er sich von einem seiner zukünftigen Diskussionspartner wiederum als Gaukler verhöhnt...

Auf seine argwöhnische Anfrage tönte es aus Heidel- berg beschwichtigend zurück: „Es kann gar keine Rede davon sein, daß hier nun eine Jury zusammentreten soll." Außerdem wurde  eine abwechselnde Leitung des  Gesprächs angeboten, damit jede Seite einen ihr genehmen Moderator benennen könne.

Dennoch fuhr Dr. Kern mit gemischten Gefühlen nach Heidelberg. Er wußte, daß er einen schweren Gang tat. Nach der Heftigkeit der Attacken konnte er nicht erwar- ten, daß man besonders freundlich mit ihm umspringen würde. Das mußte er hinnehmen, und er war gern bereit dazu, wenn nur die Sachfragen die gebührende Würdi- gung erfuhren. Ein Zerwürfnis half weder den Ärzten noch den Patienten.

Wie hatte Professor Gillmann geschrieben? „Ich bin der Meinung, daß nur durch eine Aussprache in emotioneil entladener Atmosphäre eine Klärung der Standpunkte möglich ist. Es war hoch an der Zeit, daß persönliche Eitelkeiten zurücktraten hinter den großen unbewältigten Nöten der Zeit.

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II. Kapitel

Der Schauprozeß

1. Wie man ein Spektakel inszeniert

Die Stimmung im Höhenrestaurant „Molkenkur* über den Dächern Heidelbergs war frostig und unfreundlich, sie schien dem Wetter dieses Tages angepaßt. Der 19. No- vember 1971 hatte den ersten Schnee des Jahres gebracht, es war trüb und feucht, die angesagte Hochwetterlage sollte einen Kaltlufteinbruch bringen.

Von der stuckverzierten Decke des Saales hingen blaue Vorhänge herab; doch obwohl man sie nicht zugezogen hatte, war von der „weltberühmten Aussicht" ins Neckar- tal nicht viel zu sehen. Aber das kümmerte keinen der Anwesenden.

Das Höhenrestaurant wurde 1851 dort erbaut, wo frü- her das alte Heidelberger Schloß gestanden hatte. Als Dr. Berthold Kern nachmittags gegen drei Uhr an der Ta- gungsstätte eintraf, stellte er überrascht fest, daß an die- ser sogenannten Klausurtagung mindestens 150 Personen teilnahmen. Es war überhaupt manches anders, als er es sich gedacht hatte. Erste Überraschung: Professor Ernst Wollheim aus Würzburg, von der einladenden Partei als Moderator benannt, lehnte es ab, sich an die Vereinba- rung zu halten, wonach wechselweise er und ein Vertreter der IGI die Gesprächsleitung innehaben sollten. In einem kurzen Disput weigerte er sich grundsätzlich, den Vorsitz abzugeben.

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In der Auseinandersetzung um diesen Punkt erwiesen Kern und seine Mitstreiter erstmals ihr taktisches Unver- mögen. Der von ihnen gestellte Moderator nahm es hin, am Tisch des Vorsitzenden nur geduldet zu sein. Zu Wort kam er nicht. Als er Professor Wollheim Feuer für dessen Zigarre anbot, knurrte der Kliniker: »Von ihnen nicht,

Herr Kollege!" Er war nicht bereit, mit einem Anhänger Kerns auch nur äußerlich konventionellen Kontakt auf- zunehmen.

Ein Schlaglicht nur, und doch grell genug, um die Situa- tion zu beleuchten. Dr. Kern konnte sich zusammenrei- men, was ihm blühte, noch bevor Professor Wollheim die Tagung geschäftsmäßig kühl eröffnete.

Danach verlas der Gesprächsleiter eine Passage aus einer Veröffentlichung von Dr. Kern und fragte ihn: Habe ich Sie richtig zitiert und Ihre Meinung hier richtig vertreten?"

Dr. Kern versuchte, aus dem aufgezwungenen Protokoll auszubrechen. Er ging nicht auf die Frage ein, sondern gab seiner "Freude darüber Ausdruck", daß "endlich, end- lich nach langer Zeit eine Diskussion in Gang" komme, schnitt schließlich selbst eine Fachfrage an. Doch so ein- fach ließ sich der alleinherrschende Moderator das Heft nicht aus der Hand nehmen. Er machte sofort klar, daß Dr. Kern auf den Ablauf der Veranstaltung nicht im mindesten Einfluß nehmen dürfe:

„Moment, Kollege Kern, auf diese Frage kommen wir nachher. Ich glaube, wir kommen sonst nicht mit dem Programm durch, wenn wir uns nicht an die Thematik halten." Und sofort darauf der Versuch, Dr. Kern in die Enge zu treiben: „Habe ich dies korrekt wiedergegeben, oder sind Sie mit dieser Meinung nicht mehr identisch?"

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Er sprach, als wollte er um Entschuldigung bitten

Noch fügte Dr. Kern sich nicht, noch zeigte er keine Bereit- schaft, sich einfach ins Verhör nehmen zu lassen. Aber er sagte nicht etwa: Herr Kollege, ich glaube, wir müssen uns zuerst einmal darüber verständigen, wie wir hier verfahren wollen. Wie stellen Sie sich den Verlauf dieser Diskussion vor, welche Schwerpunkte wollen wir heraus- arbeiten? Ich glaube, das ist das erste, worauf wir uns einigen müssen, wenn wir zu einem gedeihlichen Ergebnis kommen wollen."

Statt dessen machte er den Eindruck, als wiche er der direkten Frage aus, und er sagte so lahm, als wollte er sich entschuldigen: »Damit Sie sehen, wie ich auf diese Dinge gekommen bin, darf ich Ihnen vielleicht einen kur- zen Abriß geben über meine wissenschaftlichen ...

Im Auditorium wurde es unruhig, und Professor 'Woll- heim unterbrach: "Herr Kollege Kern, ich glaube, wir können voraussetzen, daß alle Teilnehmer sich auf dieses Kolloquium vorbereitet haben, das heißt, daß sie Ihre

Schriften gelesen haben und damit also über Ihren Weg orientiert sind."

Schon nach diesem kurzen Intermezzo mußte Professor

Wollheim die Gewißheit gewonnen haben, daß alles nach

Generalstabsplan ablaufen werde. Dr. Kern hatte seine Ungeschicklichkeit, sich in Rede und Gegenrede zur Wehr zu setzen, schon in seinen ersten Sätzen so eindringlich demonstriert, daß es die Professoren, die er seit Wochen angegriffen hatte, geradezu reizen mußte, ihren Wider- sacher unglaubhaft zu machen.

Mit inquisitorischem Geschick wußte als erster Profes- sor Gillmann solche Schwächen zu nutzen, und Dr. Kern gab eine ziemlich unglückliche Figur ab, als der Ludwigs- hafener Chefarzt ihn mehrmals darauf festzulegen ver-

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suchte, daß Arteriosklerose die Blutgefäße nach Kerns Auffassung tatsächlich nicht enger mache: Stehen Sie zu dem, was Sie immer wieder gesagt haben?"

Dr. Kern war nicht imstande, klarzumachen, daß die

Frage falsch gestellt war. In seinem Hauptwerk „Der Myokardinfarkt" hatte er ausführlich dargestellt, daß so- genannte Atherome keine Verengung der Gefäße bewir- ken, hatte aber dieser Form der Arteriosklerose andere, die Blutströmung hindernde Krankheitsprozesse gegen- übergestellt, die er Verschlußkrankheiten nannte. Als er jetzt auf diesen Sachverhalt hinwies, geschah es in beinahe flehentlichem Tonfall, und was er sagte, klang wirr und hatte keine Überzeugungskraft. Professor Gillmann unter- brach: Stehen Sie dazu, ja oder nein?" Dr. Kern sah in solchen Situationen keinen anderen Ausweg, als um Ver- ständnis zu bitten: „Meine Herren, ich bin doch nicht aus Bilderstürmerei oder aus Skepsis oder Querköpfigkeit oder paranoider Besserwisserei dazu gekommen, sondern bin einfach gezwungen worden durch die Praxis, durch die Erfahrungen. Ich weiß nicht, ob ich nun endlich ein- mal diesen..."

Die Kern-Explosion fand nicht statt

Professor Wollheim fiel ihm ins Wort: „Herr Kern, wür- den Sie vielleicht auf die Frage von Herrn Gillmann ant- worten?" Die Zuhörer mußten den Eindruck gewinnen, daß er sich um die Antwort drücke, daß er sich seiner Sache nicht mehr sicher sei und nur nach einem Hintertür- chen suche, um wieder aus dem Schlamassel herauszukom- men, das er sich eingebrockt hatte. So konnte Professor Gillmann triumphierend dartun: „Darf ich feststellen,

Herr Kern, daß Sie sich korrigiert haben?"

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Von den im Saal Anwesenden waren mindestens zwei

Drittel gegen Dr. Kern voreingenommen. Eine starke

Hundertschaft war gegen den Mann angetreten, der seit Jahren ihr Wirken und ihr Ansehen infrage gestellt hatte, zuletzt sogar lautstark in aller Öffentlichkeit. Und die Wucht der öffentlichen Meinung hatte den Störenfried jetzt gleichsam mitten vor die feindlichen Bataillone kata- pultiert. Doch war es keine geballte Sprengladung, die hier auf der „Molkenkur" jeden Augenblick zu explodieren drohte, es war nicht mehr als eine Knallerbse.

Dr. Kern hatte damit rechnen müssen, daß seine Brand- reden nicht ohne Folgen bleiben würden. Er mußte darauf gefaßt sein, daß man ihn nicht mit Glacehandschuhen an- fassen würde. Der Boxweltmeister Cassius Clay hatte sich sein berühmtes Großmaul nur deswegen leisten können, weil er hart zuzuschlagen verstand. Aber als Dr. Kern in den Ring stieg, erwies er sich schon beim ersten Schlagab- tausch als ein Amateur. Der Härte und den Tricks der Professionals wußte er nichts entgegenzusetzen.

Da stand er nun vor der Zuschauerschaft, die ihn kalt, ja feindselig musterte. Weißhaarig, im dunklen Anzug, mit sanfter Stimme und gleichmäßigem Tonfall bot er der geschlossenen Front alles andere als den Eindruck eines Revolutionärs. Er redete viel, aber niemand hörte ihm so recht zu. Es war weder überzeugender Ausdruck noch Überzeugungskraft in seinen Worten. Die Lektüre des von Gerichtsstenographen festgehaltenen Protokolls vermit- telt nicht den richtigen Eindruck. Der schriftlich fixierte Text bringt die Argumente Dr. Kerns viel eindrucksvoller zur Geltung, als es der Klang seiner Stimme vermochte. Aber an Argumenten schienen die Veranstalter ohnedies nicht sonderlich interessiert zu sein.

Zumindest nicht an Gegenargumenten. Dafür sorgte der Moderator "...der Mann, der allen Parteien das gleiche

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Recht angedeihen läßt", wie er es zu Beginn der Sitzung dargestellt hatte. Jedes Recht aber wird von Gesetzen her- geleitet, und das Gesetz, unter das Professor Wollheim sein Wirken als Universitätsprofessor gestellt hatte, war die „koronare Durchblutungsstörung" als Ursache des Herzinfarkts. Es war nicht zu erwarten, daß er am Ende seiner Laufbahn von dem Abstand nehmen würde, was er sein Leben lang im Hörsaal, auf Kongressen, vor Gericht vertreten hatte.

2. Der eindrucksvolle Augenschein

Professor Wilhelm Doerr, den die Studenten wegen seiner Zungenfertigkeit „das Maschinengewehr" nennen, war als erster Pathologe zur Diskussion aufgerufen. Er eilte im Sturmschritt an das Mikrofon, als gelte es, einen Gegner im ersten Anlauf zu überrennen, und begann das Audi- torium mit einem Schwall von Worten zu überschütten.

Pathologen sind Ärzte, die die Entstehung von Krank- heiten und die durch sie hervorgerufenen organischen Ver- änderungen an der Leiche studieren. Ärzte anderer Fach- bereiche sind in der mißlichen Lage, ihr Publikum mit abstrakten Kurven und ermüdenden Zahlenreihen lang- weilen zu müssen. Die Objekte pathologischer Betrach- tung haben dagegen den Vorzug, daß sie sich fotografie- ren lassen und bei Vorträgen auf die Leinwand projeziert werden können, zur Bestätigung des Gesagten.

Professor Doerr hatte für sein erstes Dauerfeuer 17 Dias parat, und was er zu zeigen hatte, war eindrucksvoll genug: verengte, verquollene, von Blutgerinnseln ver- stopfte Herzkranzgefäße, im Leichenöffnungsgut eines Jahres 189 tödliche Herzinfarkte, bei 171 davon Ver- schlüsse der Koronararterien. „In allen Fällen, in denen ein Herzinfarkt die Todeskrankheit eines Menschen dar- stellt, werden in weit mehr als 90 Prozent sämtlicher Be- obachtungen Verschlüsse der Koronararterien gefunden", erklärte der Heidelberger Pathologe zusammenfassend.

„Herr Kern sagt, daß 99 Prozent aller Infarkte myogen entstehen (durch Entgleisung des Herzmuskel-Stoffwech- sels), die Pathologen sagen aber, daß die überwiegende Mehrzahl der Infarkte koronarogen entsteht (durch Er- krankungen der Herzkranzgefäße verursacht). Warum sind die Pathologen in ihrer Auffassung so rückständig?" höhnte Professor Hort aus Marburg, einer der anderen

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drei gegen Dr. Kern auftretenden Pathologen. „Dazu werden sie durch ihre täglichen Beobachtungen gezwun- gen!"

Tatsächlich ist der Augenschein, jeder sich den Patholo- gen bei einer Leichenöffnung bietet, überzeugend. Wer einmal die verkrusteten, vernarbten, mit geronnenem Blut ausgefüllten Kranzgefäße eines an einem Herzinfarkt Verstorbenen gesehen hat, wird keine Zweifel mehr daran haben, daß hier die Durchblutung entscheidend beein- trächtigt oder überhaupt völlig unterbunden war und daß dieser Blutmangel die Zerstörungen im Herzmuskel, die man als Infarkt bezeichnet, hervorgerufen hat.

Dr. Kern hatte gleichsam nicht mehr und nicht weniger behauptet, als daß sich die Erde um die Sonne drehe, ob- wohl sich doch jeder Mensch durch den Augenschein davon überzeugen konnte, daß es doch die Sonne war, die am Morgen über den Horizont heraufkroch, immer höher stieg und sich rund um das Firmament bewegte! Aber jetzt, als er aufgerufen war, diese ungeheuerliche Aussage zu verteidigen und zu begründen, da sagte er nur lahm, es gehe ihm gar nicht darum, solche Beobachtungen zu bestreiten: „Diese Befunde sind schon lange bekannt. Das ist das, was wir alle ursprünglich einmal gelernt haben. In dieser Auffassung sind wir alle erzogen worden, und in dieser Auffassung bin auch ich in die Praxis getreten."

Fragen, die nicht vorgesehen waren

Erst die praktische Erfahrung habe ihn belehrt, so er- klärte Dr. Kern, daß nicht alles so klar sein könne, wie es der Augenschein glauben mache: „Diese zu einfache For- mel haben wir erweitern müssen. Wir sind dazu gekom- men, daß nicht nur das Angebot durch die Kranzarterien

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und der Bedarf der Zelle besteht, sondern auch die Auf- nahmefähigkeit und die Verwertungsfähigkeit."

Mit solchen Darstellungen kamen Gesichtspunkte in die Debatte, deren Diskussion offensichtlich nicht vorgesehen war. Professor Wollheim unterbrach: „Wir können ein wissenschaftliches Kolloquium nicht durchführen, indem zu jedem Punkt der gesamte Themenkreis diskutiert wird — das ist sinnlos — sondern wir müssen Punkt für Punkt vorgehen."

Das Heidelberger Streitgespräch über den Herzinfarkt währte sieben Stunden. Es wurde Dr. Kern später entge- gengehalten, daß ihm in dieser Zeit immer und immer wieder Gelegenheit zum Reden geboten worden sei, er habe nur nichts zu sagen gehabt. Und wirklich hat Dr. Kern oft und viel geredet. Nur auf die von ihm zentral herausgestellten Punkte durfte er nicht zu sprechen kom- men. Er wurde auf den Themenkreis der Koronar-Theorie festgelegt und auf diese Weise ständig in die Verteidigung gezwungen:

„Hier wird immer wieder versucht, mit der Pathologie post mortem (nach dem Tode), mit den Befunden post mortem anzufangen und danach die Lebensprozesse auf- zubauen", hatte sich Dr. Kern beklagt. „Ich darf jetzt bitten: Das heutige Kolloquium ist doch nun anberaumt worden, um zu meinen Fragen Stellung zu nehmen. Bis- her haben wir nur die Fragen gehört, die wir alle schon vor 30, 40 Jahren gelernt haben."

Professor Wollheim reagierte sofort: „Darf ich jetzt einmal unterbrechen!" Der Delinquent versuchte offen- sichtlich, Sandkörner in die Räder der Vernichtungsma- schinerie zu streuen, die ihn mit methodischer Konsequenz zermalmen sollte. Der geplante Ablauf durfte nicht unter- brochen werden. Es mußte mit aller Deutlichkeit heraus- gearbeitet werden, daß die Zerstörungsprozesse im Herz-

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muskel nur durch Erkrankungen der Kranzgefäße hervorgerufen wurden. Gelang es, dieser Ansicht unumstrittene Gültigkeit zu verleihen, dann hatten alle andersgerichte- ten Vorstellungen nicht mehr als den Charakter einer Spe - kulation. Diese Beweisführung bildete also gleichsam das Fundament für den weiteren Verlauf.

Als sich immer mehr abzeichnete, wie gelenkt die Dis- kussion war, begehrte Dr. Cornelius Heyde, der Geschäfts- führer der IGI, endlich auf: Ich habe mich vor ungefähr zwanzig Minuten zu Wort gemeldet und bin noch nicht berücksichtigt worden."

Professor Wollheim sah von seinen Unterlagen auf:

„Sie waren vorhin dran, Herr Kollege."

„Ich habe mich, bevor ich dran war, eine Viertelstunde vorher..."

„Herr Heyde, Verzeihung, Sie haben doch hier ge- sprochen."

„Na ja, aber spontan, weil ich direkt Antwort geben konnte. Ich hatte mich aber vorher zu Wort gemeldet, und ich bin nicht berücksichtigt worden."

„Sie kommen nachher dran, wenn Herr Lichtlen ge - sprochen hat."

„Damit bin ich nicht einverstanden!"

„Ich bedaure sehr, aber es kann ja nur einer mode- rieren."

„Ich habe noch Fragen an Herrn Doerr, und ich habe noch Fragen ..."

„Sie können ja nachher sprechen." Professor Wollheim blieb Herr der Situation. Aber kaum war der Beifall nach dem nächsten Redner abgeklungen, erhob sich Dr. Heyde wieder:

„An Herrn Professor Doerr hätte ich zuerst die Frage hinsichtlich der Thrombose: Soll die Thrombose also pri- mär entstehen..."

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Professor Wollheim fiel ihm ins Wort: "Die Thrombo - sen werden nachher besprochen, Herr Heyde."

„Herr Professor Doerr hat schon vorher darüber ge- sprochen, und ich möchte ihn jetzt selbst zitieren —"

Der Gesprächsleiter sorgt für Ordnung

Der Generalstabsplan war in Gefahr: „Entschuldigen Sie, Herr Heyde, wir müssen einen bestimmten Komplex ab- wickeln, das können wir nur, wenn wir Ordnung halten."

Dr. Heyde blieb weiter in der Offensive: „Nein, das können wir nur, wenn wir Stellung nehmen dürfen."

„Sie können ja nachher Stellung nehmen."

„Ich möchte das Auditorium bitten, darüber abzustim- men, ob jetzt meine Fragen .. ."

Professor Wollheim wurde ärgerlich: „Wir sind hier keine Volksversammlung, sondern ein wissenschaftliches Kolloquium. Wir haben eine bestimmte Thematik aufge- stellt, und Sie können sich nachher ausführlich mit Herrn

Doerr über die Thrombose unterhalten."

Dr. Heyde war in Fahrt geraten: „Ich habe noch ein paar Punkte, einen Augenblick."

Diesen Moment nützte Dr. Kern, um sich in die De- batte einzuschalten. Er, der während der sieben Stunden auf der „Molkenkur" meist zaghaft und unsicher wirkte, fragte mit Schärfe in der Stimme: „Dürfen wir das Pro- gramm auch einmal erfahren?**

Professor Wollheim ließ sich keinen Millimeter aus der

Spur bringen: „Herr Dr. Kern, wir gehen immer von Dingen aus, die in Ihrem Buch klar dargestellt sind, und diskutieren diese Dinge, damit Sie und die Herren aus dem Arbeitskreis sich dazu äußern können."

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Dr. Kern wütend: „Die entscheidenden Punkte, um die es geht, wollen Sie hier ausklammern!"

Professor Wollheim, würdig: „Nein, nicht ausklam- mern, sondern wir wollen sie nur der Ordnung halber hintereinander abhandeln."

Dr. Kern, mit Nachdruck: „Der Ordnung halber ge- hören sie an den Anfang."

Professor Wollheim, arrogant: „Entschuldigen Sie, wir können ja keine Bouillabaisse aus dem Infarkt machen."

Im Saal wurde gezischt. Professor Wollheim drohte aus seiner Rolle als Mittler zwischen den Parteien zu fallen. Dr. Kern und seine Mitstreiter schienen eine Wende in der Diskussion herbeigeführt zu haben. Dr. Heyde ging erst- mals zum direkten Angriff über: „Wollen Sie Herrn Kern Punkt für Punkt festlegen und dann sagen: er hat ja

Unrecht? Oder was wollen Sie?"

Jetzt war es heraus. Der Vorwurf stand im Raum, daß

Dr. Kern unter dem Vorwand einer Klausurtagung nach Heidelberg gelockt worden war, um ihn hochnotpeinlich zu vernehmen. Um den Geruch eines Schauprozesses zu vermeiden, mußte Professor Wollheim nunmehr die Tak- tik ändern. Er sagte kühl:

„Nein, das wollen wir gar nicht, sondern wir wollen ihm jede Möglichkeit geben, sich zu äußern. Aber das kann nur..."

Dr. Heyde korrigierte ihn: „Ich will mich jetzt gerade äußern, und ich darf es nicht!"

Professor Wollheim schien nachzugeben: „Aber Herr Kollege Heyde, dann bitte äußern Sie sich." Er schränkte ein: „Aber nicht länger als zwei Minuten."

An keinem Punkt der Auseinandersetzung zeigte sich die taktische Schwäche Kerns und seiner Mitstreiter so sehr wie während dieser direkten Konfrontation. Statt den gebotenen Vorteil wahrzunehmen, fragte Dr. Heyde

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artig: „Ich möchte jetzt wissen, ob ich mich nachher zu diesen Fragen äußern darf."

Professor Wollheim war überrascht, daß er so einfach wieder gewonnen hatte. Freundlich sagte er: „Nachher können Sie sich gern zur Thrombose-Frage äußern. Das ist die übernächste Frage. Dann können Sie so ausführlich

Stellung nehmen, wie Sie wollen."

Noch war das Fundament des Tribunals fugenlos.

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3. Durch Experimente in die Sackgasse

Um die Kritik Dr. Kerns zu entkräften, daß nur Befunde an der Leiche zur Erforschung der „krankmachenden Pro- zesse herangezogen würden, trat der Zürcher Kliniker Dr. Paul Lichtlen an das Mikrofon. Das Beweismaterial, das er vorlegte, war an Lebenden gewonnen worden. Er hatte sich dazu des Hilfsmittels der Koronar-Angiogra- phie bedient, wie die Röntgendarstellung der Herzkranz- gefäße bezeichnet wird.

Dabei wird ein Herzkatheter, ein dünnes, biegsames Röhrchen, durch eine Arm- oder Beinvene in das Herz vorgeschoben und an die Kranzgefäße heran- oder direkt hineingeführt. Ein Kontrastmittel ergießt sich in den Blut- strom und macht jetzt den Gefäßverlauf im RÖntgenbild sichtbar. Auf diese Weise können Verengungen oder Ver- schlüsse dargestellt werden.

Dr. Lichtlen berichtete über seine Untersuchungen an 166 Patienten, die Infarkte erlitten hatten: „Diese Patien- ten haben in 97,6 Prozent der Fälle eine schwere Koronar- sklerose aufgewiesen. Also für uns besteht kein Zweifel, daß praktisch bei fast allen Patienten, die einen Infarkt durchgemacht haben, auch eine Koronarsklerose im be- treffenden Gebiet besteht."

Diese Angaben decken sich weitgehend mit der sonsti- gen Literatur über dieses Fachgebiet. Alle im Saal, ein- schließlich Dr. Kern, kannten diese Arbeiten und ihre Ergebnisse. Es war unmöglich, sich darüber hinwegzu- setzen. Wenn Dr. Kern solche Feststellungen einfach igno- rierte, dann hatte er sein eigenes Urteil gesprochen. Er- übrigte sich nicht jede weitere Diskussion?

Aber Dr. Lichtlen tat in seinem Eifer, Dr. Kerns An- sichten über die Harmlosigkeit solcher Gefäßerkrankun- gen in Bezug auf die Durchblutung des Herzens ad absur-

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dum zu führen, des Guten zuviel. Er sagte: „Ich darf noch betonen, daß der Großteil dieser Patienten eine ge- neralisierte Koronarsklerose dort sogar aufweist, daß nicht nur die entsprechenden, zum Infarktgebiet führen- den Gefäße betroffen waren, sondern auch Gefäße, die mit dem Infarktgebiet überhaupt nichts zu tun haben.** Der aufbrandende Beifall übertünchte, daß der Schweizer Spezialist soeben begonnen hatte, das Kind mit dem Bade auszugießen.

Wie ist es zu erklären, so hätte ein erfahrener Diskus- sionsredner gefragt, daß eine Ursache in dem einen Fall eine Wirkung auslöst und in einem anderen nicht? Welche Gesetzmäßigkeit läßt sich daraus ableiten, wenn die Ko- ronarsklerose einmal dramatische Folgen haben soll, um andererseits völlig harmlos zu bleiben? Welchen Einfluß haben die im Röntgenbild sichtbaren Verengungen wirklich?

Ein Beispiel für viele: Das im Labor für Herzkathe- terismus des Marine-Hospitals in Philadelphia angefer- tigte Röntgenbild stellte Verschlüsse in allen Hauptästen der Herzkranzgefäße dar: da konnte kein Blut mehr durchfließen. Der 35jährige Marinesoldat mußte eigent- lich schon längst einen schweren Herzinfarkt erlitten ha- ben. Doch der Matrose fühlte sich pudelwohl und berich- tete dem Direktor des Instituts, daß er täglich Strecken bis zu fünf Kilometer zum Training lief.

Ein Wunder?

Ein Mörder, eine Leiche, aber kein Infarkt

Ein anderer Fall. Der Messerstich eines Mörders traf einen 30jährigen Mann von vorn ins Herz. Dabei wurde auch der Hauptast des größten Herzkranzgefäßes aufge-

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schlitzt. Er mußte sofort unterbunden werden, sonst wäre der Schwerverletzte verblutet.

Fünf Tage nach der erfolgreichen Operation verstarb der Mann an einer Blutvergiftung, hervorgerufen durch die verschmutzte Mordwaffe. Bei der Leichenöffnung er- warteten die Ärzte, einen Infarkt vorzufinden, denn die Abschnürung solch eines großen Gefäßes hätte das Ab- sterben eines Teiles der Herzvorderwand zur Folge haben müssen.

Deshalb verblüffte das Resultat der Untersuchung die Spezialisten: kein Infarkt, das Muskelgewebe im Bereich der verlegten Arterie war voll durchblutet und gesund. Ein Irrtum?

Kein Irrtum, kein Wunder. Allenfalls das, was man als Wunderwerk der Natur bezeichnet. Denn das Gefäß- system des Herzens und anderer Organe wird nicht von einigen wenigen Hauptästen gespeist, die gleich Sackgas- sen einfach abgeriegelt werden können. Das Blut fließt über ein Netz von Umleitungen durch den ganzen Mus- kel, strömt sogar aus kleineren Gefäßen zurück in die großen Hauptgefäße, wenn diese an einer Stelle erkrankt oder sogar verlegt sein sollten. Solche Gefäße, die in einer Riesenzahl eine Ausgleichsversorgung mit Blut aufrecht- erhalten, werden in der Wissenschaft Anastomosen ge- nannt und wurden dem Menschen als „ein Geschenk in die Wiege gelegt", wie es ein Kliniker formulierte.

Die „Blutbrücken" sind also angeboren; schon im nor- malen Herzen gibt es in jedem Gebiet einen ausgedehnten Ersatzkreislauf, der für den Bedarfsfall bereitsteht. Kommt es zu einer strömungsbehindernden Gefäßerkran- kung, können diese Blutbrücken wie Seitenarme eines Flusses das Blut an einer Engstelle vorbeileiten.

Auch das sind Feststellungen, über die sich eigentlich niemand hinwegsetzen kann. Bezieht man sie in die Dis-

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kussion mit ein, dann ergibt sich plötzlich ein völlig neues Bild. Es ergeben sich Fragen über Fragen, und die An- wesenheit so vieler Fachleute auf der „Molkenkur* in Hei- delberg hätte zweifellos eine ideale Voraussetzung dafür geboten, um zu ihrer Klärung beizutragen.

Aber was zu diesem wichtigen Punkt geäußert wurde, war beschämend dürftig. Ein Diskussionsredner gestand zwar zu, daß dank der Umgehungsgefäße im Herzen "durchaus eine genügende Blutzufuhr vorhanden sein kann", aber er schränkte sofort wieder ein: "Das sind Ausnahmen !"

Ist eine funktionierende Ausgleichsversorgung wirklich nichts weiter als eine Ausnahme, oder läßt sich darin eine Naturgesetzlichkeit erkennen? Das ist die Grundsatzfrage in diesem Theorienstreit, denn von der Antwort hängen Millionen von Menschenleben ab.

Kunstblut enthüllt ein Wunder der Natur

Professor Giorgio Baroldi, Pathologe an der Universität

Mailand und am Armed Forces Institute of Pathology in

Washington, hat mit Hilfe einer besonderen Technik die Gefäße von tausenden Herzen Verstorbener wiederaufge- füllt. Die dazu verwendete Kunstmasse ist bei Zimmer- temperatur flüssig wie Blut. Er ließ sie in das Gefäß- system des Herzens mit jenem rhythmischen Druck ein- strömen, mit dem das Herz auch zu Lebzeiten durch- strömt wird.

In einer Formalinlösung verfestigte sich das Kunstblut im Herzen danach durch Erwärmung bis zu 50 Grad Celsius zu festen Gefäßausgüssen. Hierauf wurde das

Herzfleisch durch ein Säurebad abgelöst, und es „enthüll-

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ten sich Myriaden von Gefäßen in ihrer ganzen Vielfalt, ein sehr eindrucksvoller Anblick", beschreibt Joe Blum- berg, Direktor des US-Instituts in Washington, diesen bahnbrechenden Fortschritt.

Professor Baroldi selbst faßt das Ergebnis seiner 20jäh- rigen Studien zu diesem Thema zusammen: „Die Häufig- keit dieser Blutbrücken, die wir jetzt direkt sichtbar ma- chen können, ist im Herzen so groß, daß es unmöglich ist, ihre genaue Zahl zu bestimmen. Im allgemeinen ist jeder Zweig des Arteriensystems im Herzmuskel an vielen Stel- len mit den angrenzenden Zweigen durch die ganze Dicke der Muskelwand des Herzens verbunden. Außerhalb der Muskelwand wird das gleiche durch eine Vielzahl sehr feiner Gefäße erreicht. Zusammenfassend kann man sa- gen, daß es in jedem Bereich des Herzens ein weitverbrei- tetes und für einen Ersatzkreislauf völlig ausreichendes

System von Gefäßverbindungen gibt."

Der italienische Wissenschaftler hat aus Zahl und Kali- ber der Blutbrücken deren Transportkapazität errechnet und festgestellt, daß im Bedarfsfall eine naturgegebene Wuchsautomatik sofort eine Erweiterung der Blutbrücken und einen ausgleichenden Mehrdurchfluß bewirkt. Der Er- satzkreislauf ist imstande, sich in direkter Proportion zum Grad und zur Ausdehnung einer Verschlußkrankheit zu erweitern. Er wächst so lange, bis eine Volldurchblutung garantiert ist, und er wächst schneller als die Arterio- sklerose, so daß es nicht einmal vorübergehend zu einer Minderdurchblutung kommen kann. Professor Baroldi nennt folgende Zahlen:

 In 53 Prozent von 449 mit Hilfe einer Gewebsunter- suchung überprüften Infarkt-Todesfällen fand sich kein Verschluß eines Gefäßes, der doch allgemein als akute Ursache des Herzinfarkts gilt.

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 In weiteren 43 Prozent der Fälle fanden sich zwar Verschlüsse, aber gleichzeitig eine normale Volldurch- blutung der Gefäße hinter den Verschlußstellen aus reichlich entwickelten Blutbrücken. Professor Baroldi: „Wo unser Kunstblut durchrinnt, dort kann erst recht echtes Blut fließen. Auf diese Weise konnten wir zeigen, daß die Durchblutung auch hinter Ver- schlußstellen und im Infarktgebiet bis zum Tode funktioniert hat. Der Infarkt scheint sich völlig un- abhängig vom Zustand der Herzkrankgefäße zu ent- wickeln."

Trotz solch eindeutiger statistisch erhärteter Feststellun- gen werden von Anhängern der Verstopfungs-These auf Kongressen Zweifel angemeldet, ob denn solch ein Ersatz- kreislauf auch voll wirksam wäre. In einer Diskussions- bemerkung erklärte Professor Baroldi dazu, daß er in 56 Prozent der von ihm mit der Ausgußtechnik untersuchten Herzen mit Verschlüssen von Kranzgefäßen keine Infark - te gefunden habe: was sollte das für ein Naturgesetz sein, das nur in 44 Prozent der Fälle wirksam ist, in mehr als der Hälfte aller Fälle aber nicht? "Daraus geht doch ein- deutig hervor, daß die Anastomosen wirksam sind", er- klärte der Gefäßspezialist. „Arteriosklerose kann nicht die Ursache von Blutmangel sein. Die Infarkte müssen andere Ursachen haben."

Tierversuche bestätigten diese Erkenntnis. Um das lang- same Wachsen der Arteriosklerose, wenn auch nur sehr unvollkommen, im Experiment nachzuahmen, wurden z. B. um die Herzkranzgefäße von Hunden Kunststoff- schlingen gelegt, die sich allmählich mit Feuchtigkeit voll- sogen, aufquollen und im Laufe von Tagen die Gefäße zudrückten. Obgleich die Gefäßverengung um vieles ra- scher zustandekam als durch Arteriosklerose, die für solch

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einen Prozeß Jahre benötigt, entwickelten sich schon in dieser kurzen Zeit so wirksame Blutbrücken, daß die er- warteten Infarkte nicht eintraten.

Wie ein Dogma entsteht

Solche Befunde hätten anderen Forschern zu denken geben müssen. Zeigten sie doch, wie rasch winzige Anastomosen zwischen den Gefäßästen zu wirksamen Blutbrücken heranwachsen konnten. Aber wie gebannt sind alle von dem Dogma, das Professor Julius Cohnheim 1881 begrün- det hatte und das seither in jedem Lehrbuch zu finden ist:

Herzkranzgefäße sind End-Arterien. Das heißt, diese Adern sind nicht durch Seitenzweige mit anderen Gefäßen verbunden. Die Herzgefäße sind Sackgassen! Und deshalb muß heute noch jeder Medizinstudent mit der akademi- schen Muttermilch in sich einsaugen: Verlegte Kranzge- fäße bewirken eine Minderdurchblutung des Herzens. Dieser Blutmangel führt zum Herzinfarkt. Und umge - kehrt muß dem Herzinfarkt eine Koronarerkrankung vorausgehen...

Noch erfährt keiner der Studenten, keiner der Ärzte aus den Lehrbüchern, daß sich der berühmte Professor Cohnheim geirrt hat. Dabei findet sich schon bei Hippo- krates die Erkenntnis, daß Blutgefäße „ihre Strömung kommunizierend ineinander ergießen". Schon der altgrie - chische Arzt hatte erkannt, daß das Gefäßsystem netz- artig angelegt ist. Die zur Zeit übliche Vorstellung vom Gefäßbaum entspricht nicht der Wirklichkeit.

Im 17. Jahrhundert hatte der englische Arzt Lower die Gefäßverzweigungen gründlich studiert und als Ergebnis seiner Untersuchungen festgehalten, in den Herzkranzge- fäßen breite sich eine "Flüssigkeit, welche in eine von

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beiden injiziert wurde, gleichzeitig durch beide hin aus. Es besteht überall ein gleich großer Bedarf an lebendiger Wärme und Ernährung, so daß einem Defizit von beiden vollkommen durch Anastomosen vorgebaut ist."

Auch der deutsche Anatom W. Spalteholz stellte zu Be- ginn dieses Jahrhunderts aufgrund ähnlicher Experimente fest: „Daß frühere Untersucher diese Anastomosen nicht gefunden haben, liegt wohl im wesentlichen an Mängeln der von ihnen benutzten Injektionsmassen; denn wenn die Darstellung von Anastomosen ohne Schwierigkeit auch mit anderen Massen gelingt, die nicht so leichflüssig wie Leim sind, z. B. mit Wachs, so reicht doch die von einigen Autoren angewandte Gipsmasse für diese feineren Ver- hältnisse nicht aus."

Wie hatte Professor Cohnheim so irren können? Den Forscher hatte es bei seinen Experimenten gestört, daß die in die Gefäße von Herzpräparaten eingespritzte Farb- lösung an anderen Stellen wieder herauslief. Um das zu verhindern, mischte er für seine weiteren Versuche eine Masse aus Kuhmilch und Gips an, die nach ihrer Beschaf- fenheit schon in den dickeren Gefäßen steckenbleiben mußte und in die feineren gar nicht erst vordringen konnte. Das maschenartige Netzwerk der Anastomosen konnte auf diese Weise keinesfalls sichtbar gemacht wer- den. Die Herzkranzgefäße erschienen als End-Arterien.

So geschah es, daß die Kardiologie durch die Mißgeburt eines Experiments in die Sackgasse geführt wurde.

GEFÄSSBAUM UND GEFÄSSNETZ

LEHRSATZ

Das Gefäßsystem ist mit Verzweigungen eines Bau- mes vergleichbar, weil diese keine Querverbindungen untereinander haben. Auch Herzkranzgefäße sind Sackgassen. Wenn sie verstopft sind, muß im Ver- sorgungsgebiet Blutmangel eintreten.

KERN-SATZ

Das Gefäßsystem ist mit den Maschen eines Netzes vergleichbar. Auch im Herzmuskel stehen alle Ge- fäße durch unzählige natürliche Umgehungsgassen in allseitiger Verbindung miteinander. Wenn eine Hauptstrombahn verlegt ist, dann wird auf diesem Wege eine Ausgleichsversorgung wirksam. Deshalb kann in keinem Versorgungsgebiet eines Herzkranz- gefäßes Blutmangel eintreten.

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4.Virtuosität kennt keine Grenzen

Hatten etliche der Teilnehmer an dem Streitgespräch in dem anfangs ungeheizten Saal über den Dächern Heidel- bergs noch fröstelnd ihre Mäntel angezogen, so war die Temperatur mittlerweile fühlbar angestiegen. Die Hitzig- keit, in die sich manche hineinsteigerten, hätte sie zudem vermutlich auch bei geöffneten Fenstern keine Kälte spü- ren lassen.

Wenn Dr. Kern sprach, redete er hastig, in eintönigem

Tonfall. Seine jahrelange Zurückgezogenheit aus der Öffentlichkeit hatte nicht dazu beigetragen, ihn im Dialog oder gar in der harten Diskussion zu schulen. Seine Kon- trahenten, für die wissenschaftliche Auseinandersetzungen tägliches Brot waren, nützten die Situation weidlich aus.

Dr. Kern ging auf ihre Fragen meist nicht direkt ein, indem er sie weder klar beantwortete noch sie in der ge- stellten Form zurückwies. Er erweckte dadurch den Ein- druck, er würde dauernd ausweichen. In der Einsamkeit der Studierstube hatte er verlernt, auf Argumente zu rea- gieren; er hatte zu allen Problemen einen ihm gemäßen Einstieg gefunden und versuchte auch jetzt, im Disput, diesen seinen Umweg zu gehen. Je öfter er das tat, desto gnadenloser wurde er ins Verhör genommen und ihm die Vorhaltung gemacht, daß er sich der Inquisition nicht stelle: "Können Sie überhaupt ein Frage präzise beant- worten oder nicht?"

Dr. Kern warb um Verständnis: "Heute wird der In- farkt einfach identifiziert mit Koronar-Einengung oder Koronar-Verschluß. Mir ging es darum, dieses Diskrepanz aufzuklären: Die Leute laufen zunächst mit einer schwe- ren Angina pectoris herum, und sie wird als Koronar- stenose (Stenose = Verengung) oder Koronarinsuffizienz bezeichnet. In dem Augenblick, wo man das Myokard (Herzmuskel) in Ordnung bringt — oder jedenfalls so weit in Ordnung bringt, wie es noch möglich ist, natürlich kann man nicht immer 100 Prozent erreichen —, hört die Angina pectoris auf, die Infarkte bleiben weg. Bitte, was ist da los? Was ist mit diesen Koronarstenosen los? Wenn diese Befunde stimmen, daß der Mann bloß noch zehn bis zwölf Prozent Koronardurchblutung für das ganze Herz hatte, dann hat ja der Erfolg...

Ein Zuruf aus dem Auditorium unterbrach ihn: „Sie haben von Stenosen gesprochen, nicht von der Durch- blutungsgröße!"

Dr. Kern: „Das wird ja immer gleichgesetzt.* Seine Worte gingen ebenso unter wie er selbst an diesem Tag. Niemand griff sie auf, obwohl er soeben eine gewichtige Aussage vorgebracht hatte.

In der Übereinstimmung von Gefäßverengung und Durchblutungsmangel gipfelt nämlich die ganze Lehre von der Koronarinsuffizienz. Wenn die Verengungen un- erheblich wären für die Durchblutung, dann wären ja auch die Feststellungen der Pathologen an Leichengefäßen ohne wesentlichen Belang, wären die Röntgendarstellungen der Herzkranzgefäße beim Lebenden ohne Bedeutung, wäre vor allem auch der Sinn der Koronardiirurgie in- frage gestellt worden. Denn die chirurgische Reparatur verletzter Gefäße war ja durch die Darstellung von Ge- fäßverengungen am Lebenden mittels Katheter und Kon- trastflüssigkeit erst im heutigen Umfang möglich gewor- den. Diese wurde gerade zu dem Zeitpunkt entwickelt, als man den Wert einer chirurgischen Sanierung der Koronar- sklerose infrage stellte. Weil man aber von diesem Zeit- punkt ab die Engpässe in den Adern genau feststellen konnte, sah man operative Maßnahmen wieder als zweck- mäßig an.

Da andere Behandlungserfolge bei Herzkranken aus-

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blieben, hatten die Chirurgen ihre Dienste angeboten. Zwar können selbst die Zauberer mit dem Skalpell keine Wunder vollbringen. Doch die Grenzen des Erreichbaren und des Machbaren sind nicht identisch. Denn die tech- nische Virtuosität scheint alle Grenzen zu sprengen und auch dort noch Aussichten zu eröffnen, wo die Natur offensichtlich andere Wege geht.

Infarkte während der Operation

Im Lauf der Jahre waren verschiedene Methoden dieser Koronarchirurgie modern gewesen. Heute ist der soge- nannte „Bypass" das Verfahren der Wahl. Dabei wird mittels einer aus dem Bein entnommenen Vene eine künst- liche Umleitung um eine Engstelle in einem der Herz- kranzgefäße geschaffen. Die Operation kostet mehr als 20000 Mark, sie dauert vier bis sechs Stunden und ist nicht ohne Risiko: die Todesquote beträgt bis zu zehn Prozent, bei Patienten in schlechtem Zustand bis zu 40 Prozent. In einem amerikanischen Kollektiv von 27 Pa- tienten erlitt jeder Fünfte — 20 Prozent — während der Operation einen Herzinfarkt.

Die USA sind das Mekka der Koronarchirurgie. Bald wird die Zahl der Bypass-Operierten die 10 000ergrenze überschreiten. Besonders die Cleveland Clinic hat sich auch auf diesem Gebiet einen Namen gemacht. Von dort kommen Mitteilungen, daß 80 bis 85 Prozent der Ope- rierten umgehend eine Besserung verspürt hätten und daß es gelungen sei, die Todesquote auf 1,5 Prozent herabzu- drücken. Professor Robert Effler, Chef der Thoraxchirur- gie in Cleveland, vertritt zusammen mit einigen anderen amerikanischen Chirurgen den Standpunkt, daß jeder Mann über 40 mit einem verdächtigen Ekg seine Kranz-

 

gefäße röntgen lassen und nötigenfalls operieren lassen sollte.

Trotz solcher optimistischen Beurteilungen sind die kri- tischen Stimmen nie verstummt, ja„sie geben in jüngster Zeit sogar den Ton an.

„Seit 50 Jahren wiederholt sich in Abständen etwas Erstaunliches. Es wird ein neues chirurgisches Verfahren zur Behandlung der Koronarinsuffizienz eingeführt. Dann kommen die Erfolgsmeldungen, Besserungen in über 75 Prozent der Fälle und minimale Letalität (Sterblichkeit). Und wenige Jahre später ist die angepriesene Methode trotz ihrer erstaunlichen Erfolge und ihrer erstaunlich geringen Letalität in Vergessenheit geraten. Es ist ver- ständlich, daß diese Geschichte Mißtrauen hinterlassen hat, daß viel Glaubwürdigkeit verloren gegangen ist", faßt ein Schweizer Internist zusammen. Ein amerikani- scher Kliniker weist darauf hin, daß „eine symptomatische Besserung den Verlauf der Krankheit nicht ändert", und einer seiner Kollegen ergänzt, die Chirurgen könnten zwar die Angina-pectoris-Beschwerden beseitigen, jedoch nicht nachweisen, daß sie „dadurch auch das Leben ver- längern".

Weil es keine anerkannten Statistiken über die Lebens- erwartung von Patienten nach Einsetzen der Herzkrank- heit gibt, ist auch ein Vergleich zwischen der üblichen Behandlung und den Operationserfolgen nicht möglich. Überzeugte Herzchirurgen weisen aber auf den guten sub- jektiven Zustand ihrer Patienten hin und zürnen den Kri- tikern von der Inneren Medizin: „Der Kardiologe besorgt das Reden und der Chirurg die Arbeit."

Nun ist es aber eine erstaunliche Tatsache, daß man mit Hilfe von Scheinoperationen ähnliche Besserungen der Be- schwerden erzielen kann wie mit den heroischen Eingrif- fen. So wurde an 13 Patienten eine Operation nach einem

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inzwischen verlassenen Verfahren vorgenommen, an fünf anderen der Eingriff durch einen Schnitt in die Haut vor- getäuscht. Bei allen diesen fünf Patienten wurde eine gute bis sehr gute Besserung des Befindens registriert, hin- gegen nur bei neun der echt Operierten.

Sogar Infarkte tun nicht mehr weh ...

Ja, es stellte sich sogar immer wieder heraus, daß bei Bypass-Operierten die Schmerzen auch dann nicht mehr auftraten, wenn sich die künstlichen Blutbrücken ver- schlossen, was nach der Theorie doch zu Blutmangel füh- ren mußte. „Sofort nach Anlegen des koronaren Bypasses hören die Schmerzen auf; sie kehren in der Regel auch nicht wieder, selbst wenn der Herzkranke an einem Re- Infarkt stirbt. Er lebt zwar nicht länger, aber sein Wohl- befinden wird merklich angehoben", faßte ein Kongreß- beobachter den Erfahrungsaustausch amerikanischer Spe- zialisten zusammen.

Infarkte ohne Schmerzen? Unterbrach die Operation etwa nur die Schmerzleitung, ohne dem Herzen zu helfen? Sind solche heroischen Eingriffe dann noch vertretbar?

Natürlich verteidigen die Koronarchirurgen das von ihnen angewandte Operationsverfahren. Schließlich ma- chen sie ja auch aus einleuchtenden Gründen und aus bester Überzeugung davon Gebrauch. Aber es scheint, als ob sie, herausgefordert von der Ohnmacht anderer Me- thoden und angespornt von der Hoffnung der Kranken, im wahren Sinne des Wortes das Unmögliche vollbringen.

In der Öffentlichkeit erregte es Bestürzung, als ein ame- rikanisches Ärzteteam bekanntgab, durch einen Bypass werde der Verengungsprozeß in den Kranzgefäßen sogar noch beschleunigt. Es sei statistisch gesichert, daß ausge-

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rechnet solche Gefäße, die durch eine Umleitung eine Un- terstützung erfahren sollen, schneller zuwachsen als an- nähernd gleichartig erkrankte Koronar-Arterien, die nicht operiert worden sind.

Professor Baroldi hatte nichts anderes erwartet. War es ihm doch gelungen, dem eindrucksvollen Augenschein des Gefäßverschlusses ebenso augenfällig den wirksamen Er- satzkreislauf des Herzens gegenüberzustellen und studie- ren zu können: Von einer Vielzahl von Netzspeisungs- anschlüssen an der Herzoberfläche fließt das Blut entwe- der hinein in den Herzmuskel oder nach Bedarf von den inneren Gefäßen hinaus in die Adern, die dem Herz- muskel kranzartig aufliegen. Weil um jeden Verschluß vier bis sechs Speisungsanschlüsse liegen, sind auch Gefäß- strecken hinter Verschlußstellen durchblutet, ähnlich wie beim Verbundnetz der Elektrizitätsversorgung oder beim Straßennetz, das die Sackgasse ja auch nur als Ausnahme eingeplant hat.

Es gibt mehr Blutbrücken im Herzen, als ein Chirurg je schaffen könnte", wertete Professor Baroldi deshalb das kunstvolle Wirken der Chirurgen ab. „Ein Gefäß wird erst dann ungeeignet für die Durchblutungy wenn längst eine ausreichende Ausgleichsversorgung besteht. Setzt der Chirurg eine zusätzliche Anastomose ein, dann geht der Verödungsprozeß eben noch schneller vor sich." Der nicht mehr benutzte Weg wird mit Unkraut überwuchert, ein kaum noch durchströmter Fluß versumpft, versandet...

All diese Experimente, Untersuchungen und Feststel- lungen lassen zwingend die Frage stellen, ob denn die ver- schließenden Gefäßprozesse, die im Röntgenbild darge  stellten Verengungen überhaupt, nichts weiter sind als Folgen eines veränderten Strömungsverlaufs, keineswegs aber die Ursache von Blutmangel. Gibt es überhaupt einen Beweis für eine Minderdurchblutung des Herzens?

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Um diesen Punkt zu klären und durch das Experiment zu erhärten, wurden viele Versuche angestellt. Die Ärzte überlegten: Wenn eine Arterie vermindert durchströmt ist, muß sich das in den Venen auswirken, durch die das Blut aus dem Herzen wieder abfließt. Und eine im Ver- gleich zur Arteriendurchblutung verminderte Blutmenge in den Venen läßt sich ja messen. Deshalb wurden solche Messungen mehrfach vorgenommen. Eine der sorgfältig- sten Studien stammt aus Boston/Massachiussetts in den USA.

Kein Unterschied zwischen Gesunden und Kranken

Es wurden 60 Patienten für die Untersuchung ausgewählt, bei denen Röntgendarstellungen aller drei Kranzgefäße in guter Qualität aus mehreren Aufnahmeebenen exakt krankhafte Veränderungen der Gefäße zeigten. Bei 25 Versuchspersonen, also bei 41 Prozent, waren alle drei Hauptäste verengt.

Den Patienten wurden durch einen Arterienkatheter radioaktiv markierte Substanzen in die Haupt schlagader gespritzt. Von dort flössen sie durch die Herzkranzarte- rien und durch das Muskelgewebe in die Herzvenen, wo sie durch einen zweiten Katheter laufend abgesaugt wur- den. Anstieg oder Abfall der Radioaktivität gab Auf- schluß über Maß und Schnelligkeit des Blutstroms. „Auf- grund der theoretischen Basis" erwarteten die Autoren unter anderem einen „verminderten Durchfluß durch die Kranzgefäße" infolge der festgestellten Verengungen und Verschlüsse.

Und das Ergebnis?

"Die Kurven über den koronaren Durchfluß brachten keine Unterscheidung zwischen Patienten mit Koronar- erkrankung und normalen Versuchspersonen, weder in Ruhe noch bei Belastung, und standen in keinem Verhält- nis zur Gestalt der Gefäße und zur Ausdehnung der

Erkrankung."

Das heißt: auch schwere Verengungen und Verschlüsse der Kranzgefäße führten zu keiner Verminderung der Gesamtdurchblutung des Herzens, ja sie unterschied sich in der Blutmenge nicht von der Gesunder. Die Behaup- tung, daß Arteriosklerose zu Blutmangel im Herzen führt, fand in dieser Untersuchung keine Stütze. Auch andere Experimentatoren kamen zu dem gleichen Ergebnis.

Aber wurde die Arteriosklerose deswegen mangels Be- weisen freigesprochen von der Anschuldigung, Blutmangel im Herzen und dadurch Infarkte zu verursachen? In Heidelberg begnügte sich die Fachwelt weiterhin mit der

Demonstration des ersten Augenscheins. Die lautstarken Wortführer gegen Dr. Kern wußten geschickt zu kaschie- ren, wie dünn das Eis eigentlich war, auf dem sie ihr Schaulaufen veranstalteten.

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5.Ein Professor gibt Rätsel auf

Dr. Cornelius Heyde wartete auf sein Stichwort. Er brannte darauf, die Diskussion auf die Bedeutung der Blutgerinnsel in den Herzkranzgefäßen zu steuern, um dem Gespräch endlich eine Wende zu geben. Dr. Kern hatte schon zu viel Boden preisgegeben — es war zu befürchten, daß seine Bastion bald gänzlich überrannt wurde.

Als Dr. Heyde das Wort erhielt und an das Mikrofon trat, hielt er ein Schriftstück in der Hand. „Den Ausfüh- rungen von Herrn Professor Doerr war zu entnehmen, daß er die Thrombose als Ursache des Infarkts ansieht", sagte er. Ich kann aber eine Briefstelle zitieren, und zwar aus einem Brief von Herrn Professor Doerr an Herrn Dr. Kern vom 4. 6. 1968." Dr. Heyde las vom

Blatt ab:

„Es hat sich zeigen lassen, daß, wenn man bei den Todesfällen nach Myokardinfarkt möglichst bald nach

Obduktion seziert, dann keine Thrombose im üblichen Sinn gefunden werden kann." Dr. Heyde hob seine Stim- me für den wichtigsten Teil des Briefes:

„Die Häufigkeit sogenannter thrombotischer Koronar- verschlüsse wächst mit der Länge der Zeit zwischen erstem Beginn der Infarkt-Nekrobiose und Todeseintritt. Die Thrombose entsteht diskordant an mehreren Stellen gleich- zeitig, jedoch wahrscheinlich sekundär, also nicht initiie- rend verschließend. Letzte Aussage ist ja entscheidend."

Die Auseinandersetzung war jetzt an dem Punkt an- gelangt, an dem sich erweisen mußte, ob hier nur ein Schauprozeß gegen einen ketzerischen Außenseiter ab- rollte oder ob es den Veranstaltern ernsthaft um eine Klä- rung strittiger Fragen der Infarktentstehung ging. Denn die Frage nach der Bedeutung der Blutgerinnsel war die

 

 

zentrale Frage nach dem Wert der Lehrmeinung, der offi- ziellen Theorie über den Herzinfarkt.

Mit der Gefäßverengung durch Arteriosklerose allein war ja kein Staat zu machen. Denn die Arteriosklerose führt zu keinem Gefäßverschluß, wenn es auch im kolla- bierten Zustand der Adern nach dem Tode manchmal so aussehen mag. Wie sehr der Augenschein hier trügt, hatte Dr. Kern an einem Beispiel aus der alten Literatur heraus- gestellt.

Einer der berühmtesten Arteriosklerose-Forscher berich- tete über eine Leichenöffnung, bei der er eine solche Ver- engung aller drei oberen Äste der vom Herzen wegfüh- renden Hauptschlagader feststellte, daß die winzige Rest- lücke in der früheren Gefäßlichtung nicht einmal für eine Schweinsborste durchgängig war. Solch eine Verlegung der Strombahn hätte aber zur Folge gehabt, daß dem Betrof- fenen der Kopf und beide Arme abgefault wären. Und da arteriosklerotische Prozesse sich sehr langsam entwik- keln, mußte die Gefäß Veränderung schon lange bestanden haben, was wiederum bedeutet, daß der lebende Leichnam jahrelang ohne Kopf herumgelaufen war.

Solch ein sarkastisches Zuendeführen irriger Vorstellun- gen hatte Dr. Kern viele Feindschaften eingebracht; jeder, der gegenteiliger Ansicht war wie der Autor, mußte sich lächerlich gemacht fühlen. Aber psychologisches Einfüh- lungsvermögen war nie die Sache Kerns gewesen. Es küm- merte ihn wenig, daß Wissenschaft von Menschen gemacht wird und daß die Widerlegung einer bestehenden An- schauung für deren Vertreter nie sehr erfreulich ist. Seinem Erkenntnisstreben schien es als unabdinglich, un- zweckmäßige Denkmodelle als unsinnig bloßzustellen. Und der lebende Leichnam mit dem abgefaulten Kopf war ihm ein besonders taugliches Beispiel, um die Arterio- sklerose-Theorie als Irrtum zu entlarven.

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„Zunahme der Blutgerinnsel - Zunahme der Infarkte"

Arteriosklerose, so zeigen Untersuchungen und Experi- mente, führt nicht etwa zum Stopp der Durchblutung, sondern zur Ausbildung von Blutbrücken, die einen voll funktionierenden Ersatzkreislauf aufbauen. Aber auch statistisch ist eine reine Arteriosklerose-Theorie der Infarkt- entstehung nicht haltbar, allein schon wegen der im Ver- gleich zum Herzinfarkt viel geringeren Zunahme der Arteriosklerose während der letzten Jahrzehnte.

Deshalb hatte auch Professor Gotthard Schettler, zu dieser Zeit Präsident der Deutschen Gesellschaft für In- nere Medizin und Initiator des Heidelberger Streitge- sprächs um den Herzinfarkt, heute Leiter des bundes- deutschen Forschungszentrums zur Bekämpfung des Herz- infarkts, ausdrücklich festgestellt: Es trifft ganz bestimmt zu, daß der Grad der Koronarsklerose nicht zugenommen hat, daß aber die Zahl und das Ausmaß der Thrombosen als den letztlich für den Gefäßverschluß verantwortlichen

Vorgängen doch ganz beträchtlich zugenommen hat."

Jetzt aber hatte Dr. Heyde ein Zitat ins Gespräch ge- bracht, nach dem ausgerechnet der Wortführer der Patho- logen, Professor Wilhelm Doerr, die Blutgerinnsel nicht als Ursache, sondern als Folge der Herzinfarkte kennzeichnete.

Doerr, dessen Wirkungsstätte wie die von Schettler in Heidelberg liegt, eilte ans Mikrofon: Ich bin etwas er- staunt, daß Herr Kollege Heyde einen von mir an Herrn Kollegen Kern gerichteten Brief zitiert", äußerte er vor- wurfsvoll. Sein Erstaunen mußte sich jedoch in Grenzen gehalten haben, denn er fuhr fort: „Ich habe mich sozu- sagen innerlich auf alles vorbereitet und die gesamte Kor- respondenz lückenlos mitgebracht.**

Das Protokoll der Diskussion vermerkt an dieser Stelle: Heiterkeit." Dieses beifällige Gelächter ist allerdings un- verständlich, denn die Bemerkung Professor Doerrs war weder sonderlich komisch noch bestechend geistreich. Es gewinnt nur dann einen Sinn, wenn man den Lachern unterstellt, es sei ihnen in dieser Situation weniger um die echte Diskussion als um Zustimmung gegangen, um die Anfeuerung eines der Ihren. Doerr sagte nach einer kleinen Pause: Der Brief ist übrigens richtig zitiert. Die Passage als solche stimmt." Er schien jetzt tatsächlich etwas aus der Fassung gebracht, gab einige belanglose Sätze von sich und kam dann wieder zur Sache: „Selbst- verständlich stehe ich zu meiner Aussage." Und nach einer Weile gestand er zu: „Ich ringe ständig um die Frage, wie alt der Thrombus ist. Sie wissen, daß das eine weltweit bewegende, wesentliche Frage ist."

Das Auditorium zeigte sich so unbewegt, als ginge es nur um irgendwelche langweiligen Kartenkunststücke. Dabei stellte Professor Doerr soeben die ganze Verschluß- Theorie in frage: „Wenn ich sehr bald obduzieren kann, ausnahmsweise, bin ich in der Tat gelegentlich enttäuscht. Ich habe den Eindruck, daß — wenn die Stunden zwi- schen dem ersten Ereignis und dem Tode etwas länger werden — die Anzahl der Thromben häufiger wird."

Doerrs Ausführungen entsprachen den Feststellungen anderer, nur daß sie ihre Angaben nicht auf „gelegentliche Enttäuschungen" stützten, sondern auf detaillierte, exakte Statistiken.

Eine Ursache kann nicht später auftreten als ihre Folgen

Aus einer New Yorker Studie über die Häufigkeit von Blutgerinnseln in den Kranzgefäßen von 568 Infarkttoten geht hervor, daß bei 303 Personen in 49 Fällen ein throm-

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botischer Verschluß gefunden wurde; das sind 16 Prozent. Zu beachten ist, daß dieser Personenkreis die Herzattacke nicht länger als eine Stunde überlebt hatte.

Anders sieht es bei jenen 65 Fällen aus, die den Infarkt bis zu 24 Stunden überlebten. 24 von ihnen hatten Blut- gerinnsel in den Koronarien; die Häufigkeit liegt hier schon bei 37 Prozent. Und bei jenen 200, die im Kranken- haus einen Tag oder länger überlebt hatten, wurden schon in 109 Fällen koronare Thromben festgestellt; das sind 54 Prozent. Die Autoren kommen deshalb zu dem Schluß, daß Blutgerinnsel eine sekundäre Manifestation", daß sie dem Infarkt also nicht vorausgehen, sondern dessen Folge sind.

Diese Ergebnisse wurden in der Folge bestätigt. Aber auch mit Hilfe einer anderen Methode konnte später ge- zeigt werden, daß sich Blutgerinnsel erst nach dem In- farkt bilden. Schwedische Forscher injizierten Patienten, die mit schweren Herzinfarkten in das Krankenhaus ein- geliefert wurden, radioaktiv markierte Eiweißstoffe, die nicht aus der Blutbahn ausgeschieden werden und sich in Gerinnseln wiederfinden müssen. Bei den Patienten, die starben, wurden daraufhin Blutgerinnsel in den Kranz- gefäßen gesucht und in aufgefundenen Thromben der Gehalt an Radioaktivität gemessen.

Bei allen sieben Patienten, die für diese Studie in Be- tracht kamen, fanden sich Thromben, die radioaktiv wa- ren. In sechs Fällen wurde die Radioaktivität in der gan- zen Thrombusmasse gemessen. Nur bei einem Patienten, dem die Isotopen erst zwei Tage nach klinisch diagnosti- ziertem Infarkt eingespritzt worden waren, war der Kern des Gerinnsels frei von Radioaktivität; ein kleiner Teil des Thrombus hatte sich also schon innerhalb der zwei Tage vor der Injektion entwickelt.

Alle Injektionen wurden nach Eintritt des Infarkts vor- genommen. Die durchgehende Radioaktivität der Throm- ben beweist, daß sie erst nach der Injektion entstanden sein können, also eindeutig jünger sein müssen als der Infarkt. Es ist mit den Gesetzen der Logik nicht zu ver- einbaren, daß eine Ursache später auftritt als das Ereignis, das sie bewirkt haben soll. Blutgerinnsel können demnach nicht die Ursachen des Infarkts sein, sondern allenfalls als dessen Folgen angesehen werden.

Professor Baroldi hat noch auf einen anderen Grund hingewiesen, weswegen Blutgerinnsel keine tödliche Ge- fahr darstellen können. Im spritzenden Blutstrom einer Arterie kann sich kein Blutgerinnsel bilden, erst recht nicht an der arteriosklerotisch verengten Stelle einer End- Arterie, denn dort wird der Blutstrom noch mehr be- schleunigt, wie sich ja auch in einem Fluß reißende Strom- schnellen bilden, sobald sich das Bett verengt. Erst wenn nach Erkrankung der Hauptader Umleitungsgefäße den Bluttransport übernommen haben, sinkt die Strömung dort so weit ab, daß sich die brüchigen, leicht zerreißlichen Thromben bilden können. Die Voraussetzung dafür ist nach einer Herzattacke besonders günstig, weil die zer- störten Muskelabschnitte nicht mehr mit Blut versorgt werden müssen. Das heißt: Blutgerinnsel können nur in solchen Arterien entstehen, die zu diesem Zeitpunkt an der Blutversorgung nur noch unwesentlich beteiligt sind.

Fortschritte der Forschung haben also die „zentrale Be- deutung" der Blutgerinnsel für die Entstehung des Herz- infarkts infrage gestellt. War Professor Doerr deshalb „enttäuscht", wenn er bei einem Infarkttoten keinen Thrombus finden konnte? Und warum aber hatte er dann in seinem Brief an Dr. Kern die „entscheidende Aussage" gemacht, daß die Thrombose nicht den infarktauslösenden

Verschluß darstelle? War es denkbar, daß ein Wissen-

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schaftler vom Rang und von der Fähigkeit des Heidel- berger Pathologen nebeneinander eine private und eine offizielle Wissenschaft vertrat?

Wenn ein Wissenschaftler zu liberal ist

In einem Jahr, so erklärte Professor Doerr als Antwort auf die Anfrage Dr. Hey des, würde man „sehr viel mehr über das Altersproblem des Thrombus aussagen können". Und er schloß nichtssagend: „Wollen wir die Korrespon- denz weiter austauschen? Ich bin gern dazu bereit.**

Man sollte Professor Doerr beim Wort nehmen. Es ist lohnend, sich mit seinen Schriften zu befassen.

In einem von ihm unterzeichneten Gutachten für das Sozialgericht Stuttgart ist zu lesen: „Die Koronararterie steht nicht mehr im Zentrum der Betrachtung und schon gar nicht am Anfang. Sie ist nur ein Glied in der Kette kausaler Zusammenhänge. Neben entzündlichen und stoff- wechselchemischen Prozessen beginnen Streß, Katechol- amine und Herznerven zunehmend an Beachtung zu ge- winnen. Alle diese Faktoren können eine wie auch immer geartete Schädigung der Myokardfaser — von Kern Dys- thesie genannt — bewirken, die rückschreitend über eine Vergrößerung der Nekroseherdchen und sekundär auf- steigende Thrombose schließlich zur Katastrophe führt. In seiner letzten Konsequenz wäre dies sogar die Umkeh- rung des alten Infarktbegriffs."

Das entspricht in etwa jener Aussage, die er am 12.10. 1971, also fünf Wochen früher, in einem Brief an Profes- sor von Ardenne gemacht hatte: „Ihre interessanten Ar- beiten (zusammen mit B. Kern) haben mich natürlich sehr bewegt. Sie bestätigen vieles, was ich — gelegentlich — äußerte. Auch "meine ich, daß meine Ausführungen im ,Handbuch der Allgemeinen Pathologie* prinzipiell in Ihrer Linie liegen."

Von dieser Linie war er auf der „Molkenkur" wieder abgewichen. Er habe guten Willen gezeigt, betonte er, einen Herzinfarkt in dem von Kern vertretenen Sinne zu finden, aber vergeblich. Er und seine Kollegen hätten noch nie einen Infarkt gesehen, der „nicht koronarogen er- zeugt" worden sei.

Wie heißt es dagegen in der Zusammenfassung seines Grundsatzgutachtens zu diesem Problem? „Es gibt mit großer Wahrscheinlichkeit auch Infarkte, die aus in der

Herzmuskulatur selber gelegenen Gründen entstehen."

Wie schrieb er in einem seiner Briefe an den „lieben Collegen" Dr. Kern? „Daß es Jnfarkt-Äquivalente* gibt, welche nicht zirkulatorisch hervorgerufen werden, betone ich ständig."

Die Motive von Professor Doerr sind schwer zu be- urteilen. Was immer zu seinen widersprüchlichen Aus- sagen geführt haben mag — das Bild, das er von der Ent- stehung des Herzinfarkts entwirft, will etwas schwankend erscheinen. Allerdings teilte er später brieflich mit, er habe seine eigene Stellungnahme in Heidelberg nicht ver- öffentlicht, „weil einer der anwesenden Pathologen nicht einverstanden war. Ich schien ihm zu liberal."

Die Medizin von heute ist auf naturwissenschaftliche Exaktheit ausgerichtet, „an Maß und Zahl" orientiert, wie es Moderator Professor Wollheim formulierte. Ihre Erkenntnisse und die daraus abgeleiteten Gesetzmäßig- keiten können nur richtig oder unrichtig, aber niemals autoritären oder liberalen Moderichtungen unterworfen sein. Wenn aber in Heidelberg persönliche Einflußnahme solch eine Rolle spielte, dann erhebt sich die Frage, was der Lehrsatz vom Gefäßverschluß als Infarktursache eigentlich für einen wissenschaftlichen Stellenwert hat.

120

 

121

DI

E ZUNAHME

 

DER HERZINFARKTE

 

LEHRSATZ

 

Die Arteriosklerose hat in den letzten Jahrzehnte

n

 

nicht zugenommen. Die Zunahme der Herzinfarkte

 

ist in der Zunahme der Blutgerinnsel begründet.

 

KERN

-

SATZ

 

Blutgerinnsel sind erst die Folgen, nicht aber die Ur

-

 

sachen von Infarkten. Deshalb kann die Zunahme

 

der

Herzinfarkte

aus

der

Gefäßtheorie

nicht

be

-

 

gründet werden.

 

 
 

 

6.Und sie verschließt sich doch!

Das Zitat des Briefes von Professor Doerr hatte einen Augenblick lang ahnen lassen, wie rissig das Fundament war, auf dem das Lehrgebäude von der Infarktentstehung gebaut war, wie mühselig die Fugen verkittet waren. Pro- fessor Wollheim war gut beraten gewesen, daß er es ab- gelehnt hatte, sich in der Gesprächsleitung abzuwechseln. So konnte er in dieser Situation dafür sorgen, daß keine

Zeit zum näheren Hinsehen blieb. Er erteilte anderen Pathologen das Wort, und deren Statistiken über Gefäß- verschlüsse durch Blutgerinnsel kamen so zur Geltung, daß kein Zweifel mehr bleiben konnte an den „Throm- bosen als den letztlich für den Gefäßverschluß verant- wortlichen Vorgängen*.

Und Dr. Kern? Warum griff er nicht ein? Warum nahm er die Aussage Professor Doerrs, daß heute kein Patho- loge der Welt genaue Angaben über das Alter eines Thrombus machen könne, nicht auf? Die eingestandene Unwissenheit hinderte die Vortragenden nämlich keines- wegs daran, die Blutgerinnsel älter zu deuten als die Infarkte, um sie als deren Ursache präsentieren zu können.

Wenn er nicht wissenschaftlichen Selbstmord begehen wollte, mußte Dr. Kern auf der weiteren Diskussion die- ses Punktes beharren. Entweder gelang es ihm zu diesem Zeitpunkt, die Sprengung der Fundamente einzuleiten, indem er die Brisanz dieser Streitfrage zu nutzen wußte, oder er mußte damit rechnen, daß er für den Rest des Tages nur noch auf der Flucht sein werde, in immer neue Widersprüche verwickelt.

Aber Dr. Kern blieb stumm. Er hörte verschreckt mit an, wie die Blutgerinnsel wieder ins Zentrum der Kata- strophe gerückt wurden, und er schenkte auch dem Drän- gen der mit ihm gekommenen Ärzte keine Aufmerksam-

122

keit, jetzt endlich unter Protest den Saal zu verlassen: „Die wissenschaftliche Diskussion ist doch nur ein Vor- wand!" — „Das ist doch ein abgekartetes Spiel!" —

„Gehen wir!" — „Herr Kern, worauf warten Sie noch?**

Es blieb unerfindlich, worauf er wartete. Gebannt, wie das Kaninchen vor der Schlange, saß er auf seinem Sessel, sprach er beschwörend in das Mikrofon. Später konnte er in der Fachpresse nachlesen, wie widerstandslos er sich in die aufgezwungene Rolle hatte pressen lassen, ein Hans- wurst, dem nur ein paar unpassende Extempores gestattet waren. Das Heidelberger Symposium, so eines der Fach- blätter, habe „eher einem Schauprozeß** geglichen. Denn „um Kern faktisch zu widerlegen, hätte es dieser Veran- staltung nicht bedurft".

„Nein, es ging nicht darum, die Thesen des Außen- seiters zu widerlegen, sondern darum, der aufgeschreckten Öffentlichkeit die »größte Sensation der Medizin*... als Bluff zu entlarven**, konstatierte ein anderer Autor.

„Stand nicht von Anfang an vom wissenschaftlichen

Standpunkt aus die Haltlosigkeit der Kernschen Kern-

Punkte fest?**

Nicht ohne Bewunderung erkannte deshalb ein anderer Kommentator als richtig an, daß „die Gewaltigen der medizinischen Wissenschaft einen kleinen Außenseiter und dessen gläubige Schar zermalmten**.

Es ging bei der Infarktdiskussion auf der „Molkenkur** also nicht in erster Linie um Fakten und um die Wahr- heit. Folgt man der Fachpresse, dann war es eher eine spiritistische Sitzung mit Knalleffekten: „Wenn die Schul- medizin als existentes Phänomen auch kaum jemals ding- fest zu machen wäre, hindert das offenbar doch nicht, daß sich die Geister hin und wieder einmal überraschend materialisieren und dann mit schulmeisterlichem Hieb durchaus fühlbar zuschlagen können.**

123

Die Prügelstrafe für den unbotmäßigen Außenseiter, ein Racheakt — ging es wirklich nur darum? Sicherlich noch um einiges mehr, zum Beispiel um die „wissenschaft- lich bewiesenen, abgesicherten und international aner- kannten Dogmen der Lehrmedizin über den Infarkt". Einer der Diskussionsredner sprach es in aller Klarheit aus: „Ich glaube, wir müssen hier zu einer gemeinsamen Basis kommen und sagen, wovon wir reden. Wir reden hier vom Infarkt, von der Koronarerkrankung."

Infarkt ist gleich Koronarerkrankung. Alles andere ist unwissenschaftlich. Kerns Gegner sprachen damit unum- wunden aus, daß es für sie keine andere Gesprächsebene geben konnte als die, auf welche sie sich von vornherein festgelegt hatten. Eine Diskussion war mithin weder mög- lich noch beabsichtigt.

Es wäre also zu einfach, in dem Heidelberger Sympo- sium vom 19. 11. 1971 nur einen Racheakt zu sehen. Gleichzeitig wurde auch ein verblassendes Dogma zu neuem Glanz aufpoliert. Die Verstopfung der Kranz- arterie hatte ihre zentrale Bedeutung wiedererlangt: Und sie verschließt sich doch! 124

125

1.

 

HEIDELBERGER DOGMA

 

Ursache

der

Herzinfarkte

ist

aus

-

 

schließlich Arte

r

iosklerose der Herz

-

 

kranzgefäße

mit

oder

ohne

Blut

-

 

gerinnsel. Herzinfarkte durch Stö

-

 

rungen des Herzstoffwechsels ohne

 

Beteiligung der Gefäße gibt es nicht.

 

 
 

 

III. Kapitel Bis alles in Scherben fällt

Gesundheit - ein Monopol der Spezialisten

Aus dem Hintergrund schob sich ein schlanker, modisch gekleideter Mann Reihe um Reihe nach vorn. Als habe er auf ein Stichwort gewartet, sprang er plötzlich auf und schritt zu einem der Mikrofone. „Ich möchte eigentlich die Diskussion noch einmal anheizen. Mir scheint das ganze jetzt allmählich zu verwässern, als wenn die Dinge harm- los seien, die Herr Kern behauptet hat", begann der Kas- seler Chefarzt Professor Rolf Heinecker.

Die Szene wurde zum Tribunal. Nachdem zuerst die Pathologen Dr. Kerns Theorie von der Infarktentstehung zerfetzt hatten, war danach auch seine Behauptung, daß unter der Strophanthin-Therapie keine Todesfälle aufge- treten seien, scheinbar unhaltbar geworden: „Herr Kern, es glaubt Ihnen keiner, daß Sie unter Ihrer Klientel keinen Todesfall durch Herzinfarkt gehabt haben." Damit machte sich Professor Heinecker ebenfalls zum Sprecher der Widersacher. „Sagen wir das ganz hochdeutsch."

Der Kliniker konnte Dr. Kern frank und frei der Un- wahrheit bezichtigen. Denn an diesem Nachmittag war den Fragen der Statistik besondere Bedeutung zugemessen worden, und die Statistiker leisteten ganze Arbeit. Sie hatten Dr. Kerns Angaben ad absurdum geführt und da- mit die letzten Voraussetzungen für eine vernichtende

Aburteilung geliefert. Dr. Kern hatte im Laufe der jahre-

129

langen Diskussionen den allgemein unbefriedigenden Er- gebnissen der Infarkt-Verhütung seine eigenen Erfolge gegenübergestellt und seine Theorie mit dem Hinweis ver- teidigt: „Wer heilt, hat recht." Die häufige Wiederholung dieses Spruches schlug ihm jetzt zum Unheil aus.

Einen Arzt trifft nichts härter als seine Hilflosigkeit gegenüber einer Krankheit. Offen oder uneingestanden er- füllen ihn in solch einem Fall bittere Zweifel an sich und seiner Behandlungsmethode. Werden aber Gewissensbisse oder Selbstanklagen durch Vorwürfe von anderer Seite intensiviert, muß man auf vehemente Reaktionen gefaßt sein. Der Betroffene überträgt seine Schuldgefühle aggres- siv auf den Ankläger. Diese Erfahrung machte auch Kern.

„Die These ,Wer heilt, hat recht* ist genau so bestechend wie richtig, hat jedoch zur obligaten Voraussetzung, daß objektiv nachgewiesen wird, daß geheilt oder vorgebeugt wurde!" hatte ihm Professor Gillmann kurz vor Heidel- berg zu bedenken gegeben. Er sehe sich zu der Annahme gezwungen, daß „Kern und sein Arbeitskreis einfach über- fordert war, eine solche objektive Analyse von inzwischen 100 000 Fällen durchzuführen". Das komplizierte Verfah- ren einer medizinischen Dokumentation hatte Dr. Kern lange davor zurückschrecken lassen, eine Statistik seiner Behandlungserfolge zu veröffentlichen. Weil ihm dies im- mer wieder als gravierender Mangel vorgehalten worden war, hatte er sich dafür entschieden, in sein 1969 erschiene- nes Hauptwerk „Der Myokardinfarkt" eine Überschlags- rechnung aufzunehmen: „Das wichtigste, auffallendste, auch statistisch exakt faßbare Ergebnis unserer Myokard- Euthetisierung (Wiederherstellung der Herzgesundheit) ist das bisher vollständige Ausbleiben tödlicher Herzinfarkte. Solange die 15 000 Herzkranken unter dieser Euthetisie- rung standen, ist kein einziger von ihnen in diesen 21 Jah- ren einem tödlichen Infarkt erlegen."

130

Die zerfledderte Statistik

Zum Vergleich hatte Dr. Kern die Sterbestatistik der Bundesrepublik Deutschland herangezogen. Danach wä- ren, so Dr. Kern, in seiner Praxis etwa 70 Infarkttodes- fälle zu erwarten gewesen, genaugenommen sogar 120 bis 130, denn seine Klientel weise eine viel höhere Infarkt- gefährdung auf als der gleichaltrige Bevölkerungsdurch- schnitt. Die Strophanthin-Therapie habe bewirkt, daß statt 70 oder 130 Infarkt-Todesfällen kein einziger auf- getreten sei. Null zu 130 — müsse eine statistische Signi- fikanz noch deutlicher sein, um die Aufmerksamkeit auf diese Behandlungsmethode zu lenken? Signalisierten sol- che Zahlen nicht den Sieg über eine Krankheit, gegen die es bisher kein Mittel gab?

Doch das von Professor Schettler herausgegebene „Deut- sche Medizinische Journal" hatte ihm eine „naiv zu nen- nende Handhabung der Statistik** vorgeworfen. Es handle sich „um irreführende Angaben, daß durch seine Behand- lungsmethoden noch kein einziger Infarkt aufgetreten sei". An gleicher Stelle rechnete ein zweiter Autor vor, daß das Ausbleiben von Infarkten bei Dr. Kerns Patien- ten zu den von der Statistik sogenannten „seltenen Er- eignissen" zu rechnen sei und damit als Zufall eingestuft werden müsse. Aus diesen und anderen Gründen „erüb- rige es sich, weiter auf die Beobachtungsreihe und die Schlußfolgerungen einzugehen".

Seither war Dr. Kern von der Fachwelt bei jedem An- laß „das Fehlen einer Dokumentation" vorgeworfen wor- den. Er wußte, daß dieser Punkt in der Auseinanderset- zung eine entscheidende Rolle spielen würde, und er hatte sich vorbereitet. Zusammen mit Spezialisten hatte er eine Entgegnung ausgearbeitet, in der er die Vorwürfe des

Statistikers Immich im „Deutschen Medizinischen Jour-

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nal* Punkt für Punkt auszuräumen versuchte. Vor allem wies er darauf hin, daß „die Verfahrensweise des Rezen- senten eine bestimmte Absicht vermuten" lasse:

Er habe versucht, mit Hilfe von-Zahlenspielereien das Ausbleiben von Herzinfarkten in seiner Klientel als sta- tistischen Zufall zu bagatellisieren. Zudem würden Dar- stellungs- und Rechenfehler darauf hindeuten, mit wel- cher Sorglosigkeit Kritiker Immich zu Werke gegangen sei.

Nachdem sich das Auditorium bisher so kritisch gezeigt hatte, mußte man eigentlich erwarten, daß es sich mit sol- chen schweren Vorwürfen auseinandersetzen werde. Aber die von Dr. Kern aufgedeckten Fehler nahm man über- haupt nicht zur Kenntnis, das Kapitel Immich wurde mit ein paar nebensächlichen Erklärungen übergangen. Selbst- kritik war nicht eingeplant.

Stattdessen hatte man andere Ansatzpunkte gesucht und gefunden, um Dr. Kerns Zahlenwerk zu widerlegen. Denn dieser hatte zwar von null Todesfällen an Infarkten gesprochen, aber außerdem angeführt, daß 179 seiner Pa- tienten aus anderen Ursachen gestorben waren. Professor Koller nutzte das:

Es ist einfach unmöglich, daß in der Klientel, so wie Sie sie beschrieben haben und bei 50000 Beobachtungs- jahren, nur 179 Sterbefälle aus allen Ursachen vorgekom- men sein können. Es sind etwa 600, 800 bis 1000 zu er- warten, ohne Unfälle, Vergiftungen usw. Daraus geht für mich hervor, daß aus Ihren eigenen Zahlen klar erwiesen ist, daß Sie in Ihrer Kartei, in Ihrer Dokumentation, eine massive Untererfassung der Sterbefälle haben. Daraus geht natürlich auch hervor, daß die Nullzahl der Infarkt- Todesfälle keine wissenschaftliche Informationsbedeutung haben kann."

Der abschließende Satz des angesehenen Fachmannes sollte für Dr. Kern vernichtend sein: Ich kann als Sta-

132

tistiker die Zahlen, die Sie angeben, nicht als Grundlage einer Erfolgsstatistik oder gar als eine durchgeführte Er- folgsstatistik anerkennen."

Ich lege immer Wert darauf — während der Behand- lung. Das ist ungefähr vergleichbar mit der Insulin- Behandlung", versuchte sich Dr. Kern noch zu rechtferti- gen. „Ein komagefährdeter Diabeter kann mit Insulin koma-frei gehalten werden. Wenn aber diese Therapie ab- gesetzt wird, kann mal wieder ein Koma passieren. Darum lege ich Wert darauf: während dieser Therapie!"

Aber solchen »Einwänden** wußte Professor Koller kühl zu begegnen: „Sie haben allerdings eben gesagt: Die standen dann nicht mehr unter meiner Therapie — was danach folgt, nach Abbruch dieser Therapie, verfolge ich nicht. Das ist ein Grundproblem, gegenüber dem die Sta- tistik entscheidende Bedenken anmelden muß; denn wir können nicht nur beschränkte Beobachtungszeiten unter Kontrolle nehmen, sondern müssen grundsätzlich den Gesamtverlauf, soweit er beobachtbar ist, und den Nach- weis des Weiteren immer in Betracht ziehen."

Dem Ketzer die Beweislast

Die Vertreter der Schulmedizin hatten ihren Widersacher so gründlich in die Mache genommen, daß sie zu diesem Zeitpunkt — ohne das Gesicht zu verlieren — ihren guten Willen hätten zeigen und dabei sogar noch ihre Über- legenheit hätten demonstrieren können. Wie sieht eine statistische Dokumentation aus, die Gnade vor der Fach- welt finden kann?

Auch der Ulmer Statistiker Professor Uberla hatte we- gen von ihm festgestellter methodischer Mängel den

Schluß gezogen:Man kann aufgrund des vorliegenden

133

Materials nicht behaupten, daß die orale Gabe von Stro- phanthin den Herzinfarkt verhütet." Aber er hatte ein- geräumt: „Das Gegenteil ist auch nicht bewiesen", und einen Weg zur Zusammenarbeit ins. Gespräch gebracht:

Deshalb greife ich die Anregung dankbar auf, eine Studie von neutralen Epidemiologen und Statistikern ma- chen zu lassen. Ich stelle die Informationen, die wir in diesem Fach haben, dazu gern zur Verfügung, mit der innerhalb relativ kurzer Zeit Ihre Hypothese überprüft werden kann."

Nachprüfung innerhalb relativ kurzer Zeit — sollte das wirklich möglich sein? Sollte dieses Ketzergericht doch noch eine Wende zu fruchtbarer Diskussion erfahren? Tat sich nach all dem Zerreden und unfruchtbaren Negieren ein Weg zur Gemeinsamkeit auf?

Professor Gillmann schien den ersten Schritt tun zu wollen: Man könnte sehen, ob man zu einem Arbeits- programm kommt, wie Herr Überla festgestellt hat, viel- leicht im Stuttgarter oder im Tübinger Bereich, wo tat- sächlich sehr präzise mit Kontrollgruppen vorgegangen wird. Das ist eine Sache, die freilich über längere Zeit ver- folgt werden müßte."

Dr. Kern griff hoffnungsvoll nach der ihm überraschend entgegengestreckten Hand: „Ausgezeichnet! Das ist ja das, was ich seit zwanzig Jahren anstrebe." Professor Gill- mann machte jedoch unmißverständlich klar: „Aber davor steht die Sicherung Ihrer eigenen statistischen Unterlagen,

Herr Doktor Kern!"

Wieder zeigte sich die Absicht, Dr. Kern die ganze Beweislast zuzuschieben, und man tat alles, um ihm diese Bürde schwer werden zu lassen.

Spätere kritische Würdigungen der Heidelberger De- batte über das Für und Wider von Dr. Kerns Statistik kamen zu ganz anderen Ergebnissen, als Professor Koller

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und seine Freunde sie geboten hatten. Da es aber nicht jedermanns Sache ist, sich mit dieser trockenen Materie auseinanderzusetzen, sei auf den Anhang verwiesen. Der Interessierte kann Details dort nachlesen.

88 Prozent der Infarkte verhütet

Zusammenfassend nur soviel: Dr. Kern konnte nicht 800 Sterbefälle, darunter sämtliche Infarkte übersehen haben.

Außerdem ist es völlig unrealistisch, daß sämtliche 400

Kranke, die nach statistischer Wahrscheinlichkeit einen

Infarkt hätten erleiden müssen, sich rechtzeitig aus dem Staube gemacht haben. Selbst bei Annahme einer unwahr- scheinlich großen Dunkelziffer wäre das eindeutige Ergeb- nis, daß Dr. Kerns Therapie 88 Prozent der tödlichen Infarkte verhütete.

In dem von den Professoren herausgegebenen Kommu- nique über die „Heidelberger Klausurtagung" heißt es dagegen: „Es ist ungeheuerlich, daß Kern seine Behaup- tungen auf eine derart ungenügende Dokumentation grün- det." Professor Max Josef Halhuber, dessen Klinik die "Wiederherstellung Infarktkranker zum Ziele hat, verdeut- lichte in Heidelberg, unter welchen Voraussetzungen eine Statistik anerkannt werden könnte. Er gestand zu, daß solch ein Unterfangen „unerhört schwierig und aufwen- dig" ist: „Ich möchte sagen, daß etwa 15 bis 20 Millionen Mark zur Durchführung einer solchen Prospektivstudie zur Verfügung stehen müssen, so daß vielleicht einer, der in der Praxis steht, dabei überfordert ist."

Wer aber vor einer Summe von 20 Millionen kapitu- lieren muß, hat gefälligst stillzuhalten. Denn das würde „natürlich zur Folge haben, daß er dann keine Hypothese aufstellt, oder er läßt sie durch Kliniker überprüfen",

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wie Professor Halhuber unmißverständlich klarstellte. Das heißt: Das Schicksal der Kranken liegt in den Hän- den der Universitäts-Kliniker, sie allein entscheiden dar- über, ob und welche Veränderungen" in der Medizin Zu- standekommen. Nur die Zustimmung jener Spezialisten, die von der Öffentlichkeit mit finanziellen Mitteln, mit entsprechenden Einrichtungen und mit personeller Unter- stützung ausgestattet sind, ist also ausschlaggebend dafür, was erforscht und was als Fortschritt anerkannt wird.

„Wir sind nicht bereit!"

Dr. Kern waren mit aller Härte die bestehenden Macht- verhältnisse vor Augen geführt worden. Solange er keine Millionen-Dokumentation vorlegen konnte, stempelten ihn seine Behauptungen zum Scharlatan, der die Standes- ehre besudelt hatte.

Aber er wollte und konnte sich mit diesem Zerrbild von

Gesundheitspolitik nicht abfinden. Er nahm einen letzten Anlauf: „Ist hier in diesem ganzen Auditorium nicht ein einziger Kliniker, der auf diese Indizien hin einmal Ver- suche machen würde, einmal ausprobieren würde, ob man es machen könnte?"

Herr Kern, ich bin nicht dazu bereit.* Professor Schettler antwortete für alle, er tat es unter dem Beifall aller. Keiner widersprach, als er im Brustton der Über- zeugung kundtat: „Man kann nicht mit gutem Gewissen mit einer solchen Substanz arbeiten. Das lehne ich ab!"

Dieser Ausbruch ärztlicher Ethik brachte die Entschei- dung. Im zusammenfassenden Kommunique heißt es: „Die anwesenden Wissenschaftler sind der Auffassung, daß es unverantwortlich ist, wenn die Thesen von Dr.

Kern in der Öffentlichkeit weiter verbreitet werden, be-

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vor durch eine prospektive, kontrollierte Untersuchung ihr Wahrheitsgehalt hinreichend nachgewiesen ist."

Weil der eine nicht kann und die anderen nicht wollen, ist orales Strophanthin also offiziell tabu.

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2. „Die verhinderte Infarkt-Verhütung"

Wenn Dr. Kern von jemandem lernen konnte, wie man sich und sein Anliegen wirksam in Szene setzt, dann von dem, den er selbst als seinen hauptsächlichen Gegenspieler betrachtete: von Professor Gotthard Schettler, dem „mit Ämtern beladenen* Heidelberger Klinikchef, zur Zeit der

Tagung auf der „Molkenkur* Präsident der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin. Er trat an einen Foto- grafen heran und sagte so laut, daß er im ganzen Saal verstanden werden konnte:

„Aber ich muß Ihnen sagen, lieber Herr, mich stört es ungemein, daß Sie hier im Auftrage der ,Bunten Illu- strierten* laufend fotografieren. Wir wollen hier nämlich keinen Publikationsrummel haben."

Und dann setzte er dem Auditorium sein ganzes Unge- mach auseinander: „Ich muß sagen, ich fühle mich recht unbehaglich. Ich weiß, wer hier manipuliert worden ist. Ich möchte Ihnen sagen, wie ich in ,Report* manipuliert worden bin, und ich kann das nachweisen. Ich möchte also nicht wieder in den Publikationen manipuliert wer- den, zum Beispiel in der ,Bunten Illustrierten*. Ich weiß, daß ich jetzt etwas Gefährliches sage; denn ich bin diesen Dingen ja ausgeliefert. Man wird mich wieder als Kron- zeugen gegen Kern, als einzigen, herauspicken und wird mich entsprechend herausstellen.**

Wie man es auch dreht und wendet, man kommt tat- sächlich nicht an Professor Schettler vorbei. So äußerte er in Heidelberg über orales Strophanthin, er lehne es ab, „mit gutem Gewissen mit solch einer Substanz" zu arbei- ten. „Das habe ich damals in »Report* gesagt. Das hat man geschnitten, obwohl es mir das wichtigste Anliegen war." Er könne nachweisen, wie er manipuliert worden sei.

Diese Behauptung ist unrichtig. Wahr ist vielmehr, daß

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Professor Schettler den angebotenen Beweis nicht antreten kann. Hier das Originalzitat aus dem gesendeten Text von „Report München": „... aber ich persönlich bin über- zeugt, daß die verwendete Substanz — es geht um orales, also durch Tablettenform angebotenes Strophanthin —, daß das nutz- und sinnlos sowohl in der Vorsorge für Herzkrankheiten als auch in der Behandlung von Herz- krankheiten ist."

Der Text der Sendung lag Professor Schettler nach eige- ner Aussage schon vor der Heidelberger Diskussion vor. Er hatte sich davon überzeugen können, daß sein ihm wichtigstes Anliegen keinem Schnitt zum Opfer gefallen war. Er behauptete es dennoch. Das Auditorium hörte es, das Auditorium glaubte es, das Auditorium folgte ihm um so williger, als er pathetisch erklärte: „Aber ich fühle mich als Arzt und Wissenschaftler verpflichtet, hier nun Stellung zu nehmen." Als der starke Beifall abgeklungen war, betonte er nochmals: „Ich muß Ihnen das einmal sagen!" Zwischenrufe („Da haben Sie recht, Herr Schett- ler !") bestärkten ihn, in seinem Monolog fortzufahren. Er nützte die Gunst des Augenblicks, um Dr. Kern persönlich anzugreifen:

„Außerdem möchte ich auf noch etwas hinweisen. Hier werden laufend ganz präzise Fragen gestellt. Diese Fragen werden samt und sonders nicht beantwortet."

Beifall unterbrach ihn. Professor Schettler steigerte sich: Sie werden vom Tisch gewischt durch larmoyante Erklä- rungen, wie wichtig das ja sei; uns allen liege ja das Wohl der Patienten am Herzen — das ist eine Selbstverständ- lichkeit! Hier geht es um eine wissenschaftliche Dokumen- tation — deswegen haben wir Sie hierher gebeten —, nicht um irgendeine rechthaberische Argumentation. Wir wollen unser Material auf den Tisch legen. Wir haben uns nur auf die von Ihnen — wörtlich — gebrachten Zitate

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bezogen, die hier zur Debatte stehen, nichts anderes! Wir haben nichts sonst ins Gespräch gebracht. Aber wir dürfen noch hoffen, daß diese Dinge, die jetzt im Raum stehen, auch präzise Punkt für Punkt beantwortet werden. Das ist das, was ich für meine Person wünsche." Und an die Zuhörer gewandt fragte er mit rhetorischer Geste: „Ich weiß nicht, ob ich mit dem Auditorium übereinstimme." Der erneute Beifall bezeugte ebenso, daß man sich in der Zwischenzeit ganz unter sich fühlte, wie der Kommentar vom Moderator Professor Wollheim: „Sie stimmen mit

Sicherheit mit dem Auditorium überein."

„Fett schwimmt immer oben"

Professor Schüttlers Attacke war ein später Konterschlag auf die zu Beginn der Tagung von Dr. Kern ausgespro- chenen Begrüßungsworte, in denen er die Fehde zwischen ihm und Professor Schettler sofort aufgegriffen hatte: „Insbesondere versuchte die Internationale Gesellschaft für Infarktbekämpfung in den letzten dreieinhalb Jahren, mit Herrn Kollegen Schettler ins Gespräch zu kommen. Es hat sich immer mehr herausgestellt, daß in der Öffent- lichkeit der Eindruck entstanden ist, als gehe es hier um einen persönlichen Streit Schettlers kontra Kern."

Jetzt demonstrierte Professor Schettler seinem Kontra- henten, warum auch er auf die Stunde der persönlichen Auseinandersetzung gewartet hatte. Zuviel hatte sich zwi- schen beiden aufgestaut, dem einflußreichen Bewahrer des Bestehenden und dem revolutionären Außenseiter. Wenn zum Beispiel Professor Schettler auf einem Kongreß er- klärt hatte „I am a lipid man" (Ich bin ein Fachmann für den Fettstoffwechsel), dann hatte Dr. Kern sarkastisch kommentiert: „Ja, ja, Fett schwimmt immer oben." Und

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er hatte solche und ähnliche Äußerungen keineswegs hin- ter vorgehaltener Hand getan.

Unüberbrückbar aber war die Kluft seit jenem Fall Näher geworden, mit dem sich das Sozialgericht in Stutt- gart auseinandersetzen mußte. In diesem Rechtsstreit ging es darum, ob das Herzleiden des Kranken Folge einer Arteriosklerose gewesen sei. Ein Gutachten aus der Klinik Professor Schüttlers bejahte diese Frage und hob hervor: „Wir sind der Ansicht, daß man zum gegenwärtigen Zeit- punkt an den Vorstellungen der Schulmedizin festhalten muß."

Die Auseinandersetzung hatte damit grundsätzliche Be- deutung gewonnen. Im Hin und Her zwischen Gutachten und Gegengutachten mußte Professor Schettler zurück- stecken. Es ließ sich nämlich zeigen, daß das strittige Herzleiden nicht „auf die Grundlage einer allgemeinen Gefäßsklerose" zurückzuführen war, weil bei diesem Pa- tienten eine solche Sklerose nicht vorlag. Deshalb hieß es in der Urteilsbegründung, das Gericht könne sich des Ein- drucks nicht erwehren,

„daß trotz besserer, auch dem Laien einleuchtender Gegenargumente von den Heidelberger Gutachtern ver- mutlich aus akademischer Überheblichkeit zum Nachteil des Patienten an der sogenannten yLehrmeinung* der ySchulmedizin* festgehalten wird. Die ganze Schwäche des Heidelberger Gutachtens offenbart sich in der von Profes- sor Schettler selbst unterzeichneten Replik ..."

Dr. Kern hatte dieses „bahnbrechende Urteil", wie er es bezeichnete, ausführlich kommentiert und für seine Verbreitung gesorgt. In einer Sendung des Deutschland- funks bemerkte er 1970 dazu: „Die Bevölkerung, ,das Volk', hat seinen Forschungsbeamten das Grundrecht der akademischen Meinungsfreiheit zugleich verliehen und be- schränkt. Verliehen, damit die Forscher nicht ihrer Gel-

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tung und Laufbahn zuliebe längst widerlegte, doch weiter maßgebende Theorien zum Schaden der Kranken fortge- setzt befolgen; damit sie also endlich aus dem persönlichen Konflikt von Fortschritt und Fortkommen herausfinden mögen. Beschränkt wurde die Freiheit hierzu aber, damit ihre Diensterfüllung nicht mehr leiden dürfe unter schran- kenloser Beliebigkeit im Meinen, Behaupten, Bestreiten, Handeln oder Fehlhandeln. Damit ist eine Grenze gezo- gen zwischen Meinungsfreiheit und Wahrheitspflicht." yEin sehr sonderbarer Außenseiter'

Als Beispiel dafür, daß die Justiz „die wahrheitsgemäße Dienstpflichterfüllung der Medizinbeamten" kontrolliere, zitierte er das Gerichtsurteil gegen Schettler.

Der Kliniker hatte aber auch seinerseits alles getan, um Dr. Kern den Weg zu verbauen. In Gerichtsgutachten teilte er schonungslos seine Meinung über ihn mit. Rich- tig ist vielmehr, daß trotz entsprechender Propaganda des Herrn Dr. Kern die von ihm veröffentlichten Befunde in so hohem Maße unqualifiziert und abwegig sind, daß sie in ernsthaften Gremien nicht einmal als Möglichkeiten dis- kutiert werden", erläuterte er den Richtern. „Insgesamt muß man jedoch nach der Lektüre seiner Publikationen zu dem Schluß kommen, daß es sich um sehr sonderbare

Vorstellungen eines medizinischen Außenseiters handelt.**

Zu unterschiedlich waren die charakterliche Struktur und der wissenschaftliche Weg der beiden, um irgendwelche Gemeinsamkeiten zu eröffnen. Gotthard Schettler hatte als Student in Tübingen seine Arbeit über den „Cholesterinhaushalt der Maus" vorgelegt. Die Maus kreißte und gebar einen Berg, von dem böse Zungen behaupten, es sei der Butterberg. Denn inzwischen war Professor Schettler

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zum namhaftesten Fettstoffwechsel-Forscher und Arterio- sklerose-Experten des Landes avanciert.

Wollte Dr. Kern seiner Ansicht Geltung verschaffen, dann mußte er über ein schier unüberwindliches Massiv von Theorien und Doktrinen zur Entstehung von Arte- riosklerose und Herzinfarkt hinweg.

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3. Der Drahtzieher

Als Leiter des Medizin-Ressorts der Bunten Illustrierten" hatte ich immer wieder Berichte von Lesern auf den Tisch bekommen, die begeistert über die Strophanthin-Behand- lung des Dr. Berthold Kern berichteten. Gleichzeitig woll- ten sie wissen, aus welchen Gründen diese Therapie keine offizielle Förderung erfahre. Nach langem Hin und Her erhielt ich vom Bundesgesundheitsministerium in Bonn schließlich die Auskunft, daß Professor Schettler, Heidel- berg, seinen Einfluß geltend gemacht hatte, um Schritte von dieser Seite zu unterbinden.

Auf den Namen dieses Spitzenfunktionärs der Medizin war ich bei Beschäftigung mit diesem Thema schon mehr- fach gestoßen. Vor allem wurde er häufig als Gegengut- achter herangezogen, wenn sich einer der Patienten Dr. Kerns an ein Sozialgericht gewendet hatte. Auch war es das von ihm herausgegebene Deutsche Medizinische Jour- nal" gewesen, das mit zwei abwertenden Stellungnahmen offiziell zur Attacke gegen Dr. Kern übergegangen war. Und was er den Ärzten in seinem Fachblatt mitgeteilt hatte, legte er in Fernseh-Interviews der breiten Öffent- lichkeit dar.

Professor Schettler war also offensichtlich die richtige Instanz, um Hintergründe zu erfahren. Deshalb fragte ich schriftlich bei ihm an, ob es wirklich damit getan sei, neue Theorien einfach abzuqualifizieren; das Massensterben sei doch Anlaß genug, um alle Bestrebungen in die Über- legungen auf Abhilfe miteinzubeziehen.

Professor Schettler erklärte mir daraufhin, man müsse sich in der Wissenschaft davor hüten, attraktiv erscheinende Spekulationen als Tatsachen zu bezeichnen. „Herr Kollege Kern" sei den Beweis für seine Behauptungen schuldig geblieben. Überdies würde er selbst „das Problem

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des Myokardinfarkts nicht nur mit Aufmerksamkeit ver- folgen, sondern in Praxis und Experiment wissenschaftlich bearbeiten".

Ich schrieb zurück, daß ich die von seiner Schule zusam- mengetragenen Fakten über Stoffwechsel-Prozesse sehr zu schätzen wisse, und bedauerte: „Leider habe ich in meinen Unterlagen über Ihre Forschungen nur Material über Aus- wirkungen auf die Gefäße, nicht aber auf den Myokard selbst."

Professor Schettler stritt das rundweg ab. Man würde sich an seiner Klinik nicht „allein mit Stoffwechselfragen und Gefäßveränderungen befassen". Er machte auch vier Autoren namhaft, die bei ihm auf dem Gebiet des Herz- stoffwechsels gearbeitet hätten.

Ich versuchte, die briefliche Diskussion auf weitere strittige Fragen auszudehnen, wurde aber keiner Antwort mehr gewürdigt. Dafür bekam ich Antwort von den vier Herzstoffwechsel-Spezialisten, die ich um Sonderdrucke gebeten hatte.

Herrn Professors Märchenstunde

Der erste schrieb, daß er „in den letzten Jahren keine eigenen Untersuchungen über den Herzstoffwechsel durch- geführt habe". Der zweite informierte mich darüber, daß Publikationen zum Thema Herzstoffwechsel „von meiner Seite aus nicht vorliegen". Von dem dritten erfuhr ich:

„Leider muß sich bei dem Gespräch mit Herrn Professor Schettler insofern ein Mißverständnis eingeschlichen ha- ben, als ich selbst über das Thema Herzstoffwechsel nicht gearbeitet habe." Und der vierte sandte mir zwar einen Sonderdruck über den Herzstoffwechsel zu, aber es han- delte sich um Untersuchungen über Vorgänge nach dem

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Infarkt und nicht etwa um die zur Diskussion stehenden Prozesse, die zum Infarkt führten und die man zu ver- hindern trachten mußte.

Wozu diese falschen Hinweise? Glaubte Professor Schett- ler, mich so einfach loswerden zu können? Zu meiner Überraschung mußte ich jedoch erfahren, daß offensichlich doch nicht nur auf meiner Seite Interesse bestanden hatte. Eine der Sekretärinnen unseres Hauses erzählte mir, sie habe ein etwas ungewöhnliches Gespräch im Behandlungs- zimmer eines Arztes geführt. Nach einer Untersuchung im Städtischen Krankenhaus Offenburg habe sie der Leiter der Inneren Abteilung, Professor Dieter Herberg, gefragt: „Was für ein Mensch ist Herr Dr. Schmidsberger? Welche

Position und welchen Einfluß hat er? Hat er einen langen

Arm im Burda-Verlag?" Auf die erstaunte Frage nach der Bedeutung dieser Erkundigung erfuhr die junge Frau, daß die Bunte Illustrierte" sich eines heiklen Themas ange- nommen habe, aufgrund dessen „sich jemand angegriffen" fühle.

Die Sekretärin hatte von den Hintergründen keine Ahnung. Weil sie unbefangen wiedergab, was sie gehört hatte, war sie eine glaubhafte Zeugin. Ich zitiere ihre Aussage nach der damals niedergelegten Aktennotiz.

Erkundigungen nach dem Grund dieser Bespitzelung erbrachten einen interessanten Sachverhalt: Professor Her- berg kam aus der Universitätsklinik Heidelberg. Sein Ar- beitsplatz war früher bei Schettler gewesen.

Ich nahm mit Professor Herberg Verbindung auf. In einem persönlichen Gespräch spielte er die Aussagen der Sekretärin herab: Ein Kollege vom „Deutschen Medizini- schen Journal", der Professor Sdiettlers Briefe beantwortete, habe ihn in Heidelberg auf die Korrespondenz mit mir angesprochen. Nur deswegen habe er sich nach mir erkundigt.

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Audi ich begann mich jetzt nach Professor Schettler zu erkundigen, und die Auskünfte waren interessant genug. Zumindest konnte ich Dr. Kern in Hinkunft nicht mehr widersprechen, wenn er seine Überzeugung äußerte, daß dieser Mann der Drahtzieher hinter den Kulissen gegen ihn war. Er trat mit der ganzen Macht seines Einflusses und seiner Verbindungen dafür ein, daß die Lehre von der Entstehung des Herzinfarkts durch Arteriosklerose unangetastet blieb.

Zwar erklärte er in einem Interview mit der Tages- presse: „Es bleibt unerfindlich, wie Herr Kern behaupten kann, daß die Schulmedizin einzig und allein die Koro- nar-Arteriosklerose in Verbindung mit Blutgerinnseln (Thromben) für den Infarkt verantwortlich macht. Das

ist schlicht falsch."

Die Forscher schauen in die Röhre

Aber in einem Gerichtsgutachten bekannte er Farbe: „Da der Herzinfarkt ausschließlich auf dem Boden einer Arte- riosklerose zustandekommt, gelten für diese Leiden die- selben ätiologischen Vorbedingungen. Es handelt sich bei dem Herzinfarkt um einen Verschluß eines der Herz- kranzgefäße mit nachfolgendem Muskelzelluntergang in der von diesem Gefäß ursprünglich mit Blut versorgten

Region."

Getreu diesen Vorstellungen ist auch die Arbeit im

„Klinischen Institut zur Erforschung des Herzinfarktes Heidelberg" programmiert, dem Professor Schettler vor- steht. Die Bedeutung dieses Instituts läßt sich daran ab- lesen, daß es in der Öffentlichkeit als „deutsches Infarkt- zentrum" bezeichnet wird und daß Professor Schettler seinerseits dort die „Infarktforschung zentrieren" möchte.

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Erklärtes Ziel dieser Institution ist — wie könnte es unter diesen Voraussetzungen anders sein? — die Erfor- schung der Ursachen für die „koronare Herzkrankheit". Obgleich der Zusammenhang von Arteriosklerose und Herzinfarkt noch nie bewiesen wurde, also nichts weiter ist als — mit Professor Schettlers Worten — eine „attraktive Spekulation", werden Koronarsklerose und Herzinfarkt identifiziert.

Das bedeutet: hier bestimmen Dogmen das Programm, hier wird die Forschung durch die Lehre bevormundet, hier wird das Herz nur durch die Kanäle der Gefäße be- trachtet. Zwar fand dieses „Installateursdenken", das die Medizin dazu geführt hat, buchstäblich in die Röhre zu schauen, schon herbe Worte der Kritik. Aber sie verhallte ungehört, obgleich sie von prominenten Fachkollegen kam.

Doch damit nicht genug. Denn die zentralisierte deut- sche Infarktforschung ist nicht nur einseitig auf die Arte- riosklerose eingeschworen. Professor Schettler geht zudem davon aus, daß vor allem das Fett in der Nahrung Ur- sache der Arteriosklerose sei — auch das ist eine attraktive, doch mittlerweile unhaltbare Behauptung. Aber wenn er von Arterioskleroseforschung spricht, denkt er weiterhin „insbesondere an bestimmte Fettarten". Der Steuerzahler gibt Millionen dafür her, daß in Heidelberg mit einer Großküche experimentiert wird. Aber was noch viel alar- mierender ist: solange die Forschung durch Lehrdogmen manipuliert wird, solange ist jeder andere Lösungsversuch des Rätsels Herzinfarkt blockiert!

Wohin solche Abhängigkeit von theoretischen Vorstel- lungen führt, kann an ihren Auswirkungen abgelesen werden. Zur Dokumentation ein Fall, der sich tatsächlich so abgespielt hat, wenn es auch unglaublich klingen mag.

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Wer krank ist, bestimme ich

Ein Patient wurde wegen Herzbeschwerden in die Heidel- berger Klinik eingeliefert. Dort registrierte man überhöh- ten Blutdruck und ein abnormes Ekg, Anlaß genug, um die Herzkranzgefäße des Patienten zu röntgen. Resultat: „Beide Coronararterien ließen sich bis zu ihren Endaus- läufen hin glatt verfolgen, keine wesentlichen Kaliber- unregelmäßigkeiten, keine stärkeren Stenosierungen.a

Damit war für Professor Schettler alles klar: der Pa- tient war gar nicht herzkrank. Was bedeutete es schon, daß er starke Schmerzen hatte, daß das Ekg krankhaft verändert und der Blutdruck bedenklich erhöht war. Dem Kranken wurde suggeriert, er sei völlig in Ordnung: „Wir haben versucht, nach dem günstigen Ausfall der Coro- narographie den Patienten zu überzeugen, daß kein ob- jektives Korrelat für seine subjektiv sicherlich eindeutigen

Herzbeschwerden besteht."

Weil der Patient keine Arteriosklerose der Herzkranz- gefäße hatte, konnte er auch nicht herzkrank sein — und wenn er noch so sehr litt. Professor Schettler kommt das unbestreitbare Verdienst zu, daß er die Koronar-Theorie des Herzinfarkts mit gnadenloser Konsequenz wider- spruchsfrei zu einer geschlossenen Einheit vollendet hat. Denn erst das folgerichtige Zuendeführen macht die Un- haltbarkeit dieses Denkmodells in aller Schärfe sichtbar.

Wie konsequent Deutschlands „heimlicher Herzpapst" in seinen wissenschaftlichen Vorstellungen ist, zeigte sich in dem von ihm in Heidelberg zitierten Fernseh-Interview für Report München". Dieter Hanitzsch wollte von Pro- fessor Schettler wissen, wie die arteriosklerotische Gefäß- verschluß-Theorie folgendes Phänomen erkläre: Herzin- farkte sitzen nur in der linken Kammer. Herzkranzgefäße versorgen aber jeweils beide Kammern. Bei einem Ver-

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Schluß müsse also auch die rechte Kammer in Mitleiden- schaft gezogen werden, das heißt einen Infarkt erleiden.

Der Reporter konnte nur mühsam seine Verblüffung verbergen, als ihm sein Gesprächspartner daraufhin eine sehr eigenwillige Anatomie erläuterte: „Die Basisversor- gung des linken und des rechten Herzens ist getrennt an- gelegt." Tatsächlich speisen beide Hauptstämme der Herz- kranzgefäße jeweils Teile beider Herzhälften. Dennoch erklärte der Professor rundheraus, die linke und die rechte Herzhälfte würden unabhängig voneinander mit Blut ver- sorgt. Gefangen von der eigenen Lehre ließ er wissen, daß er Zweifel an seiner Behauptung nicht gelten lasse: „Das ist ganz klar!"

Aber solche Darstellungen werden auch durch eine Be- kräftigung nicht richtiger, durch eine Zusatzhypothese nicht glaubhafter: „Wir müssen davon ausgehen", erläu- terte Professor Schettler, „daß der Gefäßverschluß den linken Herzanteil betrifft; einen Gefäßverschluß des rech- ten Herzens gibt es eben nicht."

„Warum eigentlich nicht?" stellte ich die Frage in der „Bunten Illustrierten", als mir diese Aussagen bekannt geworden waren. „Wenn man schon der Zwangsvorstel- lung unterliegt, daß rechtes und linkes Herz getrennt ver- sorgt werden, warum sollte es dann rechts keine Ver- schlüsse geben? Arteriosklerose und Blutgerinnsel gibt es doch in der rechten Kranzarterie genauso wie in der linken.

Herr Professor Schettler ist offensichtlich Opfer seiner eigenen Theorie geworden: Infarkte kommen zwar tat- sächlich nur links vor. Aber weil die Theorie verlangt, daß sie durch Gefäßverschlüsse entstehen, schreibt der Arteriosklerose-Professor der Natur vor, sie müsse rechts und links getrennte Arterien haben, dürfe außerdem nur die linke davon verschließen. Damit wird das Wissen-

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schaftsverfahren auf den Kopf gestellt: Wir hätten danach nicht mehr von der Natur auszugehen, um unsere Theo- rien nach der Wirklichkeit zu formen, sondern umge- kehrt."

Warum die Herzpille boykottiert wurde

Seither scheint Professor Schettler der Gedanke an „Re- port** und „Bunte" zu belasten, er klagt über Manipu- lation, sieht sich gefährdet und ausgeliefert. Zumindest gestand er aber in Heidelberg zu, daß er sich „nicht als pathologischer Anatom kompetent" fühle.

Aber er fühlte sich immer noch kompetent, über orales Strophanthin zu richten, den „therapeutischen Erfolg" mit diesem Medikament anzuzweifeln. Denn auch auf diesem Gebiet hatte er sich rückhaltlos festgelegt.

Wie sehr er seinen Einfluß zum Boykott dieser Arznei geltend gemacht hatte, erläuterte Professor Spang in einem Interview mit einer Tageszeitung:

»Die Meinung von Schettler hat seit Jahren alle Klinik- ärzte bewogen, Strophanthin beim Herzinfarkt nicht an- zuwenden."

In einem Fachblatt schrieb dieser selbst: „Über die pro- phylaktische Wirkung oraler Strophanthingaben (Kern) ist eine ernste Diskussion nicht möglich, es sei denn, man benützt die Droge als Placebo." Placebo heißt soviel wie Attrappe. Solche Scheinmedikamente werden vor allem bei Doppelblindversuchen eingesetzt, um die Wirksamkeit eines anderen Präparates im Vergleich testen zu können.

Doch was als witziger Verriß gedacht ist, kann unver- sehens zum Bumerang werden. Denn Professor Schettler hat selbst ein Medikament propagiert. Es soll den Fett- spiegel im Blut senken und auf diese Weise der Ausbil-

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ng einer Arteriosklerose und damit dem Herzinfarkt vorbeugen. Dieses Lipostabil" erzielte in einem Jahr einen Umsatz von 16 Millionen Mark und ist marktbeherrschend auf diesem Gebiet. Um so überraschender war es, als die Ärzte mit folgender Meldung konfrontiert wurden:

„Lipostabil-Kapseln — in Belgien mangels Wirksam- keits-Nachweis aus dem Verkehr gezogen", berichtete das Arznei-Telegramm". Es wurde im Regierungsanzeiger verkündet: ,existieren Gründe dafür, daß die Wirkungen der Arzneispezialität Lipostabil-Kapseln ungenügend ge- sichert sind/ Auch in anderen Staaten wie Schweden und den USA, deren Arzneimittel-Gesetzgebung nur das In- verkehrbringen wirksamer Medikamente gestattet, ist

Lipostabil nicht im Handel."

Ungenügend gesichert ... Mit dieser Begründung hatte Professor Schettler eine klinische Prüfung des oralen Stro- phanthins beim Gesundheitsministerium vereitelt. Aber wie es scheint, ist nicht nur Dr. Kern den Beweis für die Wirksamkeit seiner Therapie schuldig geblieben.

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4. Kerngesunde Herzkranke

Es genügte den Vertretern der Sdiulmedizin nicht, daß sie Dr. Kerns Statistik verworfen hatten. Nach dem Er- folgsnachweis seiner Therapie sollten auch deren Voraus- setzungen disqualifiziert werden. Professor Spang aus Stuttgart, der sich mit Dr. Kern schon so manches Schar- mützel geliefert hatte, ließ sich die Gelegenheit im Schutz der Übermacht nicht entgehen, um dem Lokalrivalen das Handwerk zu legen. Der Statistiker Professor Koller hatte aus der geringen Todeszahl in Dr. Kerns Praxis die Folgerung abgeleitet, daß er die Sterbefälle nicht voll- ständig erfaßt habe. Professor Spang zog einen anderen Schluß daraus:

„Ich glaube, daß vielleicht ein Grund für diese Unter- sterblichkeit doch das jugendliche Alter mancher Patienten in der Patientengruppe von Herrn Kern sein könnte. Es ist eine ganze Reihe von Leuten darunter, die zwanzig

Jahre alt sind und nur wenig darüber.**

Zwanzigjährige Patienten, die als infarktgefährdet be- trachtet wurden? Was sollte man von einem Arzt halten, der solche unrealistischen Ansichten vertrat? Wie kam er dazu, seinen Patienten widersinnig eine Herztherapie zu- zumuten? Professor Spang sprach es aus:

„Eine sehr große Schwierigkeit für das Gespräch mit Herrn Kern ist folgendes: Er hat gerade gesagt, man könne den Herzkranken mit dem Diabetiker vergleichen. Was aber ein Diabetiker ist, wissen wir sehr genau; da können wir ja Blutzuckerprüfungen und sonstige Sachen machen, das ist also einwandfrei festzustellen, ob einer nun Diabetiker ist. Ob einer aber herzkrank ist im Sinne der Herzkranken, die Herr Kern in seiner Statistik hat, dürfte zu größeren Differenzen Anlaß geben."

Starker Beifall belohnte diese Attacke. Professor Spang

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hatte damit zur Sprengung der Fundamente angesetzt, auf denen Dr. Kern aufbaute. Die Reaktion des Auditoriums zeigte, daß die Vertreter der Schulmedizin nur darauf lauerten, die Thesen des Außenseiters ad absurdum zu führen. Waren sie doch nur deshalb in Heidelberg zusammengetroffen, um den „schweren Anschuldigungen" ent- gegenzutreten, die er gegen sie erhoben hatte. Sie wollten offenkundig dafür sorgen, daß kein Stein von Dr. Kerns Gedankengebäude auf dem anderen blieb und alles in

Scherben fiel.

Jetzt hatte Professor Spang begonnen, den Nachweis zu führen, daß Dr. Kerns Patienten in Wirklichkeit gar nicht herzkrank waren. Es gab kaum ein wirkungsvolleres Mittel, um Dr. Kern als Wissenschaftler unmöglich zu machen. Professor Beyer aus Berlin ließ die Sprengladung hochgehen:

„Wir sehen, daß bei den Kern'schen Symptomen nicht ein einziges Symptom dabei ist, das dazu berechtigen würde, eine Angina-pectoris-Krankheit anzunehmen. Hier steht — ich darf vorlesen: »Herzbrennen, Herzkrampf, Herzstechen, Herzdruck, ausstrahlende Rheuma-ähnliche Schmerzen in die linke Schulter und die linke Rücken- seite, Kloßgefühl im Hals .. .'"

„In ein Wahnsystem verstrickt"

Professor Beyer unterbrach sich zu einer Zwischenbemer- kung: „Wir alle kennen die Patienten, die ein Kloßgefühl im Hals haben; die sind eher für die neurologische Ab- teilung als für uns!"

Nach beifälligem Gelächter und zustimmenden Zwi- schenrufen las er weiter: „Kurzatmigkeit und rasche Er- müdbarkeit, Unverträglichkeit des Liegens auf der linken

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Seite, Aufwachen nach ein paar Stunden Schlaf ...' — wer wacht nicht nach ein paar Stunden Schlaf auf? — ,. . . Atemnot beim Liegen, Zeichen einer Herzinsuffi- zienz.'"

Um aufzuzeigen, welche unhaltbaren Kriterien Dr. Kern für seine Diagnose heranzog, stellte er diesem Zitat die Feststellungen des amerikanischen Kardiologen Pro- fessor White gegenüber: „,Kurze Dauer der Schmerzen, Auslösung der Schmerzen bei Armbewegungen, Auslösen der Schmerzen durch tiefes Atemholen* — damit meint er die Schmerzen durch muskuläre Verspannungen, durch

Neuralgie."

Professor Beyer zog ein vernichtendes Fazit: „Ich meine, daß der Grund für die unterschiedliche Statistik in der völlig unterschiedlichen Zusammensetzung des Kran- kengutes liegt. Ich bin gern bereit, Herr Kern: Schicken Sie mir die 16 000. Ich werte sie Ihnen in vier Wochen aus und sage Ihnen, wer was gehabt hat und wer nicht!**

Dr. Kern und die Mitglieder seines Arbeitskreises hat- ten über viele Jahre hinweg die Frühstadien einer Schädi- gung des linken Herzens, die Vorstadien der Herzattacken zu erkennen versucht. Sie hatten nach genauen Beobach- tungen einer großen Zahl von Patienten einen Komplex von Symptomen erfaßt, der ihnen eindeutige Anhalts- punkte bot. Sie waren auf Neuland vorgestoßen und standen vor der unlösbaren Aufgabe, die registrierten Krankheitszeichen meßtechnisch zu erfassen. Deshalb mußten sie sich auf subjektive Angaben verlassen — „dürftige Symptome" nach dem Urteil der auf objekti- vierbare Daten festgelegten Naturwissenschaftler. Da die im Saal Versammelten keine Bereitschaft zeigten, für die grundsätzliche Problematik Verständnis aufzubringen, stand Dr. Kern von vornherein auf verlorenem Posten.

Moderator Professor Wollheim war zu diesem Zeit-

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punkt nicht mehr sonderlich darum bemüht, sich den Anschein zu geben, als stünde er über den Parteien. „Das subjektive Empfinden des Patienten ist leider die schlechteste Richtschnur, die wir r die Beurteilung irgendeines therapeutischen Vorgehens haben", belehrte er Dr. Kern. „Wir leben ja nicht mehr im Zeitalter einer rein offen- barten Medizin, sondern einer naturwissenschaftlich arbei- tenden Medizin."

Solange Blutchemie, Blutdruck, Elektrokardiogramm, Röntgenbild noch keine der genormten, allgemein als gül- tig anerkannten Veränderungen zeigten, war ein Patient also als herzgesund anzusehen. Die vom Patient angege- gebenen Symptome wurden als Muskelverspannungen, Nervenschmerzen, Störungen im Verdauungstrakt ge- deutet.

Folgt man diesen Auslegungen, dann hatten Dr. Kern und die Mitglieder seines Arbeitskreises über Jahrzehnte hinweg Herzgesunde als herzkrank behandelt, und es war nicht weiter erstaunlich, daß sie bei solchen Patienten keine Infarkte erlebten.

Wie hatte Professor Halhuber doch immer schon be- hauptet? Berthold Kern und „seine Jünger" hätten sich „paranoid" in ein „geschlossenes Wahnsystem" ver- strickt ...

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5. Das Herz schlägt Alarm

Die 53jährige Haushälterin Rosa M. kam mit einer ent- zündlichen Rötung im Gesicht in die Praxis von Dr. Kern. Nach Injektionen klang der Ausschlag innerhalb weniger

Tage ab. Doch die Frau klagte über Schmerzen an der Einstichstelle in der linken EUenbeuge. Der Arzt fand dort keine Rötung, keine Schwellung, ja nicht einmal eine druckempfindliche Stelle. Es fiel ihm jedoch auf, daß die schmerzende Region im Ausstrahlungsbereich des linken Herzens lag. »Haben Sie diesen Schmerz schon öfters ge- habt?" fragte er.

Die Frau wendete den Blick auf den Boden und sagte stockend: „Ja. Schon — schon seit vielen Jahren."

„Mehr tags oder nachts?"

„Anfangs nur nachts. Aber jetzt habe ich es unter tags auch schon."

Dr. Kern war hellhörig geworden. „Waren Sie eigent- lich nie wegen Ihres Herzens in Behandlung?" fragte er.

Die Frau brach in Tränen aus. Zwischen Weinkrämpfen und gutem Zureden brachte sie ihre Geschichte heraus. Schon vor zehn Jahren sei sie beim Arzt gewesen, weil ihr das Herz so oft weh tat und bei Anstrengungen bis zum Halse schlug. Er habe dem keine Bedeutung zugemessen.

Im Lauf der Jahre spürte Rosa M. zunehmende Be- schwerden. Vor allem im Herzen. Meistens fühlte sie sich müde. Nachts erwachte sie oft nach Angstträumen und lag daraufhin mit sorgenvollen Gedanken wach. Manchmal fürchtete sie, die Brustbeengung würde sie ersticken.

Ein Herzspezialist, den sie aufgrund dieser Symptome aufsuchte, verschrieb ihr ein Schlafmittel und erklärte: „Sie sind gesund. Was Sie da erzählen, bilden Sie sich alles nur ein. Die Schmerzen, die Sie sich einreden, sind rein nervös bedingt."

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Daraufhin beschloß die Patientin, nie mehr einem Arzt gegenüber von ihren Schmerzen zu sprechen. Seit Jahren grübelte sie darüber nach, ob sie hysterisch sei.

Inzwischen steigerten sich ihre. Beschwerden. Sie wurde zunehmend rascher ermüdbar und kurzatmig, das nächt- liche Aufwachen war jetzt fast regelmäßig. Oft fuhr sie mit einem Schrei empor, am ganzen Körper naßge- schwitzt. Trotz Übermüdung lag sie dann stundenlang wach, die Angstvorstellungen drängten ihr Selbstmord- absichten auf.

Dazu kam das Ziehen in der linken Ellenbeuge, der „Rheumatismus" in der linken Schulter. Unter tags befiel sie manchmal Schwindel, sie mußte sich dann auf der Straße an eine Hauswand stützen. So schleppte sie sich über Jahre dahin, bis sie mit ihrem Ausschlag in die Praxis von Dr. Kern geriet. Die Frau sprach sofort auf die Herzmuskelbehandlung an. Was in langen Jahren keines der vielen Nerven- und Schlafmittel erreicht hatte, bewirkte ein Herzmittel in wenigen Tagen.

„Der Konflikt zwischen Befinden und Befunden"

In seinem Buch „Die Strophanthinbehandlung" charak- terisiert Dr. Kern die Situation: „Der Arzt erlebt an seinen ,nervös* Herzkranken oft die eindrucksvollsten Szenen seiner Herzpraxis. Die objektive Wissenschaft ahnt nur selten, was sie dem Subjekt des Kranken mit der leicht hingeworfenen, nichts sagen sollenden Diagnose ,nervöse Herzstörung' antat. Die Kardiologie ist ihren paar dia- gnostischen Maschinen — besonders Ekg und Röntgen — gegenüber so gläubig, so hörig geworden, daß sie die Fülle der maschinell noch unerkennbaren Leiden nicht mehr zu erkennen, ja dann — zur eigenen Rechtfertigung — auch

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nicht mehr anzuerkennen vermochte, sondern nur noch desinteressiert ins Vakuum »nervös* verdrängen konnte."

Was aus dieser Einstellung erwachsen war, konnte er in Heidelberg erfahren. Professor Spang schrie ihn an: „Herr Kern, ich habe Sie gefragt, warum Sie nicht immer Röntgenbilder machen, weshalb Sie kein Belastungs-Elek- trokardiogramm machen! Sagen Sie doch: Ich glaube die- ser Methode nicht, ich will vom Röntgenbild nichts wis- sen, ich will kein Ergometer machen! Sie reden immer um den Brei herum. Es werden konkrete Fragen gestellt, und Sie beantworten sie nicht. Also zum Beispiel: bestimmen Sie einen Menschen als herzkrank, ohne ein Röntgenbild zu machen? Ja oder nein! Antworten Sie doch einmal!"

Hier taten sich zwei verschiedene Welten auf. Schon 1951 hatte Dr. Kern zu diesem Komplex geschrieben: „Die Maschine hat es immer nur mit ein oder zwei Befun- den des Kranken zu tun, und sie hat auch bestimmungs- gemäß das Recht dazu. Indem sich die Medizin bestim- mungswidrig der Maschine unterordnet, erzeugt sie dar- über hinaus, was es doch gar nicht geben kann: einen Konflikt zwischen Befinden und Befunden. Der Kranke hat Schmerzen am Herz, und der Arzt beweist ihm aus dem Ekg, daß er gar keine haben kann: so weitet sich der Fehler auch noch zum Konflikt zwischen Kranken und

Arzt aus.*

„Die nützlichste Neurose der Welt"

Wohin dieser Konflikt geführt hat, zeigen die Feststellun- gen des amerikanischen Nervenspezialisten Professor Fre- derick Whitehouse. Nach seinen Schätzungen leben heute 20 Millionen Amerikaner, die Herzschmerzen ohne Herz- krankheit haben: „Welche bessere Ausrede für Versäum-

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nisse oder Versagen gibt es, als Herzzustände zu haben. Man wird mit Besorgnis umgeben, man kann in einer Vielfalt von Symptomen schwelgen, man kann seiner Um- welt Kurzatmigkeit vorkeuchen und ein blasses oder ge- rötetes Gesicht zeigen. Außerdem finden all diese Sym- ptome ihre innere Rechtfertigung durch Pulsbeschleuni- gung und Herzschmerzen."

So ist für Professor Whitehouse eine Herzkrankheit „die nützlichste Neurose der Welt, sie kann als Schild oder als Waffe benützt werden". Wer gehört seiner An- sicht nach zu den eingebildeten Kranken? Meist sind es Frauen, die als „gute Schauspieler" ihre Symptome wie Schmerzen im Brustraum, Herzstolpern, Atemnot drama- tisieren. Sie fühlen sich schon morgens nach dem Auf- stehen wieder müde, klagen fast die ganze Zeit über Müdigkeit und fehlende Initiative. Professor Whitehouse zieht daraus den Schluß: „Der Patient fühlt sich kränker als ein organisch Herzkranker."

Er zeigt nach dieser Darstellung eine Neigung zur Kon- taktscheu und wirkt in sich gewandt, wie man das etwa beim Geistesgestörten vom Typ des Schizoiden findet, er neigt zur Verliebtheit in sich selbst, ähnlich dem Narziß- mus, und er vernachlässigt Freunde und Bekannte. Er ist „körperlich und seelisch überempfindlich, krisenabhängig, neurotisch, krankhaft ängstlich, offen feindselig, leicht er- regbar, klagend, jammernd, unzuverlässig".

Zwar gilt der Schmerz den Ärzten als Hüter der Ge- sundheit, doch ist er der naturwissenschaftlich orientierten Medizin insofern ein Ärgernis, als er weder gemessen noch gewogen noch sonst auf irgendeine Weise verläßlich objek- tiviert werden kann. Andererseits ist es nach den Erkennt- nissen der Spezialisten gefährlich, wenn echte Schmerzen nicht ernst genommen werden, da auf diese Weise neuro- tische Fehlentwicklungen in Gang gesetzt werden können.

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Moskauer Wissenschaftler weisen darauf hin, daß soge- nannte rein vegetative Störungen organische Ursachen und Wirkungen haben: „Neurovegetative Dysfunktionen lenken nicht nur als eine häufig zu beobachtende Form der Pathologie die Aufmerksamkeit auf sich, sondern auch als frühe Phase vieler Erkrankungen verschiedener Systeme des Organismus." Deshalb sei es wichtig, nach organischen Veränderungen als Ausgangspunkt solcher vegetativen Erkrankungen zu suchen, auch wenn sie schwierig zu er- kennen sind: „Der Fortschritt der Medizin, der mit der Einführung präziser Geräte verbunden ist, hat aber auch seine Kehrseite: die Tradition einer feinen individuellen klinischen Beobachtung ist im Schwinden begriffen. Er- krankungen, denen psychovegetative Störungen zugrunde- liegen, unterliegen häufig noch nicht der Technisierung."

Eine Gruppe von Wissenschaftlern der Heidelberger

Universität untersuchte die Zusammenhänge zwischen Schmerzsymptomen und dem Infarktrisiko: „Ganz beson- ders interessante Hinweise scheinen uns die Zahlen zu liefern, die das relative Risiko, an einem Herzinfarkt zu erkranken, angeben. Hier zeigt sich bei Personen mit sub- jektiven Symptomen ein größeres Risiko als bei Personen ohne diese Symptome", heißt es in der Auswertung der Ergebnisse. „Man kann also sagen, daß sowohl bei Frauen als auch bei Männern in dieser Altersgruppe eine Bezie- hung zwischen subjektiven Symptomen und objektiven Befunden besteht ... Da wir wissen, daß etwa zwei

Drittel aller Personen mit typischen Angina-pectoris- Symptomen keinerlei Veränderungen im Ekg aufweisen, würde man diese Probanden nicht finden, sofern der Ekg-

Befund nicht durch gezielte Befragung ergänzt würde."

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„Rechtzeitige Behandlung ist entscheidend'

Offensichtlich zieht die Medizin in letzter Zeit doch wie- der mehr und mehr die subjektiven Angaben der Patien- ten heran, um ihre Diagnose abzurunden. Das läßt sich auch den Fachzeitschriften entnehmen, in denen es zum Beispiel heißt:

„Der Mensch ist keine Maschine. Die entscheidende erste Phase der Gesundheitsstörung läßt sich weder che- misch noch physikalisch erfassen, sondern nur persönlich von Arzt zu Mensch. Durch die allgemeinen Vorsorge- untersuchungen für Sozialversicherte wurde erneut in gro- ßem Maßstab bestätigt, was vorher schon, aber vielleicht nicht so eindeutig bekannt war: auch beim gesundheitlich schon stärker Geschädigten, zum Beispiel beim Herz- Kreislauf-Kranken, ist das Labor blindy liefert keine Be- funde in einer Phase, die gerade für die rechtzeitige Be- handlung entscheidend ist."

Die erste entscheidende Phase der Gesundheitsstörung des Herzens stellten Dr. Kern und seine Mitarbeiter, um sich nicht auf Einzelsymptome verlassen zu müssen, an- hand eines Beschwerden-Komplexes fest, den sie als Stan- dard-Syndrom bezeichneten. „Der Mensch an sich selbst, sofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann, und das ist eben das größte Unheil der neueren Physik, daß man die Experimente gleichsam vom Menschen ab- gesondert hat, und bloß in dem, was künstliche Instru- mente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränken und beweisen will*, hatte Goethe er- kannt.

Inzwischen hat Professor von Ardenne das gleichzeitige Auftreten von Gewebsschädigungen und Schmerzen durch seine Entdeckung einer Blut-Nerven-Schranke aufgeklärt.

PC

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Nerven sind empfindlich gegen Übersäuerung. Deshalb sind sie von Hüllen umgeben, die aus mehreren Wicklun- gen bestehen. Diese Hüllzellen regeln den Säurewert ein. Durch Verletzung oder unter langwährender Übersäue- rung wird diese Hülle gestört, der Säurewert im Nerven sinkt ab. Auslösung von Schmerzen ist die Folge. Bekannt ist der Fall, daß bei „schlecht eingestellten" und deshalb übersäuerten Zuckerkranken der Einstich einer Injektions- nadel sehr schmerzhaft ist; sinkt jedoch der Zuckerspiegel nach Insulingabe ab, dann ist der Patient auch nicht mehr so schmerzempfindlich.

Auch hat wohl schon jeder erlebt, wie ein kranker Zahn schmerzt, wenn er mit Zucker in Berührung kommt. Der Säurewert in den Nerven, deren Schranke schon vorge- schädigt ist, sinkt weiter ab, die Zahnschmerzen nehmen zu.

Ähnlich ist es im Herzen. Schon im Anfangsstadium, beim Entstehen der „toten Pünktchen", spürt der Kranke das Ziehen, Brennen, Stechen der übersäuerten Nerven. Die Natur hat ein vorzügliches Warnsystem eingerichtet.

„Beschwerdefrei ist auch infarktfrei"

„Die Behandlung wird der am besten vornehmen, der aus den gegenwärtigen Leiden die zukünftigen vorhersieht", hatte schon Hippokrates gelehrt. Will der Arzt einer Vor- schädigung des Herzmuskels entgegenwirken, muß er so rechtzeitig behandeln, daß kleinere oder größere Narben gar nicht erst entstehen können; denn Nekrosen, zerstörte Gewebsbezirke, sind später auch durch das beste Mittel der Welt nicht mehr rückgängig zu machen.

„Auftreten von Herzschmerzen bedeutet Übersäuerung im Herzmuskel", beschreibt Professor von Ardenne diese neuen Erkenntnisse  in seiner Autobiographie.  „In den

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meisten Fällen sind diese Schmerzen mäßig, weil die Über- säuerung nur in Mikrobezirken des Herzmuskels statt- findet; häufen sich solche Fälle, so findet der Pathologe später auf dem Seziertisch eine Unzahl meist schon ver- narbter Kleinnekrosen, die in ihrer Summe das Herz stark vorschädigen und die Wahrscheinlichkeit eines Infarktes mit dem Endstadium der Großnekrose sehr erhöhen." Von Ardenne bezeichnet es deshalb als »schicksalhaft für den betroffenen Menschen", daß er es durch die richtige Be- handlung „gar nicht erst zu lange anhaltenden Herz- schmerzen kommen läßt".

Immer noch werden Herzschmerzen als „rein nervös" abgetan, als „vegetative Dystonie* bagatellisiert, als Schmerzen der Skelettmuskulatur, des Verdauungstraktes oder als von der Wirbelsäure ausstrahlende Schmerzen verkannt. Zweifellos treten auch solche Symptome häufig auf. Das darf aber nicht dazu führen, daß echte Herz- schmerzen als nicht existent betrachtet werden. Solange Herzschäden im Frühstadium noch nicht apparativ erfaßt werden können, muß diese Warnung der Natur ernst ge- nommen werden.

Übrigens kann der Arzt in der Sprechstunde innerhalb von zehn Minuten klären, ob die Schmerzen vom Herzen kommen oder nicht: Sind es echte Herzsymptome, dann sind sie nach Verabreichung von Strophanthin binnen die- ser Zeitspanne verschwunden. Der Schnelltest mit Stro- phanthin gehört mit zur Befunderhebung in den Praxen des Arbeitskreises von Dr. Kern.

Das Beschwerdebild der Herzschädigung basiert auf

Beobachtungen vieler Ärztegenerationen und hat mit der Zunahme der Herzerkrankungen in den letzten Jahr- zehnten große Bedeutung gewonnen. Darum formulierte

Dr. Kern drastisch: „Beschwerdefrei ist auch infarktfrei."

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IV. Kapitel Der Rache letzter Akt

1. „Sie kommen noch vor den Staatsanwalt!"

Die Schladht war geschlagen.

Nach der fünfstündigen Kampagne der Pathologen, Stati- stiker, Kliniker wirkte Dr. Berthold Kern wie am Ende seiner Kräfte. Dennoch bereiteten sich seine Gegner in einer Imbiß-Pause darauf vor, den entnervten Außenseiter noch so weit zu demütigen, daß in Zukunft ein mokantes Zucken der Mundwinkel, ein abschätziges Wort genügte, um jede weitere Diskussion über das eigentliche Thema, die pero- rale Strophanthintherapie, von vornherein im Keim zu ersticken.

Die Vertreter der Schulmedizin hatten sich und ihre Auf- fassungen von der Sachlage für die Öffentlichkeit bestens zu präsentieren verstanden. Dr. Kern hingegen war ein denkbar schlechter Anwalt seiner Sache gewesen. Seine Darlegungen nahmen sich gegenüber den Argumenten der versammelten Widersacher reichlich verworren aus und schienen für mangelndes Urteilsvermögen zu zeugen, das eine Wahnidee für den Hausgebrauch mit einer Erfindung von Weltgeltung verwechselt.

Er hatte die Prominenz der deutschen Kardiologen her- ausgefordert, ihre Qualifikation in Frage gestellt und ihr „geistiges Unvermögen" verspottet. Die streitbaren Pro- fessoren hatten den Fehdehandschuh aufgenommen und ihrem unbotmäßigen Kollegen bewiesen, daß sie ihm in

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rhetorischer Auseinandersetzung hoch überlegen waren - nicht nur an Zahl. Jetzt wollten sie den Sieg auch aus- kosten, den Gegner zum wissenschaftlichen Offenbarungs- eid treiben, ihn in jeder Hinsicht demütigen.

Die Pharmakologen versuchten darzutun, wie „nutz- und sinnlos" - nach den Worten Professor Schettlers - die von Dr. Kern angewandte Behandlungsmethode wirklich war. Sie mußten aber schon sehr grobe Argumente gebrau- chen, wollten sie das Vorhergegangene noch übertreffen und ein rauschendes Finale erreichen. Das erste Stichwort hieß „Resorption".

Darunter versteht die Medizin die Aufnahme von Arz- neimitteln über den Verdauungstrakt, über Haut oder Schleimhaut in die Blut- oder Lymphbahn. Nur wenn ein Medikament ausreichend resorbiert wird, kann es die ge- wünschte Wirkung entfalten. Außerdem muß die Resorp- tion zuverlässig, also gleichsam genormt sein, um nicht durch eine zu geringe Menge des Pharmakons den Erfolg in Frage zu stellen oder durch ein unkontrolliertes Zuviel die Gefahr einer Schädigung, also etwa einer Vergiftung herbeizuführen.

Keine der strittigen Fragen in diesem Herzinfarkt-Streit hatte aber zu derart heftigen Meinungsverschiedenheiten Anlaß gegeben wie die Diskussion um die Resorption des oral verabreichten Strophanthins.

Jetzt wurden Dr. Kern Messungen mit radioaktiv mar- kiertem Strophanthin entgegengehalten. Dabei war die Konzentration der Radioaktivität im Blut, im Kot und im Urin festgestellt worden. Aus der Menge der Ausscheidun- gen hatte sich ergeben, daß die Resorption nicht mehr als etwa zwei bis drei Prozent betragen konnte. Damit deck- ten sich die Ergebnisse moderner Untersuchungsmethoden mit den Berechnungen der älteren Verfahren.

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Zweimal sollte die Herzpille verboten werden

Diese zwei oder drei Prozent waren immer schon als „un- genügende Resorption** angesehen, das Medikament des- halb als wirkungslos abgelehnt worden. Die Beurteilung spannte sich vom „Irrtum** und „Unsinn** bis zur „Kari- katur** und „Katastrophe**. Die einen erläuterten: „Orales Strophanthin muß man schon kiloweise verfüttern, damit es wirkt.** Andere waren gar der Ansicht: „Man kann dieses Zeug eimerweise trinken, ohne jeden Erfolg.**

Schon 1951 war daher in der Bundesrepublik Deutsch- land der Versuch unternommen worden, das Medikament zu verbieten. Er mußte scheitern, da seine Verwendung im Deutschen Arznei-Buch gesetzlich verankert ist. Auch ein zweiter Vorstoß war danach mißlungen: diesmal der Ver- such, orales Strophanthin für den Gebrauch in der Kassen- praxis zu verbieten, weil es unwirksam und deshalb un- wirtschaftlich sei.

Inzwischen hat Professor von Ardenne nachdrücklich darauf hingewiesen, daß Messungen mit radioaktiv mar- kiertem Strophanthin wegen des Zerfalls der Moleküle zu falschen Ergebnissen führen müßten. Er selbst errechnete eine Resorptionsquote von 50 bis 100 Prozent. Das ent- spricht anderen Untersuchungen, bei denen vergeblich nach nichtresorbierten Strophanthin-Resten im Darm gesucht worden war. Wenn aber nichts zu finden war, dann be- deutete das: das Medikament wurde lOOprozentig aufge- nommen.

Die Formel „ungenügende Resorption, deshalb wir- kungslos" befriedigt allerdings auch aus anderer Sicht nicht. Denn man kann beispielsweise nicht verhindern, daß Eisen- präparate nach dem Einnehmen zum größten Teil unge- nützt der städtischen Kanalisation zugeführt werden. Des- halb wird ein solches Medikament so hoch dosiert einge-

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nommen, bis die Resorption eben ausreichend ist. Warum sollte das für orales Strophanthin nicht gelten?

„Es gibt zwar manche Therapieformen, von der andere Medizinschulen nichts halten", beurteilte Dr. Kern damals diesen Resorptionsstreit. „Aber keiner von ihnen wird solcher Affekt entgegengebracht wie dieser ursprünglich aus der Hochschule stammenden oralen Arzneibehandlung. Und auch das erst, seit sich diese klassische Therapie für neue kardiologische Erkenntnisse und Erfolge bewährt hat.«

In Heidelberg erklärten die Pharmakologen: „Kein Mensch wird behaupten, daß Strophanthin, oral gegeben, überhaupt nicht resorbiert wird." Jetzt hätte eigentlich Einspruch vom Tisch der Vorsitzenden kommen müssen. Denn Professor Wollheim hatte das früher sehr wohl be- hauptet, und Professor Schettler hatte daraus gefolgert, jede Wirkung dieses Medikaments sei nichts als Einbil- dung. Aber offenbar ging es weniger um klare wissen- schaftliche Aussagen als grundsätzlich nur darum, orales Strophanthin zu verketzern, egal mit welchen Argumen- ten. Deshalb schlössen die Pharmakologen sich auch sofort einer anderen Version an: die Resorption könne zwar nicht bestritten werden, sei jedoch so unzuverlässig, daß die Gefahr einer Unter- oder Überdosierung bestehe. Dr. Kern jedoch schöpfte aus der veränderten Sachlage die Hoff- nung, daß die ablehnende Haltung nicht mehr ganz so starr sei wie früher:

Strophanthin darf nicht verdünnt werden

„Ich freue mich, daß jetzt in der letzten Zeit die Meinun- gen doch dahin konvergieren: Jawohl, eine Wirkung hat es, sie ist bloß ungleichmäßig. Nun ist es die Frage: Warum

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ist sie ungleichmäßig?" Und er strich heraus: „Es hängt von der Verdünnung oder Konzentration ab. Darauf möchte ich immer und immer wieder hinweisen."

Auf diesen Punkt war er im Verlauf der Diskussion schon mehrfach zu sprechen gekommen. Die Wirkung oral verabreichten Strophanthins hänge davon ab, daß eine einmalige, kurzfristige Konzentration im Blut zustande komme. „Die gleiche Strophanthinmenge ist völlig wir- kungslos, wenn sie stark verdünnt wird. Sie hat eine ge- ringe und schwacheWirkung, wenn sie nur wenig verdünnt wird. Je stärker sie konzentriert ist, desto mehr wirkt die gleiche Menge*, erläuterte Dr. Kern und brachte ein Bei- spiel:

Wir sehen es auch in der Praxis immer wieder. Dem Patienten wird genau erklärt, wie er es nehmen soll. Er kommt dann nach einigen Wochen wieder, man fragt: ,Wie sind die Symptome?' Antwort: ,Es hat sich nichts gebessert.* Dann die erste Frage: ,Wie haben Sie es genommen?' Ant- wort: ,Nun, ich habe es nach dem Essen, auf vollen Magen heruntergeschluckt.' — ,Aha', sagt man dann, ,so hat es natürlich auch nicht nützen können.' Wir wissen alle, daß das orale Strophanthin vielfach falsch angewendet wird, zum Beispiel in einem Glas Wasser die Tropfen aufgelöst und nach dem Essen heruntergetrunken. Damit ist natür- lich die Verabreichung vollkommen wirkungslos."

Professor Schettler demonstrierte, wie sehr Denkge- wohnheiten einer Schule dazu führen, alles außerhalb einer Theorie Liegende mißzuverstehen. Er verlas ein Zitat von Dr. Kern:

„Strophanthin kann auf vielen Wegen gleich herzwirk- sam appliziert werden - intramuskulär, intravenös, lin- gual, enteral, oral-enteral kombiniert, rektal usw. Auf allen diesen Wegen wird Strophanthin unzerstört, hun- dertprozentig und-herzwirksam resorbiert, das heißt ins

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Blut aufgenommen..." Herausfordernd fügte er hinzu: »Wenn das so hervorragend resorbiert wird, dann darf doch wohl auch eine Tablette, wenn sie in Wasser aufge- löst wird, keinen Unterschied machen - nach Ihren eigenen

Worten!"

In seinem Buch „Die orale Strophanthin-Behandlung" von 1951, das bei dieser Diskussion als bekannt voraus- gesetzt worden war, hatte Dr. Kern auf den Zeitfaktor als entscheidend für die Resorption und die Wirkung hin- gewiesen, auf die Geschwindigkeit, mit der das Medika- ment ins Blut gelangt. Anders als bei der direkten Ein- spritzung in die Blutbahn zieht sich die Resorption über die Schleimhäute so lange hin, „daß in dieser Zeit auch schon wieder beträchtliche Mengen aus der Blutbahn weg- diffundiert sind. Der Blutspiegel steigt also nur langsam und wenig an, und damit er die Schwellenkonzentration übersteige, das heißt, damit der Einstrom ins Blut den Abstrom ins Gewebe ausreichend übertreffe, müssen auch größere Absolutmengen des Stoffes gleichzeitig zur Resorp- tion angeboten werden". Würde die Zufuhr verzettelt und als Folge die „Schwellenkonzentration und damit eine aus- reichende Wirkung im Erfolgsorgan" nicht erreicht, dann könnten auch erstaunlich große Mengen eines Wirkstoffes pro Tag durch das Blut hindurchgeschleust werden: „Der

Nutzeffekt ist dann nahezu gleich Null."

Später hatte er diesen Sachverhalt an einem Beispiel zu demonstrieren versucht. Aber gerade diese Veranschau- lichung war seinen Gegnern in Heidelberg Anlaß, der Öffentlichkeit eindringlich vor Augen zu führen, wie un- wissenschaftlich Dr. Kern arbeitete. Professor Spang, der Stuttgarter Lokalrivale, ging zur Attacke über:

„Da schreiben Sie immer wieder: Intravenös tropf infun- diert bleiben zum Beispiel noch 80 Milligramm Strophan- thin in 24 Stunden herzunwirksam, zwar hundertprozen- tig resorbiert, doch zeitlich wirkungslos verzettelt. Wer hat dieses Experiment gemacht? Können Sie mir das nach- weisen?"

Das ist ja unerträglich!"

Dr. Kern hatte ein Tierexperiment auf menschliche Ver- hältnisse umgerechnet, um seine Aussagen illustrieren zu können. Aber Professor Gillmann rechnete ihm vor: „Eine Infusion von 320 Ampullen in 24 Stunden ist nach Adam Riese eine Ampulle pro vier Minuten. Eine Ampulle intra- venös alle vier Minuten! Da kann ich Ihnen nur sagen, daß Sie in diesem Fall aber wirklich in kürzester Zeit vor dem Staatsanwalt stehen." Professor Spang assistierte: „Wer hat denn das gemacht? Wie kommen Sie dazu, das zu schreiben? Sagen Sie das doch mal!"

Dr. Kern versuchte richtigzustellen: „Moment, bitte! Ich habe doch gerade erklärt, das sind Tierversuche umge- rechnet auf..."

Professor Spang fuhr unbeirrt fort: „Ja, aber Sie schrei- ben es doch, Herr Kern, hier unter den klinischen Anwen- dungen: Applikationsweisen und Einzeldosen. Das ist ja nicht für Tierärzte geschrieben, entschuldigen Sie bitte. Das ist schließlich für Ärzte geschrieben. Wir können doch nicht von Tierversuchen reden, das ist doch für Men- schen."

Dr. Kern: „Richtig."

Professor Spang: „Wer hat das gemacht? Dann sagen

Sie doch: Ich habe mich geirrt."

Dr. Kern: „Nicht geirrt. Und gemacht ist es ja nicht.

Es ist eine Umrechnung von Zahlen. Ich glaube ..."

Zermürbt von der stundenlangen Inquisition, das Ge- sicht zu einem Lächeln der Hilflosigkeit verzerrt, drohte

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der Stuttgarter Praktiker die Fassung zu verlieren. Seine Gegner setzten gnadenlos nach. Die Heidelberger Pharma- kologin Dr. Weber:

Und nun haben Sie etwas getan, was der Pharma- kologie geradezu ins Gesicht schlägt: Sie haben nämlich einfach einen Wert, der beim Tier unter völlig anderen Bedingungen gewonnen worden ist, auf den Menschen übertragen. Sie schreiben in Ihrem Buch: auf einen kräf- tigen Erwachsenen. Ich habe nachgerechnet. Um auf 79,9 Milligramm zu kommen, müssen wir einen Erwachsenen von 111 Kilogramm ansetzen, der über 24 Stunden lang diese Dosis zugeführt bekäme."

Könne man einen 111 Kilogramm schweren Mann als brauchbares Beispiel ansehen? Sie sagen es zu Ärzten und verunsichern den jungen Arzt", entrüstete sich Professor Gillmann, „indem Sie behaupten, daß 80 Milligramm Strophanthin-Infusion nicht schaden. Das sagen Sie Ärz- ten, Herr Kollege!"

Dr. Kern hatte nichts anderes getan, als auf den Men- schen zu beziehen, was die Pharmakologen zum Zweck der Behandlung von Menschen an Tieren ermittelt hatten. Er hatte veranschaulicht, wie die Experimente genutzt werden können, um Gegebenheiten bei der Therapie am Menschen verständlich zu machen. Nirgendwo hatte er jedoch den Ratschlag erteilt, die genannten Strophanthin- mengen Kranken zu verabreichen.

Aber er war nicht mehr in der Lage, den Vorwürfen von Professor Gillmann und Professor Spang zu begegnen. Er stammelte nur mit aschfahlem Gesicht: „Ich kann nur immer wiederholen: Das ist eine Umrechnung von phar- makologischen Zahlen.. ."

Empörung, Tumult, Geschrei. Einer aus der Menge brüllte den Gemaßregelten an: „Das ist ja unerträglich!"

DAS MÜSSEN SIE

BEIM EINNEHMEN DER STROPHANTHIN-PILLE BEACHTEN!

Das Medikament darf nur so wenig wie irgend mög- lich verdünnt werden. Seine Wirksamkeit ist von der Konzentration im Blut abhängig. Es ist ähnlich wie beim Genuß von Alkohol: Je mehr verdünnt er ge- trunken wird, um so geringer sind die Alkoholpro- mille im Blut; nicht allein die Dosis macht die Wir- kungy sie ist vor allem von der Konzentration ab- hängig.

Deshalb: Vor Einnahme von oralem Strophanthin Speichel verschlucken. Kapsel zerkauen, den Inhalt mit der Zunge auf der Mundschleimhaut verteilen oder unter der Zunge aufsaugen lassen. Während dieser Zeit möglichst nicht sprechen, weil Reden den Speichelfluß anregt.

Patienten mit empfindlicher Mundschleimhaut kön- nen das Medikament verschlucken, dann aber höher dosiert und nur auf völlig leeren Magen, weil die Aufnahme ins Blut sonst so verzögert wird, daß die gewünschte Wirksamkeit nicht eintritt.

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2. Die richtige Dosierung

Sdiluderhafter Umgang mit Maß und Zahl, Mißachtung exakter Naturwissenschaft - Dr. Kern war als Wissen- schaftler ein toter Mann. Es machte schon den Eindruck von Leichenfledderei, als ihn Professor GreefF, der Düssel- dorfer Pharmakologe, noch einmal über die Dosierung verhörte. Dabei versuchte er die mangelnde Qualifikation seines Widerparts dadurch zu veranschaulichen, daß er ihm Unkenntnis der Grundvoraussetzung aller Arzneibehand- lung unterstellte. Er fragte, als wollte er einen Studenten des ersten Semesters belehren: ob es denn etwa nicht not- wendig sei, ein Herzmittel exakt zu dosieren? Dr. Kern zitierte in seiner Antwort den Strophanthin-Spezialisten Professor Edens: „Jedes Herz braucht seine eigene Dosis. Und die wechselt täglich. Die Exaktheit besteht im Decken des Bedarfs, und der Bedarf richtet sich nach den Sym- ptomen. Wenn die Symptome verschwunden sind, dann hat die Dosierung ausgereicht; im anderen Fall muß man hö- her dosieren, oder man muß noch andere Mittel dazu- geben.**

Aber der Rückgang von Symptomen, allein entscheidend für den Kranken, gilt der Wissenschaft nicht als objektiver Maßstab für die Bewertung der Resorption und der rich- tigen Dosierung. Anerkannt wird nur die Dosierung intra- venös injizierten Strophanthins, weil hier die Resorption nicht angezweifelt werden kann: die Aufnahme ins Blut ist lOOprozentig, weil das Medikament mit der Spritze direkt hineinbefördert wird. Deshalb hatte Professor von Ardenne mit Hilfe minutiöser Messungen die Wirkung oralen Strophanthins im Vergleich mit intravenöser Verab- reichung ermittelt.

Er hatte mit Spezial-Ekgs jene Veränderung im Erre- gungsablauf des Herzens gemessen, die gleichzeitig mit dem Einfluten des Strophanthins in die feinsten Herz- gefäße auftreten; mit hoher "Wahrscheinlichkeit waren die registrierten Veränderungen Reaktionen der Zellen auf das Medikament.

Zuerst erhielten die Versuchspersonen intravenös Stro- phanthin, einige Tage später oral. Dabei wurden sie auf- gefordert, „vorhandenen Speichel zu verschlucken. Das Präparat wurde dann von der Versuchsperson über die gesamte Schleimhaut verteilt, ohne verschluckt zu wer- den."

Diese Form der Verabreichung zielt darauf ab, daß das Medikament möglichst unverdünnt resorbiert wird, damit das Einströmen in die Blutbahn nicht unnötig verzögert wird. Denn beim Strophanthin ist nicht wie üblich Dosis gleich Wirkung, weil nicht jede beliebige Menge einen Ef- fekt hat, sondern erst eine bestimmte Ansammlung im Blut abhängig vom Zeitfaktor: Konzentration ist gleich Wirkung.

Ein Vergleich: Auch Alkohol hat, stark verdünnt, etwa in Form von Wein mit Mineralwasser, eine viel geringere Wirkung als in konzentrierter Form, zum Beispiel als hochprozentiger Schnaps. Auch hier ist nicht allein die Dosis, sondern vor allem die Konzentration entscheidend.

Die Pille ist genauso zuverlässig wie die Spritze

Professor von Ardennes Messungen zeigten, daß orales Strophanthin bei richtiger Verabreichung genau die glei- chen Ekg-Veränderungen hervorruft wie das intravenös gegebene Medikament. Das bedeutet, daß Strophanthin als Pille genau so exakt zu steuern ist wie als Injektion. Schon eine kurzfristige Konzentration im Blut und damit in den Zellen des Herzmuskels genügt, um augenblicklich

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jene Schaltwirkung hervorzurufen, die die Heilung in Gang setzt: Professor von Ardenne hatte erkannt, daß die von ihm gemessene Ekg-Veränderung und die von ihm experimentell festgestellte Anhebung des Säurewertes zu- sammenhängen.

0 Seine Meßkurven sind sichtbarer Ausdruck der Vor- gänge im Herzmuskel und zeigen, daß Strophanthin binnen zwei bis fünf Minuten gewebszerstörende Pro- zesse rückgängig macht.

Die Unterschiede zwischen Spritze und Pille: aufgrund des Zeitfaktors, also wegen der verzettelten Resorption, muß die orale Dosis 24mal so hoch sein wie die intravenös verabreichte. Dafür hält dann die Wirkung aber auch 72mal so lange an. In Heidelberg forderten die Inquisi- toren immer „exakte" Angaben, aber sobald das Gespräch auf die Dresdner Messungen kam, wurde versucht, Pro- fessor von Ardenne gegen Dr. Kern auszuspielen. Man nahm diese Experimente nur dann zur Kenntnis, wenn man sie gegen den Rebellen verwenden zu können glaubte.

In Kerns Buch „Die orale Strophanthin-Behandlung" heißt es über die richtige Verabreichung: „Die Tabletten werden am besten auf leeren Magen angewendet. Der Kranke nimmt eine Tablette, legt sie unter die Zunge und läßt sie dort zergehen. Weil die Tabletten nach Möglich- keit rasch zerfallen sollten, kann es zweckmäßig sein, sie erst durch mehrmaliges Zerbeißen zu zerbröckeln, wonach man die Bröckel dann unter der Zunge oder sonst im Mund zergehen läßt. Es ist erwünscht, daß die Speichelbildung gering ist; die Zeit nach dem Aufwachen und vor dem Einschlafen ist günstig dafür, außerdem sollte der Patient während des Lutschens möglichst schweigen. Den Speichel mit der zergangenen Tablette behält der Kranke dann

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einige Zeit unter der Zunge: wenn möglich zehn Minuten, doch auch kürzer, wenn die Speichelbildung stark ist und belästigt. Dann wird der Speichel geschluckt.**

In Heidelberg verwies Kern auf seine ursprüngliche Vorschrift, die eine maximale Wirkung garantiere. Dann sagte er: „Sie kennen die Stellungnahme von Ardennes,der nachgewiesen hat, daß diese Originalvorschrift von mir die höchst wirksam orale und die gleichmäßigst und konstan- test wirksame und best-steuerbare orale Strophanthin- Therapie überhaupt ist. Was neuerdings von Herrn Kol- legen Schettler gesagt wurde, Ardenne habe das widerlegt, beruht auf einer einfachen Verwechslung. Aber insofern hat sich in der Therapie nichts geändert.**

Gegen dieses Herzmittel ist jedes Mittel recht

Er wurde unterbrochen: „Herr Kern, Sie können nicht immer so ausweichen! Das stimmt nicht!** Professor Gill- mann erhob sich: „Herr Kern, darf ich ganz kurz den Brief vom 4.11.1971 von Ardenne wörtlich zitieren:

,Denn mit Recht hat die geltende Lehrmeinung der medizinischen Werke Einwände gegen die orale Stro- phanthingabe wegen der bisher bestehenden großen Wirkungsschwankungen.*

Bitte, den Brief von Ardenne können Sie einsehen .. .** Professor von Ardenne war bei seinen Untersuchungen den beobachteten Wirkungsschwankungen auf den Grund gegangen und hatte feststellen können, daß die Ablehnung der oralen Strophanthin-Therapie bei falscher Anwendung zu Recht bestand. Es war kein Wunder, daß viele Ärzte nur Mißerfolge erlebt und sich dann enttäuscht von dieser

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Behandlung abgewandt hatten, denn auf dem Beipackzet- tel des „Strophoral** stand zu lesen: „Die Tabletten kön- nen mit etwas Flüssigkeit geschluckt werden, die Tropfen sollen zweckmäßigerweise auf .ein Stückchen Zucker ge- träufelt oder mit einem Teelöffel Flüssigkeit eingenommen werden.** In dieser vorgeschriebenen Verdünnung war die mangelhafte Wirkung gleichsam vorprogrammiert.

Mit Hinweis auf solche unzulässige Handhabung hatte Professor von Ardenne einen Brückenschlag versucht. Er wollte den Fachleuten den Weg von der strikten Ableh- nung zur allmählichen Zustimmung erleichtern. Aber er hatte auch eindeutig klargestellt, daß nicht Dr. Kern es gewesen war, der die Therapie falsch angewendet hatte. In seiner Stellungnahme vom 8.11.1971 hieß es:

»Bei der Applikationsvorschrift, die Dr. Kern in seinem Buch über den Myokardinfarkt gibt, liegt er in der Wirkung nur um den Faktor 2 unter jener Wirkung, die bei optimaler Applikationsart zu er- warten ist.

Noch etwas günstiger liegen die Verhältnisse bei Zer- beißen von zwei Strodival-Kapseln im Zeitabstand von etwa einer Minute. In bezug auf die Wirkung noch günstiger, aber in bezug auf die Reizung von Mundschleimhaut ungünstiger war die früher von Dr. Kern bei seinem Großversuch angewendete Gabe von Tabletten-Strophanthin."

Abschließend hob er hervor: „Völlig abwegig ist die in gewissen Zeitungsmeldungen gezogene Schlußfolgerung, daß unsere Untersuchungen offensichtlich einen Strich durch die 17 000 Patientennamen der Kern-Kartei zögen."

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DIE HERZWIRKUNG

VON STROPHANTHIN

LEHRSATZ

Dosis ist gleich Wirkung. Orales Strophanthin wird nur in ungenügender und unzuverlässiger Dosis ins Blut aufgenommen und ist daher nicht exakt wirk- sam. Deshalb ist eine Herzbehandlung auf diesem Wege nicht sichergestellt.

KERN-SATZ

Konzentration ist gleich Wirkung. Orales Strophan- thin wird zu 100 Prozent ins Blut aufgenommen aber langsamer und weniger konzentriert. Die Do- sierung muß deshalb höher sein, ist aber voll herz- wirksam, sobald der Bedarf gesättigt ist. Strophan- thin wird individuell nach Erfolg dosiert, nicht nach starrem Schema.

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3. Analyse eines Briefwechsels

Es war nichts abwegig genug, um nicht Stimmung gegen den Außenseiter zu machen. Zum Beispiel hatte Professor Wollheim das runde Dutzend Kollegen, das mit Dr. Kern gekommen war und für ihn eintreten wollte, gar nicht erst zu Wort kommen lassen. Gegen 18 Uhr gaben diese Ärzte ihre Stimm-Meldung geschlossen schriftlich ab, jedoch ver- geblich. Vermutlich war es die Absicht der Erfinder dieses Tribunals, daß sich Dr. Kern allein um Kopf und Kragen redete.

Tatsächlich hätte er dringend einen Fürsprecher ge- braucht, der das Gewicht seines Ansehens zugunsten des oralen Strophanthins in die Waagschale geworfen hätte. Ja, es saß sogar jemand im Saal, der die Wirksamkeit des Medikaments aus eigenen Untersuchungen kannte. Aber als er sich meldete, erinnerte er mit keinem Wort an diese Versuche.

Professor Max Josef Halhuber, prominenter Rehabili- tationskliniker, ein Arzt also, der sich der Wiederherstel- lung von Infarktkranken widmet, hatte seine Ausbildung als Assistenzarzt in Innsbruck genossen. Als damals, an- fangs der 50er Jahre, in der Bundesrepublik Deutschland erstmals die Auseinandersetzung um das orale Strophan- thin und seine Wirksamkeit hohe Wellen schlug, hatte Professor Anton Hittmair an der Medizinischen Universi- tätsklinik Innsbruck beschlossen, sich ein eigenes Urteil darüber zu bilden. Dr. Halhuber prüfte in seinem Auftrag die Wirkung oralen Strophanthins an 30 „Coronarskle- rosekranken" nach.

Bei 22 der Patienten, das sind 73 Prozent, waren schon nach drei Tagen gute bis sehr gute Erfolge zu verzeichnen, was die Innsbrucker Ärzte zu der Vermutung veranlaßte, „persönliche Ressentiments auf klinischer und außerklini-

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scher Seite scheinen uns die Hauptursachen für die Heftig- keit" des Streits um die Wirksamkeit des oralen Strophan- thins zu sein. Im übrigen, so ließen sie wissen, wollten sie auf jede Auseinandersetzung mit dem einschlägigen Schrift- tum verzichten, „weil wir es in diesem Zusammenhang für unergiebig halten".

Dr. Halhuber kam nicht nur zu dem Schluß: „Aber es lohnt sicby das orale Strophanthin, das Kern so verdienst- voll wiederentdeckt hat, weiter zu entwickeln." Er betonte auch: »Wir sind überzeugt, daß ein kleines ,Standardsyn- drom* nach Kern anamnestisch oft vor allen objektiven Symptomen (z. B. Röntgen und Ekg) eine beginnende

Linksinsuffizienz anzuzeigen vermag."

Also eine Bestätigung auf der ganzen Linie. Nicht nur die Wirksamkeit oralen Strophanthins war unter Beweis gestellt worden, auch die von Dr. Kern zur Frühdiagnose herangezogenen Symptome wurden voll anerkannt.

Es nimmt daher nicht wunder, daß Dr. Kern Hoffnung schöpfte, als er 1968 den Namen Halhuber unter einem an seinen Arbeitskreis gerichteten Brief las. Dazu hatte er um so mehr Veranlassung, als er darin den entscheidenden Satz fand: „Ich fühle mich deshalb verpflichtet, der so schwerwiegenden Behauptung, daß man mit Strophanthin oral eine echte Infarktprophylaxe betreiben kann, unbe- dingt sine ira et Studio nachzugehen und die Angaben an einem entsprechend großen Krankengut zu überprüfen."

„Die Schulmedizin kann nicht daran vorbeigehen"

In einem Schreiben an einen persönlichen Freund notierte

Kern damals: „Das ist bisher einmalig im Kreis klinischer Mediziner; einmalig seit 40 Jahren. Hier ist noch ein Rest des ursprünglichen-Idealismus erkennbar." Aber die bis-

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herigen Erfahrungen hatten ihn kritisch gemacht: Späte- stens nach der ersten Diskussions-Viertelstunde muß er ja gemerkt haben, daß er da auf eine Bahn gedrängt wird, die ihn im Kreise derer, auf die es ankommt, ,unmöglich' macht." Die Konsequenz daraus: „Und wenn Halhuber die Zunft beschämt, indem er darauf hinweist, ist er

»Außenseiter* und pass£."

In einem weiteren Brief legte sich Professor Halhuber jedoch nachdrücklich fest:

% »Ihre Feststellungen oder Thesen sind so schwerwie- gend, daß die Schulmedizin nicht daran vorbeigehen kann, sondern durch Überprüfung Ihrer Ergebnisse allein zu einer Bejahung oder Verneinung Ihrer The- sen kommen kann. Dies scheint mir um so leichter möglich, als ja die medikamentöse Infarktprophy- laxe durch orales Strophanthin keine Belastung und kein Risiko für einen Patienten darstellt, sondern nur eine Chance bedeuten kann."

Mit solch einer Aussage in der Tasche fuhr Dr. Kern in Professor Halhubers Klinik am Starnberger See, um sich dort 40 Klinikern zur Diskussion zu stellen. In einem ge- meinsamen Gespräch mit dem Rehabilitations-Arzt be- sprach er dann die Möglichkeit einer klinischen Prüfung. In einem späteren, darauf Bezug nehmenden Brief sprach Professor Halhuber zwar noch von der „heilsamen Un- ruhe, die Sie verursacht haben**, wies aber gleichzeitig schon auf „skeptische Kliniker** hin und bat aus diesem Grund, „Publizität zu vermeiden**.

Die ominöse Begründung dafür: „Es könnte dann auch in Ihrem Sinne Positives zerstört und verhindert werden." Wer könnte zerstören oder verhindern wollen, was eine „Chance für den Patienten** bedeutete?

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Aber noch standen solche dunklen Andeutungen gleich- sam im Hintergrund. Noch berichtete Professor Halhuber über einen Kranken, der in seine Klinik aufgenommen worden war und dessen Beschwerden unter oralem Stroph- anthin zurückgingen, dessen Zustand sich nach Umstellung auf ein anderes Medikament wieder verschlechterte, schließlich unter Strophanthin erneut verbesserte. „Das Bild ist so eindrucksvoll", kommentierte Professor Hal- huber, „daß wir allein aufgrund dieser Kasuistik und ohne Ihre Vorbereitung uns entschließen müßten, dieser unter- schiedlichen Wirksamkeit nachzugehen, was wir auch sicher tun werden."

Als jedoch die ersten Schritte zur Verwirklichung unter- nommen werden sollten, als Dr. Kern die Möglichkeiten und die Schwierigkeiten einer solchen Nachprüfung dis- kutierte, kam Professor Halhuber plötzlich zu einem „skeptischen Ausblick auf Möglichkeiten einer Zusammen- arbeit".

Wo war nunmehr die Verpflichtung" zur Nachprüfung, die Überzeugung, „nicht daran vorbeigehen" zu können, der Entschluß, der Strophantinwirkung unter allen Um- ständen „nachzugehen"? Die Begründung war fadenschei- nig: „Wenn Sie aber als methodische Voraussetzung be- sonders geschulte Ärzte verlangen mit »hohem Sachver- stand', die Dosierungen variieren müssen (nach welchen lehrbaren Grundsätzen?), um echte Therapiefehler zu ver- meiden, und einen gewissen Arzneischematismus ablehnen, dann sehe ich keine Möglichkeit einer Nachprüfbarkeit." Kerns Behandlungsmethode müsse unter solchen Umstän- den eine „Geheimlehre" bleiben.

Aber hatte nicht gerade Halhuber schon einen tieferen Einblick in diese Geheimlehre gewonnen als mancher an- dere? Hatte er doch schon 14 Jahre zuvor geschrieben! „Im allgemeinen halten wir aber nicht eine schematische

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Dosierung, wie sie für unsere wissenschaftliche Fragestel- lung notwendig war, sondern eine individuelle Medika- tion nach Erfolg und Bedarf für richtig." Führte er nicht Mißerfolge mit der oralen Strophantin-Therapie „vor al- lem auf unterschiedliche individuelle Resorptionsverhält- nisse zurück"?

„Allen Beteiligten droht Unheil"

„Jedes Herz braucht seine eigene Strophantin-Dosis", hatte Professor Edens unmißverständlich gesagt. Und es ist in der deutschen Hochschulmedizin unstrittig, daß auch sonst „Glykoside stets in individueller Dosis" verabreicht werden müssen: „Jede Glykosidbehandlung ist eine neue therapeutische Aufgabe, die individuell gelöst werden muß; der optimale Wirkspiegel muß für jeden Patienten und jedes verwendete Glykosid neu ausgelotet werden, damit man weder über- noch unterdosiert und Nebenwir- kungen wieder zu Hauptwirkungen werden."

Warum machte Professor Halhuber es Kern zum Vor- wurf, daß dieser auf einer optimalen Dosierung bestand? Auch der bedeutendste wissenschaftliche Versuch dient nur dem Kranken, und kein Schematismus ist so wichtig, daß er zu Mißerfolgen berechtigt.

Dr. Kern bat nochmals, trotz der Unzulänglichkeit des Autors „die Sache selbst aufzugreifen". Aber Professor Halhuber handelte jetzt offensichtlich nach der Maxime: Was geht mich mein Brief von gestern an? Kein Wort mehr davon, daß er sich der Sache annehmen wolle. Über- raschend sprach er von einer „unabhängigen Instanz" und bat dringend, weder seinen Namen zu nennen noch ihn sonst in die Vorbereitung von Forschungsvorhaben hin- einzuziehen.

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Er verweigerte damit seine Mitwirkung an allen wei- teren Vorhaben und begründete diesen Rückzug mit den mysteriösen Worten: „Ich habe Sorge, daß Sie in Ihrem an sich erfreulichen Schwung und therapeutischen Impe- rativ manche Grenzen überschreiten, die zum Unheil für alle Beteiligten führen."

Es läßt sich schwer zusammenreimen, weshalb durch die Nachprüfung eines Medikaments, das nach der Überzeu- gung Professor Halhubers keinen Schaden anrichtet, Un- heil für die Beteiligten entstehen sollte. Hatte Dr. Kern recht gehabt, als er vermutet hatte, „die Zunft" werde sich nicht beschämen" lassen wollen? Eine handschrift- liche Anmerkung unter Professor Halhubers nächstem Brief erbrachte Klarheit:

»Ich bitte Sie dringend, nichts zu unternehmen, wovon ich mich öffentlich distanzieren müßte, und meinen Namen in Ihren Veröffentlichungen nicht zu nennen."

Professor Halhuber wollte also keinesfalls mehr mit oralem Strophanthin in Zusammenhang gebracht werden. Binnen weniger Monate hatte er eine Kehrtwendung voll- zogen. Und eineinhalb Jahre später präsentierte er sich der „Zunft" als endgültig rein von jedem Makel und schob Dr. Kern den Schwarzen Peter der nicht vollzogenen Versuche zu: „Wo sind die Protokolle Ihrer ans Wunder- bare grenzenden und daher nicht glaubhaften Erfolge mit oralem Strophanthin? Warum haben Sie sich nicht bereit erklärt, an einer neutral überwachten Studie mitzuwir- ken, wie ich Ihnen vorgeschlagen habe?"

Für Dr. Kern und die anderen Mitglieder seines Ar- beitskreises klang das wie blanker Hohn. Er hatte den Kliniker dazu bringen wollen, daß dieser endlich die Pro- tokolle erarbeite, die er jetzt von ihm verlangte. Er war gekommen, um sie abzuholen, und wurde nunmehr ge- fragt, warum er sie nicht selbst mitgebracht habe.

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Der Rehabilitationsprofessor aber fühlte sich voll reha- bilitiert, er schien auch keine Angst mehr davor zu haben, daß irgendein Unheil drohe, sein Ton war frank und frei: Ich verbitte mir hiermit, in Zukunft von Ihnen in irgend- einer Arbeit zitiert zu werden, andernfalls muß ich mich in aller Öffentlichkeit und sehr deutlich distanzieren und meine bisherigen negativen Erfahrungen in dieser Hin- sicht polemisch veröffentlichen.0

Er schloß diesen Brief vom 1. Februar 1971 mit der Drohung: »Ersparen Sie bitte mir und Ihnen eine Pole- mik, die sicher nicht für Sie günstig ist."

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4. Der Kronzeuge

In Heidelberg hielt Professor Halhuber den Aktenordner mit dem Briefwechsel umklammert, als wollte er sich dar- an festhalten. Halhuber, einst als Zeuge der Verteidigung vorgesehen, trat nunmehr als Kronzeuge der Anklage auf, die Dr. Kern vorwarf, er selbst habe sich einem klinischen Test verschlossen.

„Es ist also nicht richtig, daß die Schulmedizin, wie Sie immer sagen, nicht bereit war", erklärte er, vorwurfsvoll an die Adresse von Dr. Kern gewandt, dem Auditorium. „Wir waren schon seit vielen Jahren bereit zu einer Zu- sammenarbeit. Nur müssen wir uns natürlich auf eine Methodik einigen, die wirklich von allen international anerkannt werden kann. Das scheint mir das Entschei- dende zu sein, und ich lege noch einmal auf die Feststel- lung Wert: wir haben das angeboten!"

Weil ich in dem so bedeutsamen Briefwechsel auch bei gründlichem Studium nirgendwo die immer wieder zitierte Ablehnung von Dr. Kern hatte finden können, anderer- seits aber Klarheit über die Hintergründe haben wollte, hatte ich mich - etwa ein halbes Jahr vor diesem Straf- gericht der Schulmedizin - an Professor Halhuber ge- wandt. „Der Vorwurf gegenüber Herrn Kern ist mir un- verständlich. Wenn das Fehlen einer derartigen Doku- mentation bedauerlich ist, dann hätte doch schon längst die Möglichkeit bestanden, sie auch ohne Mitwirkung von

Herrn Dr. Kern zustande zu bringen", schrieb ich in dem Brief unter anderem und stellte die Frage: „Können Sie mich darüber informieren, welches »neutrale Institut* der IGI eine Nachprüfung angeboten hat und ob diese von

Herrn Dr. Kern abgelehnt worden ist?"

Professor Halhuber antwortete liebenswürdig und ent- gegenkommend: „Eine ausreichende Information und Be-

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antwortung dieser Fragen ist meines Erachtens nur in einem persönlichen Gespräch möglich. Ich stelle Ihnen auch wie jedem Interessierten meine gesamten Unterlagen und den Briefwechsel mit Herrn Dr. Kern zur Vergung. Er ist aber so umfangreich geworden, daß ich ihn nicht fotokopieren kann. Ich glaube aber, daß die Öffentlichkeit auch auf diese Weise hergestellt ist. Ich bitte Sie also um einen Besuch in Höhenried."

Dieser Besuch sollte vor allem für den mit mir reisen- den Pressefotografen Uli Skoruppa ein ungewöhnliches Erlebnis werden. Und das kam so: Wir fuhren am 23.4. 1971 gegen 11 Uhr nach Höhenried. Uns begleitete ein mit der Problematik vertrauter Arzt, weil wir bei solchen Anlässen in schöner Regelmäßigkeit zu hören bekamen, daß man über medizinische Fragen nur mit einem Arzt diskutieren könne (was auch in diesem Fall prompt wie- der geschah). Das mehr als einstündige Gespräch wurde auf Tonband aufgenommen, die 37 Seiten umfassende

Abschrift liegt vor.

Sind 200 000 Tote nicht Grund genug*

Professor Halhuber betonte auf meine Frage immer wie- der, Dr. Kern habe eine neutral kontrollierte Studie ab- gelehnt. Weil mein Interview-Partner eine entsprechende Briefstelle aber nicht zitieren konnte und ich schließlich genug davon hatte, daß wir uns immer im Kreis beweg- ten, versuchte ich es anders herum: „Ich zitiere Sie selbst. Sie schreiben an Kern am 13.5.1968: »Ihre Feststellun- gen oder Thesen sind so schwerwiegend, daß die Schul- medizin nicht daran vorbeigehen kann, sondern durch Überprüfung Ihrer Ergebnisse allein zu einer Bejahung oder Verneinung Ihrer Thesen kommen kann.' Warum ist es denn nie zu einer Nachprüfung gekommen?"

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Professor Halhuber: Einfach darum, weil er unsere

Bedingungen nicht akzeptiert hat.**

Aber Sie brauchen Kern doch nicht dazu.**

Halhuber: „Aber erlauben Sie! Natürlich brauche ich

Kern dazu."

„Warum denn?"

Halhuber: „Weil ich andere Sachen sonst in diesem

Fall notwendig habe. Ich habe nicht die Absicht..."

„Aber Sie haben doch eine Reihe Oberärzte, die Ihre..."

Halhuber: „Aber nein, das ist eine Angelegenheit, die muß über mindestens fünf oder sechs Kliniken gehen. Es braucht so viel, ich sage Ihnen, in Amerika sind ja in die- sen Referaten. . . die haben zum Teil die Sachen einge- stellt, weil es einfach zu teuer ist, das zu überprüfen."

„Wenn wirklich, wie Sie hier schreiben, die Thesen so schwerwiegend sind, daß man nicht daran vorbeigehen kann, so muß man doch bei einer Erkrankung (120 000 oder 130 000 Tote sind es in der Bundesrepublik Deutsch- land. Mit Österreich, der Schweiz, Südtirol und der DDR zusammen sind es etwa 200 000 Tote im Jahr allein im deutschsprachigen Bereich), bei einer Erkrankung, die solch eine Auswirkung hat - die WHO spricht von der größten Epidemie aller Zeiten — da müßte man doch eine so schwerwiegende Sache mit oder ohne Dr. Kern nach- prüfen. Es geht doch nicht um ihn. Sie können doch nicht sagen: Ich vertrage mich mit diesem verdammten Fleming nicht, ich spritze kein Penicillin. Schluß, aus. Das ist doch keine Argumentation!"

Halhuber: „Da muß ich sagen, das ist eine ganz andere

Situation."

„Inwiefern eine andere Situation?"

Halhuber: „Ja, in diesem Fall liegt die Beweislast bei dem, der eine Hypothese aufstellt."

Worum ging es hier eigentlich? Um eine dramatisch zu-

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nehmende Erkrankung, die eine kaum übersehbare Zahl von Todesopfern in aller Welt forderte, oder um irgend- welche wissenschaftliche Spitzfindigkeiten und ausgeklü- gelte Spielregeln? Ich fragte:

Uns geht es darum, endlich einmal zu ergründen, war- um in der Bundesrepublik Deutschland seit 1947 sich nie- mand bereit gefunden hat, diese angeblich nicht einwand- freien wissenschaftlichen Arbeiten Dr. Kerns einer exak- ten Dokumentation zuzuführen. Das ist die Frage, die uns als Außenstehende, als Patienten bewegt."

Halhuber: „Da kann ich Ihnen sagen, sie spielt mir keine Rolle in dem Fall. Wenn ein solcher Briefwechsel vorliegt..., ich glaube, mehr kann man doch nicht bewei- sen, daß man interessiert ist, daran etwas zu tun. Ich bin es heute nicht mehr. Ich sage es Ihnen. Weil ich andere Probleme habe. Ob Sie mich anklagen - jedenfalls wenn Sie es tun, dann müßten Sie die gesamte übrige Schul- medizin wesentlich mehr anklagen. Ich kann nur sagen, es ist nicht zu einer echten Zusammenarbeit gekommen, weil wir eine verschiedene Sprache sprechen."

Das ist in der Medizin manchmal so"

Einmal unterschiedliche Spielregeln, das andere Mal Sprachschwierigkeiten. Der uns begleitende Arzt fragte:

»Wie viele müssen denn noch sterben, bis jemand in der

Lage ist, einen derartigen Nachweis zu erbringen?"

Professor Halhuber, lakonisch: Das ist in der Medizin manchmal so. Wobei ich Ihnen sage - kein Mensch hindert doch jemanden, Strophoral zu nehmen."

Ich kann nicht einmal behaupten, daß er das zynisch meinte. Es war wohl einfach seine persönliche Art, reali- stisch zu sein. Das ganze Gespräch war nicht mehr als eine

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Zeitverschwendung gewesen. Aber Professor HalKuber schien anderer Meinung zu sein; er maß ihm plötzlich überraschend große Bedeutung bei. Denn er verlangte zum Abschluß, daß das Tonband gelöscht würde. Als ich mich nicht dazu bereit erklärte, sollte ich einen Vordruck unterschreiben, der mich dazu verpflichtet hätte, nichts ohne die Genehmigung von Professor Halhuber zu publi- zieren. Ich lehnte das ab. Darauf rief er seine Sekretärin herein und sagte mit kaum unterdrückter Wut: „Ich er- kläre hiermit, dieses Gespräch hat nicht stattgefunden."

Als er später, wie zugesagt, die Abschrift des Tonbandes erhielt, schrieb er an midi: „Ich habe den Eingang der Tonbandniederschrift unseres Gespräches am 23.4.1971 noch nicht bestätigt. Rechtlich hat dieses Gespräch für mich nicht stattgefunden, da Sie mir die erbetene Zustimmung verweigert haben, daß über dieses Gespräch und aus die- sem Gespräch nur publiziert werden darf, was ich von mir aus als autorisiertes Interview anerkenne."

Er bedauerte die Atmosphäre, in der das Gespräch statt- gefunden habe, denn er hätte ein bißchen den Eindruck gehabt, „vor ein Tribunal zitiert worden zu sein, was mich verärgern mußte". Schließlich habe sich in der Vergangen- heit kaum jemand so positiv für Dr. Kern eingesetzt wie er. „Der Hauptgrund, warum ich mit dem Gespräch nicht zufrieden war, dürfte meine unvorhergesehen zeitliche Terminbedrängnis gewesen sein (im Nebenraum warteten eine südafrikanische Besuchergruppe und in der Ärzte- bibliothek meine Mitarbeiter zu einer wichtigen Bespre- chung, und um 15.00 Uhr sollte ich beim Zahnarzt in Innsbruck sein). Man kann nicht auf drei Hochzeiten gleichzeitig tanzen. So muß sich das in der formalen Qua- lität meines Gesprächsanteils niederschlagen."

Was sollte das? Wer bemaß seine Aussagen nach stili- stischen oder grammatikalischen Maßstäben? Ich hatte in

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der Hitze der Diskussion auch nicht gerade druckreif ge- sprochen.

Und Zeitnot? Er hatte uns zu diesem Gespräch gebeten, er war täglich mit diesem Themenkomplex konfrontiert, er hatte unsere Fragen vor unserem Erscheinen gekannt. Worauf wollte Professor Halhuber hinaus? Gestand er doch auch zu, daß er vom Sachlichen her seiner Aussage vor allem in den abschließenden zusammenfassenden Sät- zen** nichts hinzuzufügen habe. Dort hatte er noch einmal wiederholt, was er in dem Gespräch unermüdlich betont hatte: Grundsätzliche Bereitschaft, andere müssen auch mitmachen, auch Dr. Kern, neutrale Stelle, schematisierte Dosierung... Na also. Woran gebrach es noch?

„Hochmütig, unlogisch, geschmacklos"

Professor Halhuber meldete sich noch ein letztes Mal: „Bei dieser Gelegenheit darf ich Sie daran erinnern, daß ich ausdrücklich festgestellt habe, daß mein damaliges Inter- view nicht stattgefunden hat. Falls Sie daraus Teile in ir- gendeinem Zusammenhang zitieren oder publizieren, muß ich vorsorglich darauf aufmerksam machen, daß ich recht- liche Schritte unternehmen würde."

Dr. Kern hatte er mit „Unheil** gedroht, mir mit dem Gericht. Einschüchterungsversuche gehörten also offensicht- lich zu diesem Stil.

Uli Skoruppa freilich sah sich schon als Großmeister der Linse in den siebenten Fotografenhimmel eingehen, weil es ihm gelungen war, etwas auf den Film zu bannen, was es gar nie gegeben hatte. Das Gespräch, simsalabim, hatte nicht stattgefunden. Was vier Personen miteinander gesprochen hatten, war nie geredet worden. Einfach so.

In Höhenried hatten wir Professor Halhubers Äuße-

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rang noch als ein unbedachtes Wort im ersten Zorn auf- gefaßt. Jetzt lag sie uns schriftlich vor. Welchen merk- würdigen Vorstellungen unterlag er eigentlich, wenn er mit rechtlichen Mitteln Tatsachen ungeschehen machen wollte? Vielleicht sollte man ihn an seinen ersten Brief an mich erinnern, der dokumentiert, zu welchem Sinnes- wandel dieser Mann fähig ist:

0 „Ich bitte Sie also um einen Besuch in Höhenried. Ein Gespräch unter Zeugen oder mit Tonbandauf- zeichnung ist meines Erachtens auch gegenüber Herrn Kern korrekt und fair."

Aber von Fairneß gegenüber Dr. Kern wollte er schon bald nichts mehr wissen. Er streute überall aus, seiner Meinung nach sei dieser „monomane" Strophanthin-An- hänger „paranoid" und habe sich „in ein geschlossenes Wahnsystem" verstrickt. Nun, er hatte ja Dr. Kern vor einer Polemik gewarnt, „die sicher nicht für Sie günstig ist".

Als Professor Halhuber zusammen mit anderen Hono- ratioren seiner Zunft in dieser Weise Anklage erhob ge- gen den verrückten, verantwortungslosen Außenseiter, fühlte ich mich an die bitteren Worte Sigmund Freuds er- innert, mit denen er das Verhalten der damaligen Vertre- ter deutscher Wissenschaft gegenüber der Psychoanalyse anprangerte: „Ich beziehe mich dabei nicht auf die Tat- sache der Ablehnung oder auf die Entschiedenheit, mit der sie geschah; beides war leicht zu verstehen, entsprach nur der Erwartung und konnte wenigstens keinen Schatten auf den Charakter der Gegner werfen. Aber für das Aus- maß von Hochmut und gewissenloser Verschmähung der Logik, für die Roheit und Geschmacklosigkeit der An- griffe gibt es keine Entschuldigung."

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5. „Ungeheurer Vorwurf gegen alle Ärzte9'

Professor Grosse-Brockhoff war von Kopf bis Fuß auf

Würde eingestellt, als er dis Schlußabrechnung mit Dr. Kern einleitete. Ein Höchstmaß an Verantwortung schwang in seiner Stimme mit, seine Worte waren vom Pathos gesamter ärztlicher Ethik getragen: Sie haben durch diese Behauptungen eine Unsicherheit in der Patien- tenschaft hervorgerufen, daß ich mich frage, wie Sie das verantworten können. Wir hatten gedacht, daß Sie uns heute wenigstens konkrete Anhaltspunkte und konkrete Unterlagen geben würden für diese Behauptungen. Ich muß aber feststellen, daß nach der bisherigen Diskussion die Antworten, die Sie auf präzise Fragen gegeben haben, keine Antworten waren, sondern ein Ausweichen."

Präzise Fragen, keine präzisen Antworten — diese For- mulierung wurde von den Teilnehmern des Heidelberger Kolloquiums immer wiederholt. Prompt fand sie in der Öffentlichkeit vielfältigen Niederschlag. Aber Professor Grosse-Brockhoff hatte noch ein anderes Ziel im Auge. War es doch in erheblichem Ausmaß seinem Einfluß zuzu- schreiben gewesen, daß nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik Deutschland Strophanthin durch Digi- talis verdrängt wurde. Er hatte angeregt, „von einem Tag auf den anderen" von der Strophanthin- auf die Digitalis- Therapie „umzuschalten". Aus dem Ausland, vor allem aus den USA war der Vorwurf laut geworden, die deut- sche Medizin sei geradezu versessen auf das in diesem Aus- maß nur noch von ihr angewendete Strophanthin, obwohl sie nicht einmal vertretbare Gründe dafür ins Treffen füh- ren könne. Und aus Schweden wurde das böse Wort kol- portiert, die deutsche Ärzteschaft leide an einer „Stroph- anthin-Enzephalitis", an einer Verwirrtheit des Gehirns mit einer verschrobenen Vorliebe für dieses Medikament.

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Dieser Spott war Anlaß genug gewesen, die schändliche Tradition auf der Stelle abzuschütteln und sich den allge- meinüblichen Bräuchen in anderen Ländern anzuschließen, die bis heute keine Erfahrung mit Strophanthin haben.

Nicht nur, daß Dr. Kern starrköpfig weiterhin Stroph- anthin bevorzugte, er hatte es sich zudem angelegen sein lassen, die doch so wohlbegründete Digitalis-Therapie in Mißkredit zu bringen. Professor Grosse-BrockhofF legte deshalb das ganze Gewicht seiner Persönlichkeit in die Worte: „Weiterhin haben Sie gesagt, Strophoral mache den Herzmuskel wieder euthetisch (gesund), Digitoxin da- gegen mache Herzinfarkte. Damit erheben Sie einen er- neuten ungeheuren Vorwurf gegen die gesamte Ärzte- schaft der Welt, denn damit sagen Sie, daß diese Behand- lung, die in der ganzen Welt bei insuffizienten Herzen, bei Herzinfarkt durchgeführt wird, infarkterzeugend ist. Wo ist ein einziger Beweis, frage ich Sie, Herr Kern, wo haben

Sie einen Beweis für die Behauptung, die Sie aufstellen?"

Jetzt sah auch Professor Heinecker wieder seine Stunde gekommen: Ich bohre nach, Herr Kern. Aber bevor ich nachbohre, will ich den letzten Gedankengang von Herrn Professor Grosse-Brockhoff noch einmal aufgrei- fen: das ist die Verunsicherung unserer Patienten, daß Di- gitalis linksventrikuläre Schäden macht. Wir haben im Ekg ST-Senkungen, die auf eine Veränderung im elektri- schen Vorgang in den Innenschichten des linken Ventrikels schließen lassen. Kein Mensch redet von einer Schädigung. Es ist sogar so — das wollen wir doch einmal in aller Klar- heit deutlich machen -: Zu einer optimal dosierten Di- gitalis-Therapie gehören ST-Senkungen. Wer das nicht ge- lernt hat, hat einfach ein Grundprinzip der Inneren Medi- zin nicht begriffen!"

Diese sogenannte ST-Strecke des Elektrokardiogramms spielt bei der Diagnose von Herzerkrankungen eine wich-

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tige Rolle. Auftretende Senkungen gelten als Schadens- zeidien. Wie heißt es bei Professor Büchner, dem Groß- meister der Koronar-Theorie? Beim Menschen führt die akute Koronarinsuffizienz häufig zum kurzandauernden Anfall von Angina pectoris. Dementsprechend sind im spontanen oder provozierten Angina-pectoris-Anfall re- versible deszendierende Senkungen des ST-Segments nach<- weisbar." Diese elektrokardiografischen Veränderungen sind für ihn Ausdruck von Stoffwechselstörungen der Myokardzellen".

Kranke Herzen sind gegen Digitalis empfindlich

Bei Digitalisbehandlung aber sollen die dabei auftreten- den ST-Senkungen nicht durch Stoffwechselstörungen her- vorgerufen werden, also unschädlich sein, und wer das nicht anerkennt, der hat halt ein Grundprinzip der Inne- ren Medizin nicht begriffen. Ist es wirklich damit getan, sich mit einem Dogma abspeisen zu lassen?

Immerhin wird doch schon seit eh und je Klage darüber geführt, daß gerade diejenigen Patienten Digitalis am we- nigsten vertragen, die es am meisten brauchen. In immer größerem Ausmaß werden durch die heutige aktivere Ver- wendung von Digitalis bei Patienten mit Erkrankungen des Herzens schwerwiegende Störungen der Herzfunktion erzeugt", so der New Yorker Spezialist Professor Kowal. „Obwohl gerade dieses Medikament eine so große Rolle spielt in der Behandlung der Herzinsuffizienz und be- stimmter Arrthythmieformen, ist es doch auch verant- wortlich für ausgeprägte Störungen der Herzfunktion, so daß seine Anwendung gar nicht selten zum Tode führt."

Diese Empfindlichkeit kranker Herzen gegen Digitalis kam in Heidelberg nicht zur Sprache. Die beunruhigenden

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ST-Senkungen wurden widerspruchslos als Merkmal einer optimalen Therapie hingenommen.

Dabei gibt es in der älteren Literatur genügend Fest- stellungen bezüglich ungünstiger Auswirkungen der Digi- talis-Therapie. Es wurde deshalb betont, daß Stroph- anthin bei klinischer Behandlung der Digitalis entschieden vorzuziehen sei. Audi bei Professor Albert Fraenkel, der die Gesetze der oralen Strophanthin-Resorption noch nicht kannte und aus Gründen einfacherer Dosierbarkeit die intravenöse Strophanthin-Behandlung entwickelt hatte, finden sich entsprechende Hinweise. Nur hatte er sich nicht erklären können, worauf diese qualitativ andersartige Wirkung zurückzuführen sein könnte. Immerhin wandte er so gut wie ausschließlich die intravenöse Strophanthin- Therapie an, obgleich die intravenöse Digitalis-Anwen- dung damals längst schon gebräuchlich war. Auch erzielte er seine ersten Erfolge an solchen Patienten, bei denen die Digitalis-Behandlung versagt hatte.

Vielen Forschern hatten solche Beobachtungen zu den- ken gegeben. Zwar waren die beiden Medikamente in ih- rer Struktur und in ihrer herzstärkenden Wirkung einan- der sehr ähnlich. Aber es gab offensichtlich auch unter- schiedliche Effekte, die noch experimentell erforscht wer- den mußten.

Das vermutlich bedeutsamste Experiment wurde 1941 am Institut für experimentelle Pathologie der Universität Wien ausgeführt. Der junge Wissenschaftler Dr. Blumen- cron konnte dabei zeigen, daß Strophanthin die Verwer- tung der Milchsäure durch das Herz steigert. Solch eine „mächtige Steigerung" der Verwertung von Milchsäure bedeutet aber, daß der Säurewert zurückgeht und damit die Gefahr des Äbsterbens von Muskelgewebe gebannt ist. In der gleichen Versuchsreihe wurde auch Digitalis verab- reicht. Unter Einwirkung dieses Medikaments kam es aber

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zum plötzlichen Absinken bzw. Aufhören** der Verwer- tung von Milchsäure, das heißt: die Übersäuerung und da- mit die Infarktgefahr nahm zu.

0 Der entscheidende Unterschied zu früheren Experi- menten lag bei Dr. Blumencron darin, daß er mit insuffizienten", mit vorgeschädigten Herzen arbei- tete. Hatte man bei Untersuchungen an gesunden Herzen eine Gleichartigkeit von Strophanthin und Digitalis gefunden, so war jetzt aufgezeigt worden, daß sie am kranken Herzen gegensätzlich wirkten!

Professor Hans Sarre hatte zu Beginn der 40er Jahre als junger Dozent an der Frankfurter Universitätsklinik Untersuchungen über die „Ursachen der gegensätzlichen Wirkung von Strophanthin und Digitalis** angestellt, über die auch im Zusammenhang mit Verhütung von Angina pectoris und Herzinfarkt berichtet wurde. Der Lehre ge- mäß führte Dr. Sarre diese Krankheiten auf eine Coro- narinsuffizienz** zurück.

Schon bei früheren Erprobungen der Digitalispräparate fiel auf, daß bei Angina pectoris und überhaupt bei Coro- narinsuffizienz Digitalispräparate oft schlecht vertragen werden, während in diesen Fällen Strophanthin keine Be- schwerden macht und die Anfälle oft beseitigt**, schrieb er in einer Arbeit von 1943. „Inzwischen haben wir an einem größeren Krankengut immer wieder die Erfahrung ge- macht, daß bei Coronarsklerose mit Angina pectoris Digi- talis meist die Zahl der Anfälle vermehrt, während

Strophanthin sie verringert.**

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Strophanthin schützt das Herz vor Sauerstoff-Mangel

Als Direktor der Medizinischen Universitäts-Poliklinik

Freiburg ging er zehn Jahre später diesem erstaunlichen

Gegensatz der beiden Herzmittel auf den Grund. In seiner Veröffentlichung über „Strophanthin-Behandlung bei An- gina pectoris" berichtet er über seine klinischen Experi- mente mit Hilfe einer Sauerstoff-Mangelatmung. Dabei wurde „Patienten eine Spezial-Gummimaske angelegt, die Mund und Nase umschloß, gut abdichtete und dennoch ein bequemes Atmen ermöglichte. Die Gummimaske stand mit einem sogenannten ,Lungenautomaten* in Verbindung, der an eine Stahlflasche angeschlossen war und ein Gas- gemisch von 9,5 Prozent Sauerstoff und 90,5 Prozent

Stickstoff enthielt.

Der ,Lungenautomat* ermöglichte eine fast widerstands- lose Einatmung des Gasgemisches aus der Flasche, wäh- rend die Ausatmung durch ein Ventil ins Freie erfolgte."

Durch das Einatmen des Gemisches mit zu geringem Sauerstoffanteil kam es bei den Herzkranken zum Auf- treten von Schmerzen. Die Patienten gaben durch Hand- zeichen zu verstehen, wann die Schmerzen einsetzten. Die Zeiten wurden mit einer Stoppuhr registriert, außerdem wurde alle fünf Minuten ein Ekg geschrieben.

Der gleiche Versuch wurde auch nach vorheriger Ver- abreichung von Digitalis vorgenommen. Der Vergleich der Ergebnisse ist überaus aufschlußreich: Unter Stroph- anthin war die Zeit bis zum Auftreten der Schmerzen meist verlängert, was bedeutet, daß Strophanthin das Herz vor Sauerstoff-Mangel schützt. Unter Digitalis wurde dagegen ein verkürzter Zeitraum bis zum Auftre- ten der Schmerzen registriert: Digitalis hatte den Zustand kranker Herzen verschlechtert.

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Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die unter Mangelatmung und Medikation hervorgerufenen Veränderungen im Ekg. Schon unter Sauerstoff-Mangel hatte sich das ST-Stück gesenkt. Unter Digitalis wurde die Senkung noch stärker. Dagegen konnte Professor Sarre nach Strophanthin-Gabe notieren: „Fast Normalisierung des Ekgs."

Es scheint uns andererseits wesentlich, zu betonen", hatte er schon früher festgestellt, daß die geprüften Digi- talispräparate die Verhältnisse am coronarinsuffizienten Herzen nicht nur nicht bessern, sondern gar verschlech- tern".

Jetzt stellte er zusammenfassend fest: „Wir ziehen aus diesen Untersuchungen die praktische Schlußfolgerung, daß wir bei der Coronarinsuffizienz mit oder ohne Angina pectoris Strophanthin geben und Digitalis vermeiden."

So weit die Forschung. Von der Lehre werden solche Ergebnisse bis heute nicht beachtet.

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STROPHANTHIN

UND DIGITALIS

LEHRSATZ

Die Wirkung von Strophanthin und Digitalis ist gleichartig. Beide Medikamente erhöhen die Pump- leistung des Herzens und haben damit eine Kraft- wirkung. In derVerwertung von Milchsäure und da- mit in der Wirkung auf den Stoffwechsel gibt es keinen Unterschied.

KERN-SATZ

Die Wirkung von Strophanthin und Digitalis ist gegensätzlich. Gleichartig sind die beiden Medika- mente nur in der Kraftwirkung. Strophanthin hat aber zusätzlich eine Heilwirkung, weil es die Ver- wertung von Sauerstoff und Milchsäure wiederher- stellt und durch diese Stoffwechsel-Wirkung die Übersäuerung verhindert.

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6. Wie der Spieß umgedreht wurde

Kein einziger der versammelten Pharmakologen kam an diesem Nachmittag auf die bahnbrechenden Arbeiten von Professor Sarre oder von Professor Blumencron zu spre- chen. Wenn Messungen und objektivierbare Fakten im Sinne einer naturwissenschaftlich orientierten Medizin für Dr. Kern sprachen, wurden sie aus der Diskussion ausge- klammert. Und als die Rede auf unterschiedliche Ekg- Kurven unter Strophanthin und Digitalis kam, höhnte Professor Heinecker nur: Ich habe diesen Quatsch nach- gemacht !" Er erhielt stürmischen Beifall und erzählte dar- aufhin nicht ohne Stolz, er habe sich auch nicht davon ab- bringen lassen, obwohl ihn seine Studenten deswegen fast ausgelacht hatten. Ja, er konnte unkorrigiert berichten, daß er bei seinen Versuchen eine zu geringe Dosis gewählt und diese deshalb von vornherein entwertet hatte.

Je gewisser die Professoren ihres Sieges wurden, um so unwürdiger wurden ihre Attacken, um so rücksichtsloser gingen sie mit ihrem fast völlig wehrlosen Gegner um. Die Inquisition erinnerte manchmal an Szenen aus einem Hollywoodfilm. Fragte der Düsseldorfer Kliniker Profes- sor Loogen: „Sie haben gesagt, es sei kein Zufall, daß ge- rade dort, wo man Strophanthin aus dem Handel gezogen habe beziehungsweise aus der Therapie, die Infarktquote besonders stark angestiegen sei. Hat Strophanthin eine prinzipiell andere Wirkung als Digitalis, beziehungsweise bestehen Sie weiterhin darauf, daß Digitalis infarktge- fährdend ist? Das ist eine entscheidende Frage. Ja oder nein? Und wenn Sie das weiter tun, dann möchte ich gern wissen: Worauf beruhen Ihre Berechnungen, wo haben Sie

Ihre Statistiken her?"

Es klang beinahe flehentlich, als Dr. Kern sagte: „Wir sehen immer wieder..."

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Professor Loogen unterbrach sofort: „Können Sie mir die Quellen nennen?**

„Wir sehen immer wieder: Je schlechter ein Linksmyo- kard dran ist, desto schlechter reagiert es auf Digitalis."

Professor Loogen beharrte auf seiner Frage: „Ich habe konkret gefragt: Können Sie mir die Stellen nennen, wo die Infarktquote besonders angestiegen ist, nachdem

Strophanthin abgesetzt worden ist?"

Hatte Dr. Kern schon zu Beginn wie ein Amateur unter Professionals gewirkt, so brachte er in dieser Schlußphase nicht einmal mehr die Fäuste nach oben, wenn die Schläge auf ihn einprasselten. Wären die Chancen gleich verteilt gewesen, dann hätte Dr. Kern in dieser Situation einen schweren Treffer landen können. Denn Professor Loogen und seine Gesinnungsgenossen gaben sich in diesem Augen- blick eine gefährliche Blöße:

War es doch etwa zwei Jahrzehnte her, daß in der Bun- desrepublik Deutschland Strophanthin offiziell seine Son- derstellung zugunsten der Digitalis verloren hatte. Seit dieser Inthronisierung der Digitalis-Therapie aber hatte die Zahl der Herzinfarkte lawinenartig zugenommen. Der statistische Zusammenhang ist offensichtlich. Und keiner im Saal konnte den Beweis antreten, daß die zur Diskus- sion stehende Therapie daran gänzlich unbeteiligt war.

Es wäre also sachlich richtig gewesen, wenn Dr. Kern geantwortet hätte: In der Bundesrepublik Deutschland ist die Infarktquote angestiegen, nachdem Strophanthin ab- gesetzt worden ist. Aber er war zu diesem Konterschlag nicht mehr fähig, und Professor Loogen konnte triumphie- rend feststellen:

„Sie haben also keine Statistiken?"

„Ich persönlich nicht. Das habe ich vorhin schon gesagt, denn ich habe ja keine.. .*

„Das genügt mir, vielen Dank." Professor Loogen ge-

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fiel sich in der Pose eines Staatsanwaltes, der den Ge- schworenen eindrucksvoll demonstriert, was sie von einem Angeklagten zu halten haben.

Auch das noch: ein Falschzitat...

Dr. Kern war so vermessen gewesen, nicht nur seine eigene Behandlungsmethode als überlegen hinzustellen, er hatte vor allem die offizielle Therapie als schädlich abgetan. Seit Stunden war immer wieder einer der Redner auf diesen Punkt zu sprechen gekommen. Ständig wurde Dr. Kern nach Beweisen für seine Behauptung gefragt. Hier mußte ein Exempel statuiert werden. Endlich gelang es seinen Gegnern, dem Ketzer das nachzuweisen, was sie ihm schon den ganzen Tag lang nachgesagt hatten - ein Falschzitat. Dr. Kern berief sich auf den amerikanischen Forscher Tuttle. Sofort wurde er unterbrochen: Falsch zitiert". „Ich habe nach Raab zitiert."

Hier ist die Arbeit von Tuttle. Alles falsch zitiert.**

„Ich kann mich nur auf das berufen, was in der Litera- tur steht."

„Das steht nicht in der Literatur. Hier ist die Arbeit, bitte: kein Wort davon!"

Kern hatte die Angaben eines anderen unbesehen über- nommen und die Originalarbeit nicht eingesehen. Er war am Ende seiner Nervenkraft: „Wenn es sich jetzt heraus- stellt, daß es nicht stimmt, dann muß es natürlich bei der nächsten Auflage heraus, das ist ja klar. Es kommt mir gar nicht darauf an, was der eine oder andere gesagt hat. Es kommt mir darauf an, daß es dem Patienten besser geht. Wenn man das Linksmyokard laufend therapiert, daß die Symptome wegbleiben, dann sieht man eben: es bleiben auch die Infarkte weg. Bitte, dieses Ur-Faktum

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wollen wir doch festhalten! Wir wollen es doch nicht zer- reden mit irgendwelchen Kalium-Ionen oder Magnesium- Ionen, die vielleicht stimmen oder auch nicht. Immer wie- der bitte ich darum: prüft das Ur-Faktum doch nach, gebt es einmal den Patienten!"

Auch wenn er sich aufs Bitten verlegte und an die Ver- nunft appellierte - den Vorwurf des Falschzitats brachte er damit nicht mehr weg. Seine Gegner lauerten ja nur darauf, ihn durch das Aufdecken von Fehlern unglaub- würdig zu machen. So auch, als Dr. Kern auf einen der angesehensten alten Pharmakologen hinwies: „Eichholtz schreibt zum Beispiel in seinem Lehrbuch, ein hervorste- chendes Merkmal des Strophanthins sei die Verbesserung der Sauerstoff-Ausnutzung im Gegensatz zur Digitalis.

Diese Dinge kann man doch nicht..."

Professor Kuschinsky, Wortführer der Pharmakologen, unterbrach: „Er spricht von Strophanthin, aber er spricht in diesem Zusammenhang nicht von Digitalis.**

Dr. Kern bestand auf seiner Aussage: „Im Gegensatz zur Digitalis."

„Nein, das sagt er nicht. Wir haben extra nachgesehen.

Sie zitieren auch an dieser Stelle falsch."

Die anwesenden Journalisten horchten auf. Schon wie- der ein Falschzitat. Es wurde immer peinlicher.

Dr. Kern sagte mit belegter Stimme: „Ich habe die Auf- lage von 1947."

Frau Dr. Weber herrschte ihn an: „Der gleiche Text ist beibehalten worden bis zur neunten Auflage!"

Keiner der Zuhörer glaubte Dr. Kern noch, als er ant- wortete: „Ich kann nur sagen, in meiner Auflage steht es so: Im Gegensatz zur Digitalis. Ich habe meinen Bücher- schrank nicht mitgebracht, es tut mir leid."

Der Griff in die Bibliothek ließ sich anderntags leicht nachholen. Und siehe da: Dr. Kern hatte richtig zitiert.

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Denn früher war wohlbekannt, was jetzt, weil es nicht in die Theorie paßte, als Falschzitat unterstellt wurde. Pro- fessor Sarre schreibt zusammenfassend über seine Unter- suchungen: So geben diese Befunde vollständig Edens recht, der sich für die Strophanthus-Therapie auch beim Myokardinfarkt einsetzte. Und sie geben die Erklärung für die "Wirkung des Strophanthins bei der Angina pec- toris und anderen Formen der Coronarinsuffizienz, die nicht nur der Digitalis überlegen, sondern direkt entgegen- gesetzt ist."

Tatsachen, die ausgeklammert wurden

Wie war es überhaupt noch zu erklären, daß von sämt- lichen in Heidelberg auftretenden Fachleuten die Gleich- wertigkeit zweier Medikamente behauptet wurde, deren Wirkung als direkt entgegengesetzt" längst erkannt und mit objektiven Methoden bestätigt werden konnte? Pro- fessor Sarre erklärt: „Man kann mit Volhard sagen: Je kränker das Herz, desto weniger Digitalis soll man ge- ben.' Das heißt, die Digitalis-Empfindlichkeit nimmt mit der Schwere des Myokardschadens zu."

Dr. Kern stützte sich in Heidelberg auf die gleiche Ar- gumentation: „Ich darf jetzt noch einmal auf die Dinge hinweisen, die hier weniger bekannt sind. Darum geht es doch nun. Wir wollen doch über den bisherigen Bestand, den wir alle von früher kennen, weiterkommen. Es geht doch darum, daß auffallend viele Linksherz-Patienten un- ter Digitalis sich einfach schlechter fühlen. Solche Beob- achtungen kann man doch nicht einfach vom Tisch wischen. Wenn Sie einmal von dem Prinzip ausgehen, daß Sie diese Angaben ernst nehmen, dann kommen Sie doch zu quali- tativen Unterschieden."

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Dieser qualitative Unterschied tritt aber nicht nur ne- gativ in Erscheinung: Digitalis wirkt nachteilig auf vorge- schädigte Herzen. Er zeigt sich auch positiv: in einer be- sonderen Heilwirkung des Strophanthins.

Gemeinhin wird die Wirksamkeit der Herzglykoside, zu denen Strophanthin und Digitalis gehören, daran ge- messen, ob sie die Pumpleistung des Herzens verstärken. Auf diesem Gebiet sind die beiden Arzneien einander an- erkannt ebenbürtig (von dem Resorptions- und Dosie- rungsgezänk um das orale Strophanthin einmal abgese- hen).

Daneben hat aber Strophanthin einen einzigartigen Ef- fekt, nämlich den, wie Dr. Kern in Heidelberg ausführte, „daß die geschädigte Myokardzelle (nicht die gesunde, vorerst möchte ich annehmen, daß die gesunde es nicht tut), daß also die geschädigte Myokardzelle durch Stroph- anthin in die Lage versetzt wird, ihren Sauerstoff wieder normal zu utilisieren (zu verwerten)".

Professor Sarre war der erste gewesen, der 1943 auf- grund der Ergebnisse seiner Strophanthin-Experimente diesen Gedanken geäußert hatte: „Es könnte sich aber auch um eine bessere Ausnutzung des Sauerstoff-Angebots handeln.**

Damit war der Begriff der besseren Sauerstoff-Nutzung in diesem Zusammenhang eingeführt worden. Gesteigerte Utilisation bedeutete, daß der Sauerstoff von der Herz- muskelzelle besser verwertet wurde. Professor Sarres Überlegung wurde 27 Jahre später von Professor von Ardenne im Experiment bestätigt. Und es stellt sich wie- der die Frage, warum mehr als ein Vierteljahrhundert vergehen mußte, bis diese Wirkung eines Herzmittels von der Grundlagenforschung bestätigt wurde: die metaboli- sche Wirkung, die günstige Beeinflussung des Herz-Stoff- wechsels durch Strophanthin.

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Weil dieser Effekt bisher keine Beachtung durch die Lehrmedizin gefunden hatte, wies Dr. Kern in Heidel- berg mit Nachdruck darauf hin: „Mir geht es immer wie- der darum - ich betone es: die metabolische Wirkung des Strophanthins. Die haben Sie nun ja aus den Kurven von Ardenne gesehen. Wenn irgendeine Schädigung gesetzt wird, beispielsweise eine Hyperglykämie (zuviel Zucker im Blut), dann geht das pH herunter. Wenn man dann Strophanthin gibt, ist es sofort wieder nach oben, inner- halb von zehn Minuten. Das ist doch keine energetische

Wirkung. Das ist doch keine Herzinsuffizienz gewesen.**

Nicht um die Behandlung einer Leistungsminderung ging es bei der Verabreichung von oralem Strophanthin zur Infarktverhütung also, sondern um die Behandlung von Vorschäden, die später allerdings auch zu solch einer Insuffizienz des Herzens führen können. Darum wollte Dr. Kern erreichen, daß die Kliniker neben der energeti- schen endlich auch die metabolische Wirkung des Medi- kaments erkannten.

Aber das stand nicht im Programm. Die Pharmako- logen teilten Dr. Kern ex cathedra mit, bezüglich der Milchsäure-Verwertung als Ausdruck der Sauerstoff-Utili- sation besteht keinerlei qualitativer Unterschied" zwi- schen Strophanthin und Digitalis. Zusammenfassend er- klärte Professor Kuschinsky: „Es gibt überhaupt keinen experimentellen Hinweis dafür, daß Strophanthin oder andere Herzglykoside eine unterschiedliche Wirkung auf die Muskulatur des linken und rechten Herzens haben."

Das Digitalis-Dogma war formuliert. Der Strophan- thin-Streit war von Amts wegen beigelegt. Wenn es ein Arzt in Zukunft wagen wollte, sich über die ältere Glyko- sid-Literatur Gedanken zu machen, stempelte er sich selbst zum Außenseiter.

yStrophanthin ist gefährlich*

Die Ordinarien, gereinigt von den ehrenrührigen Anwür- fen, mit denen sie sich beschmutzt gefühlt hatten, waren offensichtlich zufrieden von dem Erfolg ihrer Riesen- wasdikraft. Einen der dunkelsten Flecken hatten sie frei- lich immer noch nicht aus der sonst blütenweißen Weste entfernen können: die Drohung mit dem Staatsanwalt.

Dr. Kern hatte bei jeder Gelegenheit Professor Edens zitiert, der 1943 nach 15 Jahren Erfahrung mit derStroph- anthin-Behandlung als Vermächtnis die Prophezeihung hinterlassen hatte, es werde bald die Zeit kommen, in der man die Unterlassung der rechtzeitigen Strophanthin- Behandlung als Kunstfehler beurteilen werde *.

Der Vorwurf eines Kunstfehlers in der Medizin kommt dem Ruf nach dem Staatsanwalt gleich: Gefängnis wegen fahrlässiger Tötung.

„Wir anderen Ärzte, die wir nicht nach Kern'schem Muster behandeln, stehen unter dem massiven Vorwurf, unsere Angina-pectoris-Patienten und unsere Infarkt- patienten falsch zu behandeln. Es wird uns ja mit dem Staatsanwalt gedroht, daß wir nicht mit oralem Stroph- anthin behandeln, weil wir so bornierte Schulmediziner sind", stachelte Professor Heinecker das Auditorium an. Seine wirkungsvolle Gegenatta style="margin-left:.5pt;">221

Beflügelt durch den starken Beifall schloß sich Professor

Schettler seinem Vorredner an: Ich habe eine Reihe von

Fällen, die mit Digitalis gut eingestellt waren und die im Zuge der jetzt anlaufenden Welle auf Strophanthin per os umgesetzt worden sind, die mit schwersten Dekompensa- tionserscheinungen bei uns aufgenommen worden sind. Wir müssen auf diese Fälle achten, denn hier entsteht echter

Schaden."

Dr. Kern war schon längere Zeit vorher mit dem Vor- wurf konfrontiert worden, daß Patienten trotz oder gar wegen seiner Behandlung an einem Infarkt gestorben seien. Als er aus diesem Grund bei Professor Schettler an- gefragt hatte, zog es dieser vor, zu seinen eigenen Angaben nicht weiter Stellung zu nehmen und auf eine Antwort zu verzichten.

Auch Professor Spang hatte ähnliche Behauptungen auf- gestellt und in einem längeren Briefwechsel zunächst das Namhaftmachen von derartigen Fällen zugesagt. Später hatte er sich dann aber geweigert, diese Zusage zu erfül- len.

Das alles hinderte die Professoren nicht, mit Hilfe sol- cher Behauptungen den Spieß umzudrehen: Strophanthin- Behandlung ist gefährlich. Großzügig verzichteten sie dar- auf, eine Dokumentation vorzulegen, obwohl sie diese Beweisführung seit Stunden von ihrem Gegner forderten. Genügte es doch, wenn die Öffentlichkeit den Eindruck gewann, daß der Ketzer mit einem Bein im Kittchen stand...

223

2

. HEIDELBE

RGER DOGMA

 

Es gibt keine unterschiedliche Wirk

-

 

samkeit von Strophanthin und Di

-

 

gitalis. Weil aber die Digitalis

-

Pille

 

exakt,

die

Strophant

b

in

-

Pi

ll

hin

e

-

 

nur

unzuverlässig

dosiert

gegen

 

werden

kann,

ist

bei

oraler

Ver

-

 

abreichung

die

Digitalis

-

Tablette

 

das

Mittel

der

Wahl.

Die

Stro

-

 

phanthin

-

P

ill

e aber ist gefährlich.

 

 
 

 

7. Nicht jeder Herztod ist ein Infarkt

Die eine der beiden streitenden Parteien propagierte Strophanthin, die andere Digitalis. Deshalb waren jetzt die Digitalis-Anhänger nach Kräften darum bemüht, die Gegenseite zu widerlegen. Die theoretische Kraftmeierei um Resorptions- und Dosierungsfragen des oralen Stroph- anthins darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich die Behandlung des Arbeitskreises um Dr. Kern keines- wegs auf dieses Medikament allein beschränkt.

Der Stuttgarter Arzt hatte im Laufe der Heidelberger Diskussion mehrfach darauf hingewiesen, daß er „mehr- gleisig fahre", und einmal auch betont, daß in bestimmten Fällen Digitalis unersetzlich sei. Das war nicht etwa eine taktische Ausrede, er hatte in seinen Schriften ebenso wie andere Autoren der IGI in aller Ausführlichkeit auch die verschiedenen Zusatzbehandlungen besprochen. So ist eine Mischbehandlung von Digitals und Strophanthin das Mit- tel der Wahl bei sämtlichen Fällen von Herzjagen (Tachy- kardien). Die Ärzte um Dr. Kern nützen dabei die sonst so von ihnen gefürchtete Giftwirkung der Digitalis aus, um eine Pulsbremsung herbeizuführen. Das gleichzeitig ge- gebene Strophanthin verhütet eine weitere Schädigung des linken Herzens und bessert den augenblicklichen Zustand.

Außerdem verabreicht Dr. Kern seinen Patienten je nach Lage des Falles Herzmuskelextrakte, Mineralstoffe wie zum Beispiel Kalium, Magnesium oder Kalzium. Oft müssen Hormone gegeben werden, oder es sind andere zusätzliche Herzmittel wie Crataegus nötig.

Eine wesentliche Rolle spielen solche Maßnahmen, die das Herz vor anderen Schadensfaktoren schützen. Als vor- dringlich hat sich eine Sanierung von Herden und anderen nichtinfektiösen Störfeldern erwiesen; nach deren Aus- schaltung geht der Strophanthinbedarf oft sehr zurück.

Audi andere von der Sdiulmedizin anerkannte Methoden gehören zum Arsenal der Kernschen Therapie: Psycho- therapie und autogenes Training, Medikamente zur Blut- drucksenkung und zur Abschirmung des Herzens von ner- vösen Reizen (Beta-Blocker), Senken des Blutzuckers und der Harnsäure.

Allerdings werden diese Maßnahmen nicht jedesmal ein- gesetzt. Sie können in vielen Fällen unentbehrlich sein, aber man braucht sie nicht immer.

0 Ohne Strophanthin dagegen geht es nie! Dieses Mittel hat sich bisher als unersetzlich in jedem Fall erwiesen. Auch dann, wenn eins der anderen Verfahren thera- piebestimmend in Erscheinung tritt.

Diese Sonderstellung des Strophanthins als „Schlüssel zum Herzen" hat dem Arbeitskreis um Dr. Kern den Vor- wurf der Monomanie eingebracht. Er äußerte dazu: „So wie insulinbedürftige Diabetiker nicht mit dem Sodawas- ser der Vorinsulin-Ära gerettet werden können, sondern eben nur mit Insulin, so wie ein Banktresor nur mit einem Spezialschlüssel und nicht mit irgendeinem Gartentor- schlüssel geöffnet werden kann, so sind die unzähligen strophanthinbedürftigen Herzmuskelkranken nur mit Strophanthin, nicht aber mit Ersatzmitteln optimal ver- sorgt. Vor allem aber war die Ablehnung dieser Therapie wegen des oralen Weges ein schlichter Denkfehler und Widerspruch in sich. Schon vor dem Ausbrechen dieses Strophanthinstreits habe ich vorsorglich darauf hingewie- sen: alle mit oralem Strophanthin erzielbaren Erfolge kön- nen ebenso auch mit intravenösem Strophanthin erzielt werden, wie zum Beispiel die Infarktverhütung, die

Edens ja schon seit 1928 intravenös vorexerziert hatte."

225

Zwei Drittel sterben, bevor der Arzt kommt

Intravenöse Strophanthin-Anwendung ist nach der Erfah- rung des Arbeitskreises von Dr. Kern in Sonderfällen der oralen Strophanthin-Therapie überlegen. Die Spritze kann zum Beispiel auch dann zeitweise hilfreich sein, wenn Pa- tienten besonders empfindliche Schleimhäute haben und über Reizerscheinungen durch das oral angewandte Me- dikament klagen. Um die Zeit der Eingewöhnung zu überbrücken, wird Strophanthin dann intravenös verab- reicht.

Unter gar keinen Umständen aber sollte das Medika- ment Bedürftigen vorenthalten werden. Professor von Ardenne hat in seinen Arbeiten immer wieder mit Nach- druck darauf hingewiesen, wie wichtig die rechtzeitige Verabreichung der Arznei für den Gefährdeten ist: treten Schmerzen oder andere subjektive Erscheinungen auf, dann gehen in winzigen Bereichen des Herzmuskels zer- störende Prozesse vor sich. Der Zusammenhang zwischen Gewebstod und Schmerzen wurde durch seine Entdeckung der Blut-Nervenschranke offensichtlich. Diese Vorgänge führen zur Entstehung von Kleinvernarbungen, welche in der Summe die Infarktwahrscheinlichkeit anwachsen lassen".

In seiner Autobiographie schreibt Professor von Arden- ne: In diesem Zusammenhang ist nun jene Beobachtung entscheidend, die mir viele Kardiologen der älteren Gene- ration bestätigt haben beziehungsweise bestätigen können, daß wenige Minuten (6 min) nach (perlingualer) Strophan- thingabe der Herzschmerz zurückgeht, also damit auch die Nekrose verursachende Übersäuerung. Genau das aber haben wir in Dresden experimentell durch Übersäuerungs- Registrierungen im Infarktgebiet an Rattenherzen wenige

Minuten nach Gabe von Strophanthin gefunden."

226

Eindringlich wies der Wissenschaftler immer wieder darauf hin, daß außer dieser vorbeugenden Wirkung ge- gen den Herzinfarkt noch ein weiterer Grund bestehe, weshalb das Medikament so rasch wie möglich in die offi- zielle Therapie Eingang finden müsse: „66 Prozent der Infarkt-Todesfälle ereignen sich heute bekanntlich in der langen Zeitspanne bis zum Einsatz ärztlicher Hilfe." In dieser Notsituation kann sich der Patient aber nur dann selbst helfen, wenn er ein rasch wirksames Mittel wie orales Strophanthin zur Hand hat. Weil das nicht der Fall ist, sterben zwei Drittel der Kranken vor Eintreffen des Arztes.

„Die gefundene Minderung der Herzmuskel-Übersäue- rung wenige Minuten nach Gabe von g-Strophanthin kann natürlich nur dann im Infarktereignis die Herzmuskel- schädigung herabsetzen, also helfen, wenn die durch eine Sauerstoff-Mangelsituation eingeleitete Schädigung noch nicht irreversibel geworden ist. Das ist aber nur in den ersten 10 bis 30 Minuten (je nach Stärke der eingetretenen Übersäuerung) der Fall**, erläuterte der Dresdner For- scher.

Vor allem der Begriff irreversibel sollte zu denken ge- ben. Professor von Ardenne hatte in seinen Experimenten sichtbar machen können, daß Strophanthin biochemische Katastrophen im Herzmuskel wieder rückgängig machen konnte - allerdings nur innerhalb einer gewissen Zeitspan- ne. Wird der Einsatz dieses Medikaments innerhalb dieser Zeit versäumt, ist die Zerstörung unwiderruflich. Selbst wenn der Patient das Ereignis überlebt - Narben können nicht wieder funktionsfähig gemacht werden, auch durch das beste Medikament der Welt nicht.

227

Wehret den Anfängen!

Man muß sich dabei vor Augen halten, daß ein unter- schiedlich hoch eingestufter Prozentsatz von Infarkt- Todesfällen gar keine unmittelbar vorausgehenden Infarkte zur Ursache hat. Denn der sogenannte Sekunden-Herztod, nach dem englischen Sprachgebrauch heute auch als „plötz- licher Tod" bezeichnet, wird zwar meist als Tod infolge Herzinfarkt diagnostiziert; in Wirklichkeit handelt es sich aber um einen Herzstillstand aufgrund eines Versagens des elektrischen Systems.

In dieser Situation kann auch Strophanthin nicht helfen.

Die Arznei wirkt nur auf das Triebmyokard, auf den

Muskel also. Das Reizmyokard, die hochkomplizierte Herzelektrik aber kann es nicht beeinflussen. Nachdem jedoch dem Zusammenbruch dieses elektrischen Systems meist eine Vorschädigung des Herzmuskels durch größere oder auch viele kleinere Narben zugrunde liegt, ist es von zwingender Notwendigkeit, die Vernarbung des Herzmus- kels zu verhüten. Insofern kann Strophanthin auch der gefürchteten elektrischen Instabilität und damit dem plötz- lichen Tod vorbeugen. Entscheidend dabei ist allerdings die rechtzeitige Verabreichung:

%   Je stärker ein Herzmuskel vorgeschädigt und je schlechter sein Zustand bereits ist, um so weniger kann Strophanthin helfen!

Das Erkennen der Symptome des Anfangsstadiums ist deshalb Voraussetzung für eine rechtzeitig einsetzende Be- handlung und diese damit gleichzeitig eine Vorbeugung gegen Herzinfarkt. Jede spätere Diagnose und Therapie läuft dem Gesdoehen hinterher, kann die Vorstadien der

228

 

Katastrophe nicht mehr ungeschehen machen und deshalb in den meisten Fällen auch die Katastrophe selbst nicht mehr verhindern. Allein schon die Unwirksamkeit der bis- her unter hohem Kostenaufwand angewandten Maßnah- men, meint Professor von Ardenne, hätte zu einer Ände- rung im Verhalten der Verantwortlichen führen müssen:

„Ganz allgemein sind wir der Meinung, daß bei Er- krankungen mit so erschreckend hohem Sterblichkeitsanteil wie bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen bzw. Myokard- infarkt und Krebs die Verpflichtung besteht, alle zu Hoff- nungen berechtigenden Mittel einzusetzen. Sogar umstrit- tene Mittel, die nach menschlichem Ermessen nicht schaden, möglicherweise aber helfen können, dürfen, solange das Krankheitsgeschehen unbeherrscht ist, nicht allein deswe- gen verworfen werden, weil ihre therapeutische Wirkung zwar möglich oder sogar wahrscheinlich, jedoch nicht ein- wandfrei (statistisch) nachgewiesen ist."

230

DIE BEHANDLUNG

 

DES DOKTOR KERN

 

Die Herz

-

Therapie Dr. Kerns stützt

 

sich

zus

ä

tzlich

zum

Strophanthin

 

noch auf eine ganze Reihe anderer

 

Maßnahmen

und

Medikamente.

 

in

jedem

Diese

werden

aber

nicht

 

gebraucht.

Immer

ange

Fall

alle

-

 

wendet

wird

nur

Strophanthin.

 

Wenn auch manchmal erst eine

 der

 

anderen Methode den vollen Erfolg

 

bringt:

ohne

Strophanthin

geht

es

 

trotzdem nicht. Die Erfahrung hat

 

gezeigt,

daß

dieses

Medikament

 

unersetzlich ist.

 

 
 

 

8. „Widerrufen Sie, Doktor Kern!"

Eine Fülle offener Probleme - und was hatte die in Hei- delberg versammelte Fachwelt dazu zu sagen? Wenig, all- zu wenig. Die Prominenz der Kardiologen hatte ein ande- res Ziel im Auge. Professor Gillmann sprach es aus: „Herr Kollege Kern, sagen Sie doch einmal - ich glaube, darauf wartet alles -, daß Sie zurückstecken müssen in bestimmten Dingen, die Sie behauptet haben. Geben Sie doch einmal zu, daß das, was Sie sagen: daß die Digitalis-Therapie falsch, sogar infarktauslösend und daß allein die The- rapie mit oralem Strophanthin richtig ist - daß Sie das zurücknehmen."

Dr. Kern erklärte: „In dieser Verallgemeinerung nehme ich das zurück." Erstmals an diesem Nachmittag erhielt er von seinen Widersachern Applaus. Genauer gesagt: die Akklamation galt weniger Dr. Kern als der wiederher- gestellten eigenen Ehre. Man klatschte sich gewissermaßen selber Beifall. Aber die Freude war verfrüht, Dr. Kern hatte noch einmal Tritt gefunden: „Das heißt, ich habe es auch nie in dieser Verallgemeinerung behauptet."

Der Hamburger Kliniker Professor Donat wollte es genau wissen: „In Ihrem Buch, Herr Kern, schreiben Sie auf Seite 145: ,Wenn von zwei Mitteln wie Digitalis und Strophanthin das eine Nekrosen und Stenokardien erzeugt, das andere verhütet oder behebt, so ist es nicht mehr ernst- lich diskutierbar, sie als gleichwertig und beliebig aus- tauschbar anzusehen.* Ich habe jetzt gehört, daß dieser Satz nicht mehr stimmt. Ist das richtig?" Und beinahe be- schwörend: „Das haben Sie eben gesagt!" Ein Zwischen- rufer assistierte: „Jawohl, das hat er!"

Dr. Kern korrigierte: „Haben Sie vorhin gehört, daß ich gesagt habe, es hängt vom Qualitätszustand des Herz- muskels ab? Je schlechter ein Linksmyokard dran ist, desto schlechter wirkt Digitalis. Dann kann es Nekrosen ma- chen, während Strophanthin die Nekrosen verhütet. Wenn das Myokard aber noch in gutem Zustand ist, dann kann der Unterschied unmerklich gering sein."

Im Auditorium sprangen Zuhörer von den Sitzen. Fäuste wurden geballt, Stimmen überschlugen sich, in dem allge- meinen Wirrwarr waren die einzelnen Zurufe nicht mehr zu verstehen. Dr. Kern hatte Widerruf und Kniefall ver- weigert.

Am nächsten Tag auf der Pressekonferenz wurde er an- geschrien: Widerrufen Sie, Doktor Kern." Doch so wenig beeindruckend sein Auftreten auch war, in einem Punkt blieb Dr. Kern fest: er widerrief nicht. Wie perfekt der Schauprozeß auch abgelaufen war - das wesentliche Ele- ment, einen geständigen Angeklagten, konnte er nicht bie- ten.

Es hatte in dieser gereizten Atmosphäre fast etwas Rüh- rendes, als IGI-Geschäftsführer Dr. Heyde noch einmal versuchte, über die Fronten hinweg das Gemeinsame, die Verantwortung für den Kranken hervorzuheben: „Die Diskussion, die heute abend entstanden ist, ist ein wenig festgefahren und hat - ich muß es leider sagen - die Fron- ten eher ein bißchen verhärtet. Deswegen möchte ich fol- gendes als eine Bitte aussprechen: Nicht so aufhören! Wir müssen doch irgendwie dazu kommen, die Anregung, die uns Herr Kern gegeben hat, zu überprüfen.

„Wir sind Ärzte und keine Heiler"

Wir haben jetzt ein Rundschreiben an die Ärzte gemacht, die schon mit oralem Strophanthin gearbeitet haben. Ich habe hier die positiven Zuschriften herausgesucht. Das sind also 180 Ärzte, die wir nicht näher kennen, und dann aus

232

dem Kernsdien Arbeitskreis noch zusätzlich 30 Ärzte, die sich eindeutig positiv über die orale Strophanthin-Therapie geäußert haben. Das ist doch ein Indiz!"

Professor Donat antwortet: Ich finde, das ist kein In- diz. Wir sind Ärzte hier. Als Ärzte müssen wir uns der Wissenschaft verpflichtet fühlen. Sonst sind wir Heiler.

Heilpraktiker."

Dr. Heyde sagte sehr ruhig: „Gut, dann bin ich ein

Heiler."

Vielleicht hätte er noch die satirische Zeitschrift „Sim- plizissimus" zitieren können. In einer Ausgabe des Jahres 1906 heißt es darin: Irgendein wissenschaftlicher Wert kommt dem Verfahren nicht zu, höchstens eine Heilwir- kung."

Es ist fast undenkbar, daß alle Anwesenden sich mit solch einem Zerrbild der Medizin, mit gewaltsam mißver- standener Wissenschaft einfach abfanden. Was war von solchen Kapazitäten zu erwarten, die den Kranken nur noch durch den „Sehschlitz ihrer Apparate" betrachteten, wie das ein russischer Forscher formulierte? Warum erhob auch nicht ein Einziger Einspruch? Moderator Professor Wollheim erläuterte den Grund:

„Das, was dieses Symposium versuchen wollte - was, wie ich fürchte, nur sehr bedingt gelungen ist, was wir aber in einer Zusammenfassung noch einmal versuchen wollen-, sollte Ihnen zeigen, daß die heutige Medizin auch in die- sem Lande wie in vielen anderen Ländern nicht auf sub- jektiven Eindrücken beruht, sondern daß wir nach objek- tiven Kriterien suchen müssen und daß wir für viele Dinge auch objektive Kriterien haben."

Noch deutlicher wurde Professor Heinecker in seinem Schlußwort für die Klinik: Der klinisch bemühte Arzt und derjenige, der eine Großzahl von heute von der Pu- blikationspresse abhängigen Patienten betreut, ist zutiefst bedrückt, daß wir offensichtlich nicht haben belehrender wirken können."

In seiner zusammenfassenden Antwort sagte Dr. Kern: „Meine Anregung geht immer wieder dahin, das nicht ein- fach bloß beiseitezuschieben, wenn da auch noch einige Versuche nicht ganz gelungen und auch noch nicht ganz beweiskräftig gewesen sind. In diesem Sinne würde ich um Vorschläge bitten, wie man diese Dinge weiter bearbeiten kann.**

In diesen Schlußminuten bewies der gedemütigte und verhöhnte Praktiker aus der Stuttgarter Reinsburgstraße, daß er seinen Kritikern doch einiges voraus hatte. Er schluckte das Eingeständnis, daß er nur hierher geladen worden war, um sich belehren zu lassen. Er verzichtete auf jede Attacke und sprach nur von der gemeinsamen Verant- wortung. Professor Gillmann zeigte dagegen auf, worum allein es den Professoren zu tun war:

„Die Frage nach dem Staatsanwalt, Herr Doktor Kern, muß geklärt werden!"

Als dieser nicht darauf einging, brach Professor Wölk heim die Tagung ab: „Das, was Herr Gillmann sagt, Herr Doktor Kern, ist eine ganz ernsthafte Angelegenheit. Es kann nicht im Räume stehenbleiben, daß wir alle, die wir nicht eine solche Behandlung mit oralem Strophanthin an- wenden, uns straffällig machen oder gewissenlos handeln. Das ist nicht möglich."

„Das ist kein Tribunal"

Zum Abschluß ließ es sich Professor Schettler angelegen sein, noch einmal zur Unversöhnlichkeit aufzurufen: „Es scheint jetzt alles darauf hinaus zu laufen, daß man uns um Zusammenarbeit bittet und uns anbietet, auf den ver- schiedensten Sektoren nun neue Untersuchungen zu star-

234

ten.K Er verschwieg geflissentlich, daß er schon drei Jahre zuvor eine Zusammenarbeit aus Zeitmangel abgelehnt hat- te, und fuhr fort:

„All das, was in den letzten Monaten geschrieben wor- den ist, will man heute nicht wahrhaben. Ich möchte Sie jetzt, unter diesen Umständen bitten, sich einmal den Text des Vortrages im Deutschlandfunk zu Gemüte zu führen, wo persönliche Angriffe gegen Vertreter der Schulmedizin und in den verschiedensten Bereichen in einer Weise ge- startet worden sind, daß man einfach nicht mehr mitkam. Wenn unterstellt wird, daß ein deutscher Arzt, wenn er Ordinarius ist, heute behaupten könne, was er wolle, er würde nie dafür zurechtgewiesen, er würde nie dafür zur Rechenschaft gestellt..." Professor Schettlers Haßtirade verlor den Maßstab. Er glaubte aufgrund des von ihm veranstalteten Schauprozesses auch Gerichtsurteile revidie- ren zu können:

„... wenn weiter hineingeschrieben wird, daß die Gut- achten, die von uns erstellt werden, zum Nachteil der Patienten aus Arroganz und Nichtwissen der Schulmedizin heraus gefertigt würden, und wenn diese Dinge als Beweis für eine miserable Leistung dieser sogenannten Schulmedi- zin zitiert werden, wenn das Ganze noch politisch ver- brämt wird - meine Damen und Herren, da kann ich per- sönlich als Arzt bei allem Engagement nicht mehr mit!"

Trotz allem Engagement entfiel es dem Initiator des Heidelberger Infarkt-Tribunals nicht, noch einmal auf etwas hinzuweisen, was ihm besonders am Herzen lag: „Bitte fassen Sie das nicht, wie es sein könnte, als ein Tribunal oder eine Jury auf.*"

Dr. Heyde trat als Letzter an das Mikrofon: „Ganz kurz bitte noch. Wenn Herr Professor Schettler nicht mit- macht, vielleicht findet sich jemand anders, der mitmacht." Der Rest war Schweigen.

V. Kapitel

„Mehr Ehrf urcht vor dem Leben als vor den Lehren!"

1. „Kern-Spaltung"

In den Tagen und Wochen danach wurde das Verdam- mungsurteil weit und breit verkündet. „... Was sich dem Beobachter darbot, war ein Trauerspiel", charakterisierte einer der Berichterstatter jene sieben Stunden auf der,Mol- kenkur*, und ein anderer triumphierte: Die laut propa- gierte Herzinfarkt-Wunderkur des Doktor Kern brach unter der Heidelberger Inquisition kläglich zusammen."

Publikumspresse und Fachjournalisten waren sich darin einig, „Zeugen einer wissenschaftlichen Hinrichtung" ge- worden zu sein: „Der Mann, der auf der Anklagebank der Wissenschaft saß, konnte keine Beweise für seine The- sen vorweisen." »Tribunal*, »Inquisition*, ,Schauprozeß', ,Verhör*, »Ketzergericht*, »Aburteilung*, »Hinrichtung*, ja sogar ,Schlachtfest* und »Austreibung böser Geister* waren die Bezeichnungen» unter denen die „wissenschaftliche Klausurtagung" jetzt firmierte. „Kern am Nullpunkt" -

„Kern-Spaltung" — „Schulmedizin zerpflückt Dr. Kern" - „Dem Windei ging die Luft aus" - „Niederlage eines Herz- forschers" - „Wunderdoktor Kern treibt sich selbst zum Offenbarungseid" - „Die große Blamage des Dr. Berthold Kern" lauteten die Titelzeilen. Einer der Journalisten hatte es sich nicht nehmen lassen, auf der anschließenden Presse- konferenz zu fordern: „Ich verlange die Zuziehung eines

Psychiaters!"  Dadurch hatte sich  ein anderer zu  der

239

Schlagzeile angeregt gefühlt: „Was am Ende blieb, war der zornige Ruf nach dem Psychiater.**

Wer gehofft hatte, in Heidelberg hoch oben auf der ,Molkenkur* Zeuge eines wissenschaftlichen Florettgefechts zu werden, sah sich enttäuscht, es mußte mit harter Klinge geschlagen werden**, bedauerte eine Zeitung. „Ungebro- chen von all den peinlichen Schlappen, den massiven Ge- genbeweisen und nicht weniger massiven moralischen Vor- haltungen, vom reichlich geäußerten Mißfallen über seine ausweichenden Antworten und dem unverhüllten Hohn, der ihm gelegentlich entgegenschlug, hat Dr. Berthold Kern die gewiß nicht immer rücksichtsvolle Inquisition durchgestanden**, befand eine andere. „Dabei bezogen sich die Vorwürfe, besonders scharf artikuliert von Professor Gillmann aus Ludwigshafen und Professor Heinecker aus

Kassel, gar nicht so sehr auf die wissenschaftlich unhaltbare Hypothese, sondern auf die Diffamierung des ärztlichen Standes .. .** machte eine weitere Tageszeitung deutlich.

Unter den Chronisten waren sogar solche, denen die Diskussion sachlich und nüchtern** oder sogar „außer- ordentlich fair, sachlich und überzeugend** erschienen sein wollte. Einer ließ es sich nicht nehmen, daß Dr. Kern „ein Übermaß an Fairneß** zuteil geworden sei.

Nach dem allgemeinen Tenor hatte der Stuttgarter Arzt eine „völlige Niederlage** erlitten, man habe mit ihm „Fraktur geredet**, endlich sei der „Spuk verflogen**. Die verächtliche Feststellung: „Über Kern und mit Kern wird nicht mehr gesprochen** erinnerte peinlich an die Formel der römischen Inquisition: Roma locuta, causa finita**: Heidelberg habe sein Urteil gesprochen, und damit sei der Streit endgültig beigelegt.

Kritik wurde nur am Rande laut. Ein Journalist be- fand, das Tribunal sei „letztlich doch unwürdig** gewesen, die Kardiologen hätten aber „keine andere Wahl** gehabt.

240

„Die Ausweglosigkeit, in die das Gespräch einmündete, hat vielmehr bei allen Teilnehmern ein tiefes Unbehagen hinterlassen", bekannte einer der Berichterstatter. „Wenn es dem Heidelberger Gespräch gelungen wäre, die Öffent- lichkeit über die Hypothesen des Dr. Kern aufzuklären und zwischen ihm und den Vertretern der offiziellen Me- dizin vielleicht doch noch eine Zusammenarbeit anzubah- nen, an der sich auch Dr. Kern interessiert zeigte, hätte es einen Nutzen gehabt.**

Die Professoren wollen reinen Tisch machen

„Selten hat die Wissenschaft einen so leichten und so schnel- len - vielleicht zu schnellen - Sieg über einen Außenseiter errungen", gab ein Beobachter zu bedenken. Ein anderer räumte ein, man habe über Dr. Kern in Heidelberg „ge- lacht und gespottet, als ginge es um einen Studentenulk und nicht um ein sozialmedizinisches Problem von welt- weiter Bedeutung".

Professor Hittmair, an dessen Klinik Professor Halhu- ber 20 Jahre zuvor die Wirksamkeit oralen Strophanthins hatte bestätigen können, stellte in einem Leserbrief fest: „Journalisten schleuderten die Brandfackel. Das ist ihr gutes Recht. Die Experten haben das entfachte Feuer aus- getreten. Nun ist die Wissenschaft an der Reihe: sie hat

die eigentliche Brandursache zu erforschen und aufzuklä- ren."

Die Experten aber sahen alle Schuld nur in der „Frivo- lität" jener Journalisten, die Dr. Kern zu „größter Publi- zität" verholfen hatten. Damit wiederholte sich die Tor- heit des alten Versuchs, das Thermometer zu zerschlagen, weil man das Fieber nicht bannen kann. Trotz des welt- weiten Massensterbens an Herzinfarkt war es den Fach- leuten nicht möglich, einen „objektiv zwingenden Anlaß" für die ausgebrochene Pressekampagne zu finden. Profes- sor Schettler verstieg sich sogar zu der grotesken Forde- rung, nach Dr. Kern hätte auch ich mich der Inquisition zu „stellen"; außerdem legte er meinem Verleger nahe, hin- sichtlich meiner Person doch personelle Konsequenzen* zu ziehen.

Die akademischen Tempelwächter machten auch vor den eigenen Reihen nicht halt. Denn der Sinn eines Schau- prozesses ist es ja, nicht nur den Ketzer zu verdammen, sondern auch innerhalb der Gemeinschaft jedes Ausbrechen aus der Solidarität zu verhindern und etwaige Zweifler auf das Dogma einzuschwören.

Wie erfolgreich dieses Rezept ist, läßt sich an den Aus- sagen von Patienten ablesen:

 Ich habe, als ich auf der Ersten Universitätsklinik lag, vom oralen Strophanthin erzählt, das ich bereits genommen hatte. Da hat mich der Oberarzt ange- schrien: ,Bei uns nicht!' und hat mich einige Tage später, trotz schlechtestem Zustand, hinausgeworfen."

 „Ich war zu einer Untersuchung in der Klinik. Ich sagte, daß ich für mein Herz Strophanthin nehme. Da sprang der Arzt auf und fuhr mich an: ,Was? Welcher Scharlatan hat Ihnen dieses Zeug verschrieben? Das taugt nichts, werfen Sie es sofort weg und suchen Sie sich einen richtigen Arzt!"

 „Als mich der Professor untersuchte, sagte ich ihm, wie gut mir Strophanthin tut. Er machte dann ein Ekg und eine Röntgenaufnahme. Ich bekam Angst, als er mir sagte, mein Zustand sei bedenklich, weil ich so aufgegiftet sei. Ich war dann zwei Wochen zu einer Entziehungskur bei ihm."

242

Alle mit voller Kraft zurück!

Ebenso bezeichnend ist ein anderes Beispiel. Professor Gill- mann hatte vor dem Tribunal offiziell im „Deutschen Ärzteblatt" für die Hochschule zum Infarktstreit Stellung bezogen. Dabei waren ungewohnte Töne angeklungen, denn er wollte neben der Gefäßkränkheit auch den Herz- muskel in das Gesichtsfeld wissenschaftlicher Betraditung einbezogen sehen. Ähnlich differenziert äußerte er sich in einem Fernseh-Interview nach Heidelberg. Der Moderator zog daraus den Schluß, die Arteriosklerose sei zwar nach wie vor das Hauptübel, aber sie sei eben nicht allein als Infarktursache anzuschuldigen.

Er war daher erstaunt, als ihn Professor Gillmann einige Tage nach der Sendung anrief und bat, im Fernsehen noch einmal klarzustellen, daß er keineswegs ins gleiche Hörn stoße wie Dr. Kern. Dieser Vorwurf sei aus Heidelberg gegen ihn laut geworden ...

Damit innerhalb der Ärzteschaft künftig kein Zweifel mehr aufkommen könnte, ob das alte Dogma wieder volle Gültigkeit habe, wurde im Deutschen Ärzteblatt" das Thema Infarktentstehung noch einmal unter dem bezeich- nenden Titel: Die koronare Herzkrankheit in der Praxis" aufgegriffen. Professor Kaltenbach, gleichfalls Ankläger in Heidelberg, wandte sich direkt an die Praxisärzte und stellte schon von vornherein klar, daß in Zukunft wieder nur noch von der koronaren Herzkrankheit1* gesprochen werden würde, der Herzinfarkt also ausschließlich als Fol- ge der Koronarsklerose anzusehen sei. Kurz zuvor hatte Gillmann solche Behauptungen an gleicher Stelle noch als bösartige Unterstellung" zurückgewiesen ...

Welche Ratschläge sollten die Ärzte aber befolgen, um der Koronarerkrankung vorzubeugen?

2. Schreckgespenst Cholesterin

Das Cholesterin hat für die Arteriosklerose die gleiche

Bedeutung wie der Tuberkelbazillus für die Tuberkulose." Mit dieser Erklärung stellte ein amerikanischer Wissen- schaftler Cholesterin deshalb auf eine Stufe mit einem gefährlichen Krankheitserreger, weil er es für hauptschuL- dig an der Entstehung der Arteriosklerose und damit des Herzinfarktes hielt.

Cholesterin ist eine perlweiße, fettartige Substanz. In tierischem Fett und Fleisch ist sie besonders reichlich vor- handen. Dieses Schreckgespenst des Menschen von heute - so besagt die Lehre - lauert im Schnitzel, steckt im Auf- strich des Butterbrotes, glotzt ihn mit den Fettaugen aus dem Suppenteller an. Zusammen mit köstlichen Lecker- bissen fährt es ihm in den Leib, kriecht ihm in die Adern und greift jäh nach seinem Herzen. Zwar ist dieses Scheu- sal schon ziemlich betagt, aber weil es von einer ganzen Reihe maßgebender Hochschul-Professoren gehegt und ge- hätschelt wird, erfreut es sich nach wie vor jugendlicher Vitalität. Cholesterin spielt r das Lehrgebäude des Herz- infarktes eine ähnliche Rolle wie der Schloßgeist für ein englisches Kastell: Keiner glaubt zwar so recht daran, aber ohne seine Existenz verlöre das baufällige Anwesen doch sehr an Attraktivität.

Das Stöhnen und Wehklagen des vermeintlichen Ge- spenstes hat bewirkt, daß Millionen von Menschen wie die Schafe leben. Sie nehmen fast ausschließlich Nahrung zu sich, die ungesättigte Fettsäuren ohne das gehrliche Cho- lesterin enthalten, wobei vor allem Pflanzenfette die Hauptrolle spielen.

Dabei wurde übersehen, daß sich auch bei Pflanzen- fressern in der Tierwelt, wenn sie alt genug werden wie etwa Pferde, beträchtliche arteriosklerotische Herde mit

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Cholesterineinlagerungen entwickeln. Und das, obwohl diese Viedier zeit ihres Lebens weder Butter noch Eier oder gar Speck gefressen haben, sondern gerade nur jene vege- tabilische Magerkost, die den Cholesterin-Aposteln als Schutz gegen Arteriosklerose und Herzinfarkt gilt.

Die Cholesterin-Hysterie hat dazu geführt, daß einige grundsätzliche Tatsachen gar nicht mehr in den Blickpunkt gerückt werden:

  1. Cholesterin ist für den menschlichen Organismus sehr wichtig. Deshalb wird es auch vom Körper selbst pro- duziert, und zwar in viel größeren Mengen, als wir mit der Nahrung aufnehmen können. Unser Organismus hält wegen ständigen Bedarfs einen gewissen Choleste- rinspiegel im Blut aufrecht, der bei Gesunden rund dreimal so hoch ist wie der Zuckerspiegel.
  2. Cholesterin wird nur bis zu einer begrenzten Menge vom Darm aufgenommen. Selbst wenn wir viel davon essen, kann es wegen dieser Resorptionssperre nur in beschränktem Ausmaß ins Blut gelangen.
  3. Unser Organismus richtet die Menge seiner eigenen Cholesterin-Produktion nach der mit der Nahrung aufgenommenen Cholesterinmenge; je nach dem, wie wenig oder viel zugeführt wird, stellt er mehr oder weniger eigenes Cholesterin her. Außerdem kann über- schüssiges Cholesterin von den Fettzellen gespeichert werden.
  4. Ein erheblicher Teil von Herzkranken hat gar keinen erhöhten Cholesterin-Gehalt im Blut. Im Krankengut des amerikanischen Herzchirurgen DeBakey sind es beispielsweise nur 20 Prozent.
  5. Cholesterin wird vom Blut durch das ganze Gefäß- system transportiert, also auch durch die Venen. Den- noch gibt es, wie schon der Name ausdrückt, in den Venen keine Arteriosklerose.

Vergiftete Versuchskaninchen

Der Cholesterin-Rummel begann vor mehr als 60 Jah- ren, als Wissenschaftler zu Versuchszwecken Kaninchen mit exorbitanten Mengen Cholesterin geradezu vergifte- ten - übertragen auf den Menschen waren es Mengen von mehreren Kilogramm. Solche Forschungen sind nicht sehr sinnvoll, denn der menschliche Organismus ist durchaus in der Lage, auch ein Obermaß an Cholesterin in der Kost schadlos auf natürlichem Wege zu bewältigen.

Nicht so Kaninchen; sie gehören zu den cholesterin- empfindlichsten Tieren, die wir kennen. Deshalb kam es bei der Fütterungs-Vergiftung unter anderem auch zu Ge- webszerstörungen in den Arterien. Obgleich sich diese Veränderungen in Kaninchenadern völlig von den arterio- sklerotischen Veränderungen in menschlichen Geßen un- terschieden, wurde aus solchen Versuchen der Schluß ge- zogen, jetzt sei die Ursache der Arteriosklerose beim Men- schen endlich gefunden.

Professor Hans Glatzel ist einer der engagiertesten

Kämpfer gegen die Fett-Hysterie. Er hat alle wichtigen Arbeiten der Weltliteratur auf diesem Gebiet gelesen, um sich aufgrund der festgestellten Tatsachen ein richtiges Bild machen zu können. Dabei kam er zu dem Ergebnis: »Die Kombination Nahrungsfett, Blutcholesterin und Herzin- farkt ist ein explosives Gemisch. Die Auseinandersetzun- gen darum sind meist stark emotional bestimmt, weil nicht allein ärztlich diätetische Gesichtspunkte, sondern auch

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fixierte Lehrmeinungen und kommerzielle Interessen dabei mitspielen."

Bei kritischer Überprüfung von jenen 14 Großversuchen, die immer dann angeführt werden, wenn es gilt, die Zu- sammenhänge zwischen Fett, Cholesterin und Herzinfarkt als wissenschaftlich gesichert" dazustellen, fand Professor Glatzel im Gegenteil: „Die Ergebnisse rechtfertigen es nicht, bei Gesunden und Koronarkranken die Hoffnung zu erwecken, sie könnten durch fettarme und polyensäure- reiche Ernährung (reich an ungesättigten Fettsäuren) das

Auftreten von Herzinfarkterscheinungen verhüten."

Professor Seher, Leiter der deutschen Bundesanstalt für Fettforschung in Münster/Westfalen, bestätigt, die Frage, ob Nahrungscholesterin bei der Entstehung des Herzin- farkts hauptsächlich mitwirke, sei „wissenschaftlich noch völlig ungeklärt". Er äußert die Vermutung, es könne daran liegen, daß „die wirkliche Ursache der Bildung von Atheromen heute noch nicht richtig erkannt oder über- haupt noch unbekannt ist."

Kosmetik statt Ursachenforschung

Auch auf den einschlägigen amerikanischen Kongressen wird inzwischen klar ausgesprochen, daß eine Diät, die arm an Cholesterin und reich an ungesättigten Fettsäuren ist, Arteriosklerose oder gar Herzinfarkte keineswegs ver- hüten kann. Das deckt sich zum Beispiel auch mit Fest- stellungen in Israel, einem Land, in dem die Kost weit- gehend cholesterinarm und reich an ungesättigten Fettsäu- ren ist: die Sterblichkeit an Herzinfarkt liegt dennoch genau so hoch wie in europäischen Ländern.

Damit haben sich also die Anschuldigungen gegen das Cholesterin in der Nahrung als nicht stichhaltig erwiesen.

Aber immer noch wird Patienten empfohlen, möglichst wenig tierisches Fett mit dem bösen Cholesterin und statt dessen ungesättigte Fettsäuren zu sich zu nehmen. Selbst als es sich zeigte, daß auch Margarine den Cholesterin- spiegel im Blut erhöhen kann, wurden daraus keine Kon- sequenzen gezogen. Wieder ein bedrückendes Beispiel für die Tatsache, daß eine Lehre hartnäckig auch dann noch ausgetretenen Pfaden folgen muß, wenn die Forschung längst auf neuen Wegen weit vorausgeeilt ist.

Immer wieder wird über das gleichzeitige Auftreten von erhöhten Cholesterinspiegeln und Herzinfarkten berich- tet. Statt aber die Ursache aufzuklären und sie auszu- schalten, wird nur getrachtet, zuviel Cholesterin oder Fett aus dem Blut einfach „wegzudrücken". Es ist allerdings fraglich, ob solch eine Blut-Fett-Kosmetik sinnvoll ist.

Da gibt es Medikamente, denen nach den Statistiken eine geringfügige Besserung der Herzkrankheit zugeschrie- ben werden kann. Paradox ist nur, daß dieser Erfolg ohne den gewünschten Effekt eintritt: das Auftreten von Herz- infarkten ist unter diesem Medikament seltener, obgleich der Fettspiegel im Blut gar nicht absinkt.

Bei anderen Präparaten läßt sich eine Wirkung zwar am Blutbild ablesen: der Fettspiegel wird tatsächlich ge- senkt. Zu ihrer Verblüffung mußten die Wissenschaftler jedoch feststellen, daß ungeachtet dessen die Arterioskle- rose der Herzkranzgefäße weiter fortschritt. Bei einem amerikanischen Großversuch wurden 8341 Personen in 53 Kliniken über mehrere Jahre beobachtet. Noch vor Be- endigung der Versuchsreihe mußte die Verabreichung des Medikaments zur Senkung des Blut-Fettspiegels gestoppt werden, weil die Sterblichkeit der Patienten um 18,4 Pro- zent höher lag als in der Vergleichsgruppe, die keine der- artigen Präparate erhielt.

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3. Lieber rechtzeitig sterben

„Es ist grotesk, was man uns heute zumutet", knurrten die Experten. „Mit einer Pille dreimal täglich sollen alle Pro- bleme des Herzinfarktes gelöst sein." Zwar hatte niemand außer ihnen selbst solch eine Behauptung aufgestellt, aber die Greuelpropaganda mit dem Dreimaleins eignete sich vorzüglich dazu, eine totale Begriffsverwirrung hervorzu- rufen.

Die Herzmedizin ist wegen ihrer Mißerfolge bei der Behandlung bemüht, das Infarktproblem durch vorbeu- gende Maßnahmen zu lösen. Erklärtes Ziel ist es, die soge- nannten Risikofaktoren, schädliche Einflüsse auf die Herz- gesundheit, auszuschalten. Das ist grundsätzlich nur zu be- grüßen. Doch darf diese Einstellung nicht dazu führen, daß aus Gründen der Vorbeugung die Behandlung in Miß- kredit gebracht wird.

Es ist zweifellos wünschenswert, daß man auch Erkran- kungen wie einer Lungenentzündung oder der Zucker- krankheit vorbeugen könnte, indem man deren Risikofak- toren erforscht und ausschaltet. Dennoch dürfen wir nicht darauf verzichten, für den Ernstfall Penicillin beziehungs- weise Insulin zur Verfügung zu haben. Das Gleiche gilt für die Herzerkrankungen: eine wirksame Therapie ist dringend nötig.

Ein weiterer wunder Punkt der Infarktverhütung: bis- lang konnten nur fünf Faktoren aufgespürt werden, deren schädlicher Einfluß zumindest statistisch als „gesichert" an- erkannt wird: Bluthochdruck, Zuckerkrankheit, Überge- wicht, Zigarettenrauchen, Störungen des Fett-Stoffwech- sels. Als hochgradig verdächtig gelten aufgrund festgestell- ter Wechselbeziehungen Streß, Bewegungsmangel und er- höhter Harnsäurespiegel im Blut. Im allgemeinen geht es bei der statistisch programmierten Suche nach Risiko-

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faktoren mit logischen Bocksprüngen durch Kraut und Rüben.

„Neigen Gallensteinträger zum Herzinfarkt?** fragt ein Fachblatt, weil eine Wechselbeziehung, ein gleichzeitiges

Auftreten von Gallensteinen und Herzinfarkt, bei einer

Patientengruppe festgestellt werden konnte. „Auch die Pille muß zu den Risikofaktoren gezählt werden", be- haupten die einen, während andere das rundweg bestrei- ten. Dem Alkohol wird nachgesagt, daß er dem Herzen schade, während eine entgegengesetzte Forschergruppe zu der Annahme kommt, daß sich Alkohol günstig auf die Herzgesundheit auswirke. Die einen glauben, daß Aspirin einen Schutz vor dem Herzinfarkt gewährt, andere wieder befürchten, daß dieses Medikament die Infarktgefahr er- höht. In Israel wurde sogar festgestellt, daß der Über- gang von der Vielweiberei zur Monogamie das Infarkt- risiko der Beduinen steigere, und aus Bayern kommt die frohe Kunde, daß die Gefahr einer Infarkterkrankung sinkt, wenn man an einer Lebererkrankung leidet.

Den Vogel abgeschossen haben aber zweifellos jene amerikanischen Wissenschaftler, die fanden, daß jene Per- sonen besonders infarktgefährdet sind, die überdurch- schnittlich lange schlafen und dann meinten, schlafen mache das Herz krank. Sie zeigten sich von ihrer Erkenntnis zwar „selbst überrascht**, kamen aber nicht auf den Ge- danken, daß man es auch andersherum sehen kann: wer herzkrank ist, benötigt verständlicherweise mehr Schlaf als die gesunde Durchschnittsbevölkerung.

Wie sehr man aufs Glatteis geraten kann, wenn man von gleichzeitigem Auftreten auf ursächlichen Zusammen- hang schließt, illustriert das berühmte Beispiel von der „Storchen-Logik":

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„Iß nicht, trink nicht, arbeite nicht!"

Im Ruhrgebiet ging zu Anfang dieses Jahrhunderts gleich- zeitig die Anzahl der Geburten und der Störche zurück. Also brachte doch der Storch die Babys! Geht man aber den Ursachen nach, so kommt man bald dahinter, daß ein dritter Faktor, nämlich die zunehmende Industrialisierung der vorher ländlichen Region, der Anlaß sowohl für den Rückgang der bäuerlichen Großfamilie mit hoher Kinder- zahl wie auch für die Abwanderung der Störche war. Aber so sehr auch über derartige Fehlschüsse gespottet wird, die Storchenlogik feiert allenthalben fröhliche Urständ.

Deshalb nimmt es auch nicht wunder, daß ein Medi- ziner schließlich dieses Patentrezept für ein „gesundes Le- ben" verkündete: „Iß nicht, trink nicht, arbeite nicht, sei nicht nervös oder ärgerlich - entspanne dich und bleibe beweglich!"

Aber auch mit solcher , Wissenschaft' wird das Infarkt- problem nicht gelöst. Im Gegenteil: Das „Nationale Herz- und Lungen-Institut" der USA bedauert, daß bis jetzt noch nicht schlüssig nachgewiesen worden sei,

0 „daß die Beeinflussung von Risikofaktoren. . . die Häufigkeit der Infarkterkrankung vermindert". Sol- che Behauptungen seien „mehr eine Frage des Glau- bens als eine Tatsache".

Einer der führenden amerikanischen Kardiologen, Pro- fessor Elliot Corday, erblickt sogar die derzeit einzig mög- liche Lösung darin, die Patienten weiterhin in einem Irr- glauben zu belassen: „Ich sehe die Ergebnisse all dieser Untersuchungen, und ich sehe, daß wir auf dem falschen Weg sind. Sagen wir den Patienten, wir glauben zwar, daß dieser Rat befolgt werden sollte, hätten aber keinen Beweis dafür, daß das Ausschalten der Risikofaktoren dem Fortschreiten der Erkrankung vorbeugt."

Er gibt zu bedenken, daß während der letzten zehn bis fünfzehn Jahre eine beträchtliche Anzahl von Patien- ten den Anordnungen der Ärzte gefolgt sei und die „gesi- cherten" Risikofaktoren vermieden habe. „Aber die Todes- rate der Koronarerkrankung", beklagt der Herzspezialist, „ist jetzt noch genau so hoch, wie sie vor fünfzehn Jahren war. Ich möchte wissen, warum das so ist, wenn doch - wie einige Ärzte glauben - das Ausschalten von Risiko- faktoren die Todesrate senkt. *

Daraus lassen sich zwei Schlußfolgerungen ableiten:

 Wir kennen noch nicht alle wichtigen, vielleicht noch nicht einmal die wichtigsten Risikofaktoren des Herz- infarktes. Deshalb können auch nicht alle schädlichen Einflüsse ausgeschaltet und auf diese Weisen dem In- farkt wirkungsvoll vorgebeugt werden.

 Ohne eine Herz-Therapie, die den Schaden durch solche Faktoren verhindert oder wieder behebt, muß der Kampf gegen den Herzinfarkt ohne Erfolg blei- ben. Und nachdem sicherlich auch noch Risikofak- toren entdeckt werden, deren Ausschaltung nicht möglich ist - denken wir nur an die gesundheitliche Belastung durch eine heranziehende Wetterfront -, wird man auf eine wirkungsvolle Therapie nie ver- zichten können.

Das glücklichere Leben nach dem Infarkt

Unter diesen Gesichtspunkten ist es unverständlich, wenn Professor Halhuber zum Ausdruck bringt, es sei geradezu wünschenswert für manchen Menschen, daß er „reditzei-

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tig seinen Infarkt" bekäme: „Wenn jemand in den Wochen nach dem Infarkt die erzwungene Muße dazu benützt, um Gewissensforschung zu betreiben und sich zu fragen, wel- che Risikofaktoren für ihn die wichtigste Rolle spielen und worin er sein Leben ändern muß, dann kann sich der Glücksfall ereignen, daß der Herzinfarkt für diesen Men- schen wirklich ein Wendepunkt zu einem erfüllteren, glücklicheren, ja sogar längeren Leben wird.**

Was aber, wenn für besagten Menschen der erste In- farkt auch gleichzeitig der letzte ist? Und selbst wenn er überlebt, ist sein Herz durch den Ausfall eines Muskel- bezirks vorgeschädigt. Das Risiko eines zweiten Infarktes ist entsprechend hoch. Außerdem erhebt sich die Frage, mit welchen Ratschlägen das „glücklichere Leben nach dem Infarkt" gewährleistet werden kann. Eine ursächliche Be- handlung gibt es nicht, und die Ausschaltung der bislang bekannten Risikofaktoren ist nicht immer vom gewünsch- ten Erfolg gekrönt.

Greifen wir zwei Beispiele heraus. Zuerst das Senken erhöhten Blutdrucks mit Medikamenten. Zweifellos eine wichtige Maßnahme, weil dadurch Gehirnschläge und Nie- renschäden weitgehend vermieden werden können. Aber die Zahl der Herzinfarkte, so zeigen es die Statistiken, geht unter dieser Therapie nicht zurück.

Zweitens das körperliche Training des Infarktkranken. Körperliche Bewegung, dem Vermögen des einzelnen an- gepaßt, ist zwar unerläßliche Voraussetzung für seine Gesundheit. Aber das Leistungsvermögen des Infarkt- kranken ist eben sehr eingeschränkt. Denn das durch den Infarkt vorgeschädigte Herz kann leicht zu stark belastet und dadurch noch mehr in Mitleidenschaft gezogen wer- den.

Es gibt bisher nur eine einzige kontrollierte Studie, die als  wissenschaftlich  ausreichend  zum  Urteil  über  eine etwaige Wirksamkeit solcher Trainingskuren anerkannt wird. Und diese schwedische Untersuchung hat die Fach- leute sehr enttäuscht: bei den untersuchten 316 Patienten fand sich nach fünf Jahren kein. Unterschied zwischen der Infarkthäufigkeit bei jenen, die ein Trainingsprogramm absolviert hatten, und der Kontrollgruppe, die ohne solche Maßnahmen gelebt hatte.

Ein Bericht der Nationalen Institute für Gesundheit" der USA bezeichnete die Vorstellung, daß körperliches Training das Herz schütze, als zweifelhaft. Sie beruhe auf einer Reihe von Annahmen, von denen einige bewiesen, andere von „fragwürdiger Gültigkeit** seien. So betonen die Autoren: „Es gibt keine überzeugenden Angaben, die beweisen, daß Bewegung wirklich den Grad der Arterio- sklerose-Entwicklung senkt oder ihren Komplikationen vorbeugt."

Es sind also nicht Behauptungen von Journalisten, son- dern die Aussagen von Medizinern, die Herzkranke „ver- unsichern". Die offiziellen Ratschläge sind zwar zweifel- los gut gemeint, ihr Wert muß aber am Erfolg gemessen werden, und der ist deprimierend gering. Dennoch bleibt zum Schluß ein optimistischer Ausblick: Das Versagen der Kardiologie hat dazu geführt, daß die Medizin von heute den Wert der Vorbeugungwiederentdeckthat.Undvorbeu- gen wird immer besser sein als heilen. Voraussetzung da- für ist allerdings, daß die Vorbeugung ins Herz selbst ver- legt wird, und dazu gehört auch eine Schutzbehandlung gefährdeter, vorgeschädigter Herzen, also Vorbeugung durch Behandlung.

Bleibt die Frage, ob orales Strophanthin eines Tages doch noch „hoffähig" oder ob ein gleichwertiges Präpa- rat entwickelt wird.

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4, Ein Lehrstück

Etwa ein Jahr nach dem Heidelberger Tribunal schien es gewiß, daß die Akten über die Diskussion um das peroral verabfolgte Strophanthin geschlossen werden könnten. Es war der pharmazeutischen Forschung gelungen, mit Mil- lionenaufwand ein neues Digitalis-Präparat zu entwik- keln, das nach oraler Verabreichung binnen weniger Mi- nuten seine Wirkung im Herzen entfaltet. Dieser schnelle Wirkungseintritt galt bisher als der einzige Vorzug, den Strophanthin der Digitalis voraus hat. Nachdem jetzt auch diese Überlegenheit ausgeräumt schien und alle sonstigen Eigenschaften des neuen Medikaments den theoretischen Anforderungen entsprachen, wähnten Anhänger der bis- herigen Lehrmeinung, man könne in Zukunft dank dieser Neuentwicklung nicht nur auf die Pille, sondern sogar auf die Strophanthin-Spritze verzichten. War der Herzmedi- zin ein wesentlicher Schritt nach vorn gelungen?

In der Herzstation des Wiener Hanusch-Krankenhau- ses hatte aus diesem Grunde eine Versuchsreihe begonnen, bei der die Wirkung des neuen Medikaments im Vergleich mit einem intravenös gespritzten Digitalis-Präparat und oral verabreichtem Strophanthin getestet wurde. Einer vierten Patientengruppe wurden von Wirkstoffen freie Tabletten als Placebo, als Scheinmedikament gegeben. Da- bei wurden die Herzkranken, ähnlich wie schon 20 Jahre früher bei den Versuchen von Professor Sarre, einer Sauer- stoff-Mangelatmung ausgesetzt.

Es löste allgemeine Überraschung bei den Experimen- tatoren aus, als feststand, daß wiederum nur unter Stroph- anthin die Schadenszeichen im Ekg zurückgingen. Mit Di- gitalis, selbst mit dem neuen Präparat, war das nicht mög- lich. Im Gegenteil: die Ärzte notierten bei dieser Medika- tion „ein häufigeres Auftreten starker anginöser Schmerzen, die in einigen Fällen zu einem vorzeitigen Abbruch des Tests zwangen und damit die Untersuchungsdauer be- schwerdebedingt abkürzten".

„Demgegenüber", hoben die Autoren hervor, zeigte sich nach der g-Strophanthin-Gabe eine deutliche Verbes- serung des Beschwerdebildes: die anginösen Schmerzen tra- ten wesentlich seltener auf."

In der berüchtigten Resorptionsfrage verzichteten die Wiener Ärzte auf eine Stellungnahme. Ihre Ergebnisse waren ihnen Beweis genug dafür, daß orales Strophanthin in hinreichender Menge aufgenommen wird", um die nachgewiesenen positiven Effekte" zu erzielen.

Damit wurde hier erneut bestätigt, was Professor Sarre damals nachgewiesen hatte, was eigentlich schon nach der Entdeckung von Kirk mittels Zahnbürste im Jahre 1859 feststand: Strophanthin wird oral in genügender Menge resorbiert, um eine Herzwirkung zu erzielen. Und das allein ist letzten Endes entscheidend. Das Ergebnis ent- hüllt somit den Strophanthin-Streit als ein Scheingefecht: Es geht um viel mehr als nur um die Wirksamkeit einer Pille. Schon nach einmaliger Verabreichung hatte das Me- dikament eine Normalisierung des Ekgs und eine Vermin- derung der Schmerzen bewirkt. Obwohl es weder ausrei- chend dosiert noch rechtzeitig verabreicht oder gar flan- kiert von Zusatzmaßnahmen gegeben worden war, ob- wohl also keineswegs Herzbehandlung im Sinne Dr. Kerns betrieben worden war, mußte das Ergebnis dennoch als beeindruckend bezeichnet werden.

Es waren ähnlich eindrucksvolle Ergebnisse, wie sie Edens mit intravenös verabreichtem, Sarre wahlweise mit intravenös oder oral gegebenem Strophanthin erzielt hatte, die dagegen nie mit intravenösen oder oralen Digitalis- präparaten erzielt werden konnten, auch mit jenem neue- sten Digitalstoff nicht. Es liegt also nicht am oralen

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oder intravenösen Weg, sondern an der Wahl des Stoffes, ob die Infarktgefahr gesteigert oder abgewendet wird. Aber gerade das paßte weder zur herrschenden Arznei- lehre noch zur herrschenden Infarktlehre, war also doppelt bekämpfenswert.

Als der zuständige Redakteur des Wiener Büros der Bunten" mit dem verantwortlichen Arzt in ein Gespräch zu kommen versuchte, lehnte dieser ein populär-wissen- schaftliches Gespräch" über das Thema ab. Sein Chef Pro- fessor Polzer zauderte einige Tage, bis auch er den gedul- dig wartenden Reporter endgültig abwies.

Menschenversuche mit Schwerkranken?

Nach unserer Veröffentlichung wurde das Hanusch-Kran- kenhaus nicht nur mit einer Flut von Zuschriften aus dem Leserkreis bedacht, auch die Fachwelt meldete sich zu Wort. Was sie zu den Versuchen zu sagen hatte, war aus der Reaktion von Professor Polzer unschwer abzuleiten: wie uns unabhängig voneinander mehrere Mitarbeiter des Hanusch-Krankenhauses berichteten, führte er bittere Klage darüber, daß er sich je in den Strophanthin-Streit habe hineinziehen lassen.

Unter anderen Gesichtspunkten wären auch die Argu- mente nicht verständlich, mit denen die Herzstation An- fragen beantwortete: „Wir verfügen über keine ein- schlägigen Erfahrungen mit der Langzeitbehandlung der genannten Krankheiten mit oralem Strophanthin." (Was wir auch nie behauptet hatten.)

Und: „Unsere Untersuchungen ergaben im Gegensatz zu den Meldungen der Presse noch keinen Hinweis auf therapeutische Effekte der untersuchten Substanz. Es han- delt sich um rein wissenschaftliche Untersuchungen."

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Worauf anders als auf seine therapeutische Wirksamkeit untersucht man ein Medikament? Hatten die Autoren der wissenschaftlichen Veröffentlichung nicht „eine deutliche Verbesserung des Beschwerdebildes" nach Strophanthin- Gabe festgestellt?

Aber meine diesbezüglichen Fragen beantwortete Pro- fessor Polzer erst gar nicht. Er hielt mir die übliche Stand- pauke und kam mir mit dem Gemeinplatz vom „sauberen Journalismus*.

Wie „sauber" ist aber eine Wissenschaft, die Menschen- versuche mit Schwerkranken zum Selbstzweck degradiert? Rudolf Virchow, eine der hoch herausragenden Gestalten der Medizin, äußerte zu dieser Frage:

„Wir haben aus den Zeiten der philosophischen Verwir- rung einen Begriff zurückbehalten, der nirgendwo entwik- kelter ist als in Deutschland, der nirgend mehr Schaden angerichtet hat als in der Medizin: den Begriff der abso- luten Wissenschaft an und für sich um ihrer selbst willen: er ist im Grunde eine Redensart, ein Nichts. Will ein Mensch die Wissenschaft um seiner selbst willen treiben, so wird niemand etwas dawider haben. Ist dieser Mensch aber Mediziner, das heißt, gibt er das Heilen... für den Zweck seines Handelns aus, so versteht es sich von selbst, daß seine Wissenschaft eine Beziehung zu diesem Zweck einschließen muß."

Eigentlich sollte man meinen, daß die von den Wiener

Experimentatoren aufgezeigten Tatsachen jede weitere Diskussion überflüssig machen: Wenn ein Medikament nützt, wo das andere schadet, dann müssen daraus für die Behandlung Konsequenzen gezogen werden. Weil es nicht geschah, wurde dieser Fall zu einem Lehrstück, daß in der Medizin nicht die Tatsachen, sondern die Beschlüsse von Autoritäten entscheidend sind.

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Respekt vor Tatsachen steht über dem Respekt vor Autorität

Autorität ist der „Geltungsanspruch von Personen und die von ihnen ausgehende Machtwirkung", erklärt das Lexi- kon. „Die Autorität erzeugt Gehorsam und ist daher für jede erzieherische Tätigkeit unentbehrlich." Was für den Lehrbetrieb Geltung hat, ist aber unvereinbar mit wissen- schaftlicher Forschung. Denn sie darf, wenn sie die Freiheit des Denkens garantieren will, nur eine einzige Autorität anerkennen: die Natur. Wer sich aber der Natur gegen- über Autorität anmaßt, versucht der Wirklichkeit zu be- fehlen, daß sie anders sei, als sie ist — ein nutzloses Unter- fangen, es sei denn, man verfolgt damit andere Ziele, als wissenschaftlich der Wahrheit zu dienen.

Theorien sind ja nur Beschreibungen der Wirklichkeit. Gibt es in einem Meinungsstreit mehrere Theorien über einen Sachverhalt, dann entscheiden die Tatsachen, die Naturfakten. Wahr kann danach immer nur jene Theorie sein, in die sich die Fakten widerspruchsfrei einfügen las- sen. Rudolf Virchow hat dazu bemerkt: „Die wissen- schaftliche Methode erkennt Autoritäten nur für die Be- obachtung an. Allein wir weisen Autoritäten für die Schlüsse, für die Verwertung des Beobachteten zurück."

Denn so fähig im Beobachten und im Zusammentragen von Fakten einer auch sein mag - sobald er daraus Schlüsse zieht, kann er irren. Jeder aber, der intelligent und gebil- det ist, „kann die Schlüsse prüfen, die aus den Beobachtun- gen gezogen werden" - auch dann, wenn er selbst keine Gelegenheit hat, zu beobachten und zu forschen.

„Der Respekt vor der Größe gehört gewiß zu den be- sten Eigenschaften der menschlichen Natur", erkannte Sigmund Freud an. „Aber er soll vor dem Respekt vor den Tatsachen zurücktreten. Man braucht sich nicht zu

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scheuen, es auszusprechen, wenn man die Anlehnung an eine Autorität gegen das eigene, durch Studium der Tat- sachen erworbene Urteil zurücksetzt." Es kommt also in der Wissenschaft nur darauf an, was wer sagt, und nicht, wer was sagt.

Auch beim Streit um den Herzinfarkt zeigte es sich wie- der, daß sich noch viele Außenstehende kritiklos der Auto- rität unterordnen. „Ich will und kann nicht beurteilen, ob ein Arzt mit einer von ihm entwickelten Therapie einer gefährlichen Krankheit recht hat oder nicht", äußerte sich beispielsweise ein Journalist zu diesem Problem. Wenn er nicht kann, dann hat er - laut Virdiow - entweder nicht genügend Fakten zusammengetragen, oder es steht ihm nicht „die normale Masse der Geisteskräfte und das nötige Maß an Bildung zu Gebot", um seine eigenen Schlüsse zie- hen zu können. Wenn er aber nicht will, dann verzichtet er auf das Recht auf Meinungsfreiheit; er überläßt damit die Entscheidung über ein solch wichtiges Gut wie unsere Gesundheit allein einer Gruppe von Spezialisten.

Ein sehr prominenter deutscher Arzt äußerte nach dem Heidelberger Infarkt-Tribunal privat, hier hätten „nicht medizinische Autoritäten, sondern autoritäre Mediziner" über Leben und Tod entschieden. Die Vertreter der Schul- medizin nützten ihre Machtstellung rücksichtlos aus. Sie würden von der Öffentlichkeit mit den entsprechenden Einrichtungen, den finanziellen und personellen Möglich- keiten ausgestattet und täten, als hätten sie die Wissen- schaft für sich allein gepachtet. Ja, der Begriff „unwissen- schaftlich" sei zu ihrem Lieblingswort geworden, wenn es gelte, Kritiker der etablierten Lehre mundtot zu machen.

Carl Ludwig Schleich, als Erfinder der örtlichen Betäu- bung bedeutender Vertreter der deutschen Chirurgie, hatte in seinen Lebenserinnerungen zu diesem Thema ge- schrieben: „Ein Kritiker hat mich einmal einen Feind der

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Wissenschaft genannt; ja das bin ich auch geworden, näm- lich jener Wissenschaft, die mit dogmatischer Engherzig- keit einfach alles befehdet, was außerhalb des Geheges ih- res selbst umzäunten, methodischen Gartens liegt, der nur jene Gemüse trägt, die ihren Mann ernähren, vom schönen freien Urwald aller Möglichkeiten aber nichts wissen will.. .«

„Für Straf exzesse dieser Art gibt es kein Verzeihen"

Er wies besonders darauf hin, daß alle bedeutenden me- dizinischen Entdeckungen „außerhalb der Hochburg der Großsiegelbewahrer der Wissenschaft" gemacht wurden. Schleich ist selber das beste Beispiel dafür. 1892 trug er auf dem Chirurgenkongreß in Berlin vor, daß er schon Hunderte von Operationen „ohne Narkose, bei vollende- ter Schmerzlosigkeit** vorgenommen habe. Er sehe es des- halb „aus ideellen, moralischen und strafrechtlichen Ge- sichtspunkten** als nicht mehr vertretbar an, „die gefähr- liche Narkose da anzuwenden, wo dieses Mittel zureichend ist".

Als der Sturm der Entrüstung abgeklungen war, fragte der Vorsitzende das Auditorium: „Ist jemand von der Wahrheit dessen, was uns hier eben entgegengeschleudert worden ist, überzeugt? Dann bitte ich die Hand zu he- ben." Es war das gleiche, auch heute noch in der Medizin übliche Verfahren: Zum Urteil über neue Forschung wer- den die Anhänger alter Lehren als Richter berufen, und zwar noch, bevor sie auf diesem Neuland Sachkenntnis er- werben konnten. Kurz zuvor hatte eine Massenrundfrage in der Medizinerschaft ergeben, die von Robert Koch ent- deckten Tuberkelbazillen könnten keineswegs als Erreger

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angesehen werden, weil man über die Ursache der Schwindsucht ja längst anders informiert sei. Keiner der Richter über Koch hatte seine Ergebnisse nachgeprüft oder nur gekannt.

So kam, was bei dieser Art von Wahrheitsfindung kom- men mußte: Kein einziger der 800 anwesenden Kongreß- teilnehmer in Berlin hob die Hand. Das hatte zur Folge, daß die neue Methode fünfzehn Jahre lang den Kranken vorenthalten wurde. Schleich beklagte sich bitter darüber, daß zu seinen Lebzeiten niemand für den ihm „angetanen Schimpf ein „Wort der Sühne" gefunden habe:

„Ist das eine wissenschaftliche Gesellschaft zu nennen, welche eine angebliche Verletzung ihrer eingebildeten Würde so viel höher stellt als den Wert eines Segens der Menschheit, der sich inzwischen die Welt erobert hat, daß sie es mit allen Mitteln zu ignorieren und zu unterdrük- ken sich entschlossen hat?" fragte er in seinen Lebenserin- nerungen. „Immer wieder wiederholt sich derselbe Kampf auf Leben und Tod. Nur niemand vorlassen, eher tot- schweigen, als sich überspringen lassen! Ein Konkurrenz- kampf, heiß wie das Pferderennen, nur um so ekler, als es sich um das Heil der Menschen handelt, dessen Wah- rung angeblich doch immer das höchste Interesse der Ver- walter der medizinischen Machtstellungen sein soll."

Für Schleich war die Hohe Schule fortan ein „Hochwall der Reaktion jeder Art", ein „Montsalvat der Monopole", die „Lindwurmhöhle des Ungeheuers Clique". Wozu die- ses „Ungeheuer" fähig ist, zeigte sich besonders eindring- lich bei Sir Joseph Lister. Er begründete die Antisepsis, die heute selbstverständliche Abtötung von Krank- heitserregern des Patienten vor Operationen; ohne diese Leistung wäre die gesamte moderne Chirurgie nicht mög- lich.

Zu seiner Zeit, als noch ein Großteil der Operierten in

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den Betten verfaulte, gelang es ihm, seine Stationen frei von Wundbrand zu halten. Doch statt diese Methode zu akzeptieren, fielen die Kollegen über ihn her und insze- nierten 1869 auf einem Kongreß in Leeds seine wissen- schaftliche Hinrichtung. Die Sprachregelung dabei will uns bekannt erscheinen: sie qualifizierten den antisepti- schen Gedanken als „schädlich" ab, es sei an der Zeit, mit dem „Wahnsinn" aufzuhören. Und Ärzte, die Listers Methode selbst nie ausprobiert hatten, bezeichneten sie als „verbrecherischen Kunstfehler".

Keinem freilich in der langen Reihe der medizinischen Ketzer wurde so übel mitgespielt wie Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse. Weil er wußte, „daß es den wenigsten Menschen möglich ist, im wissenschaft- lichen Streit manierlich, geschweige denn sachlich zu blei- ben" und weil er nicht persönlich miterleben wollte, wie es „zu jenen Ausbrüchen von Entrüstung, von Spott und Hohn, zur Hinwegsetzung über alle Vorschriften der Lo- gik und des guten Geschmacks" in der Auseinanderset- zung kommt, wich er allen Kongressen aus. Er konnte al- lerdings nicht verhindern, daß er auf jede Art verun- glimpft wurde, ja daß Kollegen seine Einweisung ins Ir- renhaus forderten.

„Die kollegiale Gruppe schloß sich zusammen und machte ihn zum Unkollegen", charakterisiert Alexander Mitscherlich den Kampf gegen Freud. „Es war gewiß nicht die erste Episode akademischer Überheblichkeit beim Er- scheinen eines revolutionären Neuerers. Die Erinnerung an das Schicksal Galileis darf nicht schwinden. Für im Schütze der Gruppe verübte Strafexzesse dieser Art gibt es kein Verzeihen, denn die Geschichte wäre als Lehr- meisterin in Wiederholungssituationen befragbar gewe- sen."

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WER HAT RECHT?

Wer in einem Meinungsstreit beurteilen will, welche Theorie richtig ist, darf sich nicht allein auf die Aus- sage von Autoritäten verlassen. Er ist gezwungen, auch die Tatsachen zur Urteilsbildung heranzuzie- hen. Nur auf diese Weise kann er zu richtigen Schlußfolgerungen kommen.

Wahr sein kann immer nur jene Theorie, die mit der Wirklichkeit übereinstimmt - eine Theorie also, in die sich die Tatsachen widerspruchsfrei einfügen las- sen. Respekt vor der Autorität ist eine wertvolle Eigenschaft. Respekt vor den Tatsachen hat aber Vorrang. Das heißt:

Entscheidend ist nicht, wer was sagt, sondern was wer sagt.

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5. Die Zwangsjacke von Betriebsblindheit und Prestige

Worin liegen eigentlich die Ursachen für das starrsinnige

Behindern wissenschaftlichen Fortschritts? Aus Thomas

Kuhns kritischer Studie „Die Struktur wissenschaftlicher

Revolutionen" geht hervor, daß der Grundstein für das Fehlverhalten schon im harten „Ausbildungsritual* ge- legt wird. Der Studierende, erst recht der Nachwuchs- dozent, durchläuft die in einer strengen Hierarchie übliche „Rückgratsmühle", wie es im Fachjargon heißt.

Von Anfang an werden ihm die genormten Anschauun- gen, die Spielregeln des Lehrdogmas so gründlich einge- trichtert, daß es ihm später aus psychologischen Gründen kaum noch möglich ist, diese Spielregeln in Frage zu stel- len. Es ergeht ihm nicht anders als einer dressierten Ratte, der abnorme Verhaltensmuster aufgezwungen worden sind.

Seine Erziehung ist darauf zugeschnitten, daß er gar keinen neuen Weg entdeckt, der ihn aus dem Schulhof herausführen könnte, geschweige denn, daß er einen sol- chen Weg je beschreiten würde. Er ist zur Betriebsblind- heit erzogen. Er hat, wie Kuhn es ausdrückt^ in seiner Fachausbildung Schubladen geliefert bekommen, in di6 er die Natur hineinzuzwängen hat. Was da nicht hineinpas- sen will, dem schenkt er keine weitere Aufmerksamkeit.

Nun, werden einige sagen, haben wir es nicht schon im- mer gewußt? Wissenschaftler sind auch nichts weiter als Schwachköpfe! Doch das wäre absichtliches Mißverstehen.

Es handelt sich bei diesem Verhalten keineswegs um Dummheit, sondern - nach einem Wort des amerikani- schen Zukunftforschers Hermann Kahn - um eine „aner- zogene Unfähigkeit", Dinge aus anderer Sicht zu sehen. Und wie jede Gewohnheit, wird auch sie mit den Jahren immer ausgeprägter.

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 Die Ausbildung ist der erste Hauptgrund für die Scheuklappen eines Wissenschaftlers. Eine dogmati- sche Erziehung zwingt ihm sein Handeln auf, er ist gleichsam psychisch programmiert. Er ist darauf ge- trimmt, nur dorthin zu schauen, wo die Schulweis- heit ihr Licht aufgesteckt hat.

Von daher wird auch verständlich, warum Professor Schettler einen doch ganz offensichtlich Kranken nur des- halb gesund schreibt, weil er keine Veränderung in den Herzkranzgefäßen feststellen kann. Sein Denken ist von der Koronarlehre so indoktriniert, daß er nur durch seine in der Schule angepaßten Gläser zu sehen imstande ist.

Ein geradezu groteskes Beispiel für diese Schulblindheit lieferte Professor Donat in Heidelberg, als er sagte: „Zwangsläufig muß jede echte Wissenschaft an ihren Theorien zweifeln. Jede Theorie wird durch neue Er- kenntnisse, die sich nicht aus ihr erklären lassen, zu Fall gebracht." Statt sich aber an die eigene Nase zu fassen, fuhr er fort: „Wir müssen hier zu einer gemeinsamen Ba- sis kommen und sagen, wovon wir reden. Wir reden hier vom Infarkt, von der Koronarerkrankung. Das ist meine Überzeugung." Er, der zum Zweifel aufgerufen hatte, unterstellte also unkritisch das Koronardogma als Ursache des Infarktes und begründete das nicht aus den Fakten, die das auch nicht erlauben, sondern aus eingeimpfter Überzeugung.

Warum die Menschheit nicht vom Fleck kommt

Gegen Überzeugungen helfen keine vernünftigen Argu- mente. Schon der Student akzeptiert das Dogma nur „we- gen der Autorität des Lehrers und des Lehrbuches, nicht

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aufgrund von Beweisen", wie Kuhn feststellt. Höchste Norm für die Gültigkeit eines Lehrsatzes ist für den dogmatisch erzogenen jungen Wissenschaftler deshalb „nie- mals" die kritische Prüfung anhand der "Wirklichkeit, son- dern allein die „Billigung** durch seine Gemeinschaft. Denn er arbeitet „nur für einen Kreis von Kollegen, also für ein Publikum, das seine Werte und Überzeugungen teilt". Goethe hat es so formuliert: „Eine Schule ist als ein einzi- ger Mensch anzusehen, der hundert Jahre mit sich selbst spricht und sich in seinem eigenen Wesen, und wenn es noch so albern wäre, ganz außerordentlich gefällt."

Dazu kommt das hohe Sozialprestige des Hochschul- Professors, das seine Autorität untermauert. Titel, Ämter, Würden schmücken ihn, so mancher hat ein fürstliches Ein- kommen. Hat er erst einmal diese Stufe erklommen, dann wird er besorgt darauf achten, daß sein Ruf makellos bleibt. Wie sollte er da Fehler eingestehen?

Hat er doch Tausende von Studenten belehrt, seine wis- senschaftlichen Vorstellungen in vielen Büchern verbrei- tet, als Gutachter vor Gericht oft die Schwurhand gehoben. Und plötzlich soll er all das abschütteln wie ein paar Tropfen Wasser?

Allein schon deshalb lehnt es die akademische Gemein- schaft ab, „eine altehrwürdige Theorie** zurückzuweisen zugunsten eines neuen Lösungsversuches. Sie glaubt, sie setze ihr Prestige aufs Spiel, sobald sie für überholt und unbrauchbar erklärt, was Jahrzehnte ihre Billigung gefun- den hat.

 Autorität ist also ein weiterer Hauptgrund für das Festhalten am Dogma. Sie war für Goethe die eigent- liche Ursache dafür, daß „die Menschheit nicht vom Fleck kommt". Die psychologische Zwangsjacke von

Ausbildung -und Autorität muß jeden wissenschaft-

267

liehen Fortschritt unterbinden. Deshalb kann auch der Neuerer niemals eine Diskussion oder gar Ver- ständnis erwarten, sondern immer nur Ketzergericht und Bannfluch.

Erst im Licht solcher Gesetzmäßigkeiten wird das Ver- halten von Hochschullehrern wie Doerr, Halhuber, Schett- ler, Wollheim und der anderen im Infarktstreit begreif- lich: Selbst wenn ein Engel aus dem Himmel euch anderes offenbarte, als wir euch lehren - er sei verflucht!" unter- wies der Apostel Paulus die Galater.

Professor Kuhn hat diese Gesetzmäßigkeiten an Bei- spielen aus der Geschichte der Physik demonstriert, ohne Anstoß an der aufgezeigten Problematik zu nehmen. Vielleicht ist es auch wirklich zweitrangig, ob es 50 Jahre früher oder später Allgemeingut wird, daß das Licht nicht aus Wellen, sondern aus Korpuskeln besteht. Nicht so in der Medizin. Denn es ist von entscheidender Bedeutung, daß die Richtlinien für die Behandlung von Kranken ge- ändert werden, noch bevor sie zu skandalösen Vorkomm- nissen führen.

Welche Lösungen bieten sich an? Was für Anregungen sollten diskutiert werden? Erstens die

Trennung von Forschung und Lehre

Wissenschaftlicher Fortschritt, also Zuwachs an Erkennt- nis, wird immer nur durch Forschung möglich. Der For- scher an der Hochschule ist aber gleichzeitig auch Lehrer, weil er die Studenten über die Ergebnisse seiner Forschun- gen unterrichten soll. Da die Lehre aber aus den ange- führten Gründen immer auf der Stelle treten muß, wird und muß sie der Forschung immer in den Arm fallen. Lehre

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muß Autorität besitzen, Forschung und Autorität sind da- gegen unvereinbar. Die Einheit von Forschung und Lehre führt zwangsläufig dazu, daß Erkenntnisfortschritte un- terdrückt werden.

Kontrolle der Wissenschaft durch die Öffentlichkeit

Kein Bereich des öffentlichen Lebens ist heute noch ein solches Monopol einer kleinen Gruppe von Spezialisten wie der wissenschaftliche Sektor. Nachdem aber gerade hier nicht nur enorme Kosten anfallen, sondern auch die wichtigsten Entscheidungen für unsere Zukunft getroffen werden, ist das mehr als unbegreiflich. Um einen un- verdächtigen Zeugen zu Wort kommen zu lassen, ein Zitat von Professor Halhuber: „Ich glaube aber grund- sätzlich, daß es mit der Medizin ähnlich ist wie mit der Atomphysik: sie ist eine zu ernste Sache, als daß man sie den Physikern bzw. den Ärzten allein überlassen könnte.*

Aber die Autoritäten dulden keine Einflußnahme; sie haben, wie Thomas Kuhn feststellt, alleinige „Vollmacht", die Spielregeln zu wählen, nach denen geforscht und ver- fahren wird; die einzigen Inhaber dieser Spielregeln sind jedoch die Mitglieder der akademischen Gemeinschaft. Ein Kritiker merkte an: „Die Medizin stellt das einzige Groß- unternehmen dar, in dem der Verbraucher keine Kontrolle darüber hat, was er erwirbt."

Abbau von Machtvollkommenheit auf der einen Seite setzt aber Zunahme von Wissen auf der anderen voraus. „Eben so sehr und vielleicht noch mehr wichtig ist die Bildung der Laien. Solange unsere Schulen ihre Haupt- tätigkeit in der Übertragung gewisser Kenntnisse und

Doktrinen entwickeln, welche den Autoritätsglauben be-

269

festigen und im besten Falle unfruchtbare Gelehrsamkeit hervorrufen", schreibt Virchow, „solange wird freilich die Grundlage fehlen, welche den Laien befähigt, über die Ärzte und Afterärzte ein eigenes Urteil zu haben." Ein klingender Titel sei deshalb auch für einen „medizinischen Pfuscher" ein „sehr lukratives Aushängeschild".

„Denn was ist Pfuscherei?" fragt Virchow. „Die Hand- habung der Medizin durch einen Unwissenden oder Un- geschickten." Die Forschung erweitere den Gesichtskreis der Wissenschaft von Jahr zu Jahr in solchem Ausmaß, „daß mancher, der vor zehn Jahren vollkommen als ein Wissender gelten konnte, heute r unwissend und demge- mäß für einen Pfuscher erklärt werden kann".

Es ist also keineswegs gesagt, daß die Wissenden ausge- rechnet an der Hochschule und die Pfuscher unter den Außenseitern zu suchen sind. Die Rechtsprechung hat des- halb auch ausdrücklich hervorgehoben: „Die allgemeinen oder weitaus anerkannten Regeln der ärztlichen Wissen- schaft genießen grundsätzlich keine Vorzugsstellung vor den von der Wissenschaft abgelehnten Heilverfahren ärzt- licher Außenseiter."

Solche Entscheidungen sollen gewährleisten, daß der Arzt in seiner Behandlungsfreiheit keinen Dogmen unter- worfen ist. „Das würde den Stillstand der Medizin be- deuten - eine indiskutable Konsequenz", kommentiert ein Jurist. Aus dem gleichen Grund besteht eine Fortbildungs- pflicht für jeden Arzt - auch für den Hochschulprofessor. Er darf „sich neuen Lehren und Erfahrungen nicht aus Be- quemlichkeit, Eigensinn oder Hochmut verschließen", wie das Gericht hervorhebt.

Aus diesen Urteilsbegründungen geht hervor, daß der Praxisarzt dem Leiter einer Universitätsklinik durchaus gleichgestellt ist. Im täglichen Leben sieht das allerdings anders aus. Daraus resultiert drittens der Vorschlag einer

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Aufwertung des selbständigen Arztes

Es gibt in letzter Zeit eine Reihe von Bestrebungen, den freipraktizierenden Arzt an die Kandare zu nehmen; so- gar die Schreckparole von der Verstaatlichung geht um. Gerade aber die „freiere Praxis" (Kuhn) hat sich als Nähr- boden für geistige Revolutionen erwiesen; neue Heilver- fahren haben dort eine Heimstatt gefunden. Die Erhal- tung der Selbständigkeit des Praxisarztes ist ein Gebot der Stunde.

Aber noch ein anderer entscheidender Gesichtspunkt muß in diesem Zusammenhang berücksichtigt werden. Professor Gillmann erkannte beim Heidelberger Tribunal „ein prinzipiell unterschiedliches Krankengut der Praxis gegenüber der Klinik" an. Mit jenen Abschnitten eines chronischen Leidens, in dem am ehesten noch Heilung oder doch Verhütung des Unheils (Infarkt) möglich ist, wird meist der niedergelassene Arzt konfrontiert. Der Klini- ker hat es fast immer mit Notfällen zu tun, und für den akuten Notfall ist er auch gerüstet. Die technischen Maß- nahmen zur Erhaltung des Lebens und die geradezu schon unvorstellbare Perfektion der Chirurgie sind es ja, die das Ansehen der Ärzte in der Öffentlichkeit so sehr aufgewer- tet haben.

Es ist aber unsinnig, daß die Behandlungsrichtlinien der Praxis von klinischen Experten festgelegt werden. Es kann zu keinem fruchtbaren Ergebnis führen, wenn sich der mit den Anfangsstadien einer Erkrankung befaßte Arzt nach solchen Maßstäben richten soll, die von klini- schen Notfällen und chronischen Spätschäden abgeleitet werden.

Das gilt auch für die Diskussion um den Herzinfarkt:

Je weiter ein Herz vorgeschädigt ist, desto geringer ist die

Heilungsaussicht. Je später ein Arzt den Patienten zu Ge-

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sieht bekommt, desto schwieriger ist es für ihn, einen Be- handlungserfolg zu erzielen.

Deshalb geht es beim Strophanthin-Streit, so sonder- bar das klingen mag, im Grunde genommen gar nicht um das Strophanthin. Es geht darum, krankhafte Prozesse im Herzen so frühzeitig zu erkennen, daß sie rechtzeitig behandelt und noch rückgängig gemacht, daß gestörte Stoffwechselabläufe wieder normalisiert werden können. Wenn sich eine andere Arznei finden läßt, mit der das ebenso gut oder gar noch besser zu erreichen ist als mit Strophanthin, dann wäre eben dieses Medikament das Mittel der Wahl. Leider ist das aber bisher ebensowenig der Fall wie die Aussicht, ein besseres Frühwarnsystem als das der Herzschmerzen in absehbarer Zeit zu ent- decken.

Der selbständige Arzt hat gehandelt, er hat sich schon weitgehend von der Bevormundung durch die Universi- tätsklinik freigemacht. Am besten veranschaulicht das die Verkaufskurve jenes oralen Strophanthinpräparates, das zusammen mit Dr. Kern und Professor Manfred von Ar- denne entwickelt worden ist. Der Anstieg von Jahr zu Jahr gibt zu denken. Auch Durchhalteappelle und das Ausschlachten fehlprogrammierter oder mißlungener Ex- perimente mit diesem Medikament auf Fortbildungskon- gressen können daran auf die Dauer nichts ändern. Denn dieser wissenschaftliche Grundsatz hat nach wie vor seine Gültigkeit: Wer die Ergebnisse eines anderen nicht wie- derholen kann, hat sie deswegen nicht widerlegt."

Das Verteufeln oralen Strophanthins nimmt immer mehr den Charakter eines zunehmend blindlings geführ- ten Vernichtungskampfes einer irrational sich verteidigen- den Macht an. Das verschärft nur den Ernst der Situation. Die Krise wird sichtbar, die Revolution im Sinne Kuhns unvermeidlich. Die warnenden Stimmen mehren sich. Im

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Hinblick auf die Größe des Infarktproblems und des langsamen Vorankommens im Verstehen und Unterkon- trollebringen dieser Krankheit erscheint es dringend not- wendig, daß wir unsere traditionelle Theorie kritisch überprüfen und jede vorschnelle Ablehnung neuer Hypo- thesen vermeiden, so bizarr sie zuerst auch erscheinen mögen**, schreibt Professor T. W. Anderson in Kanada. Von Ernst Edens, der als Erster Strophanthin zur In- farktverhütung angewendet hat, stammt das Wort, der Arzt habe nicht den Lehren, sondern dem Leben" zu dienen.

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Anhang

Ergänzungen und Hinweise

Literatlirverzeichnis

Zu Kerns ersten Arbeiten über die Herzkrankheiten

Es gibt drei Formen der Herzinsuffizienz. Diese Erkenntnis ist der Ausgangspunkt für die späteren Arbeiten Kerns über die Entstehung des Herzinfarktes. Er stieß seinerzeit auf völlige Ab- lehnung, weil er davon ausging, daß der Mensch nicht ein Herz, sondern zwei Herzen habe. Dieser Widerstand war so unver- ständlich nicht, beruht er doch auf Jahrhunderte alter Überzeu- gung, die sich auch im Sprachgebrauch ausdrückt: die Menschen können zwar ein hartes oder weiches, ein gutes oder schlechtes, ein warmes oder kaltes, ein fröhliches oder trauriges, ein golde- nes oder steinernes Herz haben, aber wie unterschiedlich die Be- schaffenheit ihrer Herzen auch sein mag, sie haben in jedem Fall nur eines. Wenn sich also schon der Mann auf der Straße gegen diese verwirrende Zumutung zur Wehr setzt, wie dann erst der Mediziner, der doch sogar auf dem Röntgenschirm nur ein ein- ziges Herz in der Brust schlagen sieht.

Doch auch hier trügt der Augenschein. Die Täuschung kommt dadurch zustande, daß die beiden Herzen an gleicher Stelle in der Brust sitzen, sogar teilweise zusammengewachsen sind. Des- halb klopfen sie auch so präzise gleichzeitig, daß man immer nur eins zu hören glaubt.

Bei künstlichen Herzen ist diese Zweiheit besser erkennbar, da bei ihnen das linke und das rechte Pumpelement deutlich voneinander abgesetzt sind.

Inzwischen ist allgemein anerkannt, daß das Herz aus zwei

Pumpen besteht, die hintereinander geschaltet sind, um je einen

277

Teil des Blutkreislaufs zu bewältigen. Und so sehr sie auch durch Muskulatur und Gefäßversorgung an ihrer Berührungs- fläche miteinander verbunden sind — im Strömungskreis des Blutes sind sie weit voneinander entfernt. Das linke Herz, mit Vorhof und Kammer, versorgt die Gefäße fast des ganzen Kör- pers mit Blut, im Rumpf, im Bauchraum, im Kopf, in den Ar- men, den Beinen, und pumpt schließlich das verbrauchte Blut zum rechten Herzen weiter.

Das rechte Herz hat das gleiche Fördervolumen wie das linke Herz. Es muß das verbrauchte Blut — die gleiche Menge in der gleichen Zeit — zur Lunge und von dort, frisch angereichert mit Sauerstoff, zum linken Herzen weiterpumpen.

Wird eines der beiden Herzen schwächer als das andere, wirft es zunächst weniger Blut aus, pumpt also nur eine geringere Menge weiter, als ihm vom anderen Herzen zugeführt wird.

Bleibt auf solche Art eines der zwei Herzen, wenn es krank. ist, mit seiner Arbeitsleistung hinter der des anderen zurück, dann ist es „insuffizient*, wie es in der Fachsprache heißt; die Kardiologie, die Lehre von den Funktionen und Krankheiten des Herzens, spricht von der Insuffizienz des Herzens. Das ist natürlich wieder nicht ganz richtig. Wenn es zwei Herzen gibt, muß es drei Formen der Herzinsuffizienz geben, keine mehr und keine weniger: die Rechts-Insuffizienz, die Links-Insuffi- zienz und die Doppel-Insuffizienz, wenn beide Herzen gleich- mäßig an Leistungskraft verloren haben.

Was geht nun vor sich, wenn eins der Herzen insuffizient, leistungsschwächer geworden und nicht mehr imstande ist, für das stauungslose Gleichmaß der Blutverteilung im Kreislauf zu sorgen? Am anschaulichsten ist es, sich eine Seilbahn vorzustel- len, die Skifahrer auf einen Berg befördert. In der Mittelstation müssen die Passagiere umsteigen, um mit einer zweiten Gondel den Gipfel zu erreichen. Sie muß genauso viele Skifahrer auf- nehmen und genauso schnell transportieren können wie die erste, weil es sonst in der Mittelstation zu einer Stauung kommt.

Genauso ist es bei den beiden Herzen. Ist zum Beispiel das linke voll leistungsfähig und das rechte nicht, dann pumpt das linke Herz so viel Blut durch den Körper zum rechten, daß

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dieses die Flüssigkeitsmenge nicht im gleichen Maß bewältigen und zum linken weiterpumpen kann. Als Folge staut sich das Blut vor dem rechten Herzen, wie sich die Skifahrer vor der Gondel der Mittelstation stauen, wenn die andere Gondelbahn zu langsam läuft. Im menschlichen Organismus wird diese Stauung zum Symptom einer Erkrankung, im dargestellten Fall der „Rechts-Insuffizienz*.

Im gesamten Großkreislauf herrscht dann ein gesteigerter

Druck, weil das normal-kräftige linke Herz gegen das in seiner Leistungsfähigkeit geschwächte rechte Herz, also gleichsam gegen einen Widerstand anpumpen muß. Es kommt zu einer Stauung, wobei die Staumauer durch das Restblut im rechten Herzen gebildet wird, das nicht mehr ausgepumpt werden konnte und jetzt das neuankommende Blut aus dem Großkreis- lauf am Einströmen hindert.

Die Gefäße im Großkreislauf sind durch die Rückstauung übernormal gefüllt, besonders die nachgiebigsten Abschnitte, die feinen Haargefäße. Das Sauerstoffangebot des langsam strö- menden Blutes kann den Verbrauch der Gewebe nicht mehr decken, so daß sie bald die blaue Farbe verbrauchten Blutes an- nehmen.

Neben dieser Blausucht (blaue Lippen) tritt auch die Wasser- sucht auf. Durch den Stauungsdruck wird vermehrt Lymph- flüssigkeit ins Gewebe gepreßt, die nicht in die gestauten Ge- fäße zurückfließen kann. Das führt zu Ödemen, zur teigigen Schwellung der Gewebe. Blausucht und Wassersucht sind so auf- fallende Merkmale, daß sie in allen Lehrbüchern als die klas- sischen Symptome der Herzinsuffizienz gelten - obwohl Kern schon 1947 darauf hingewiesen hatte, daß es sich dabei um Krankheitsanzeichen nur des rechten Herzens handelt.

Und die Linksinsuffizienz?

Ist das linke Herz leistungsschwächer als das rechte, muß das rechte gegen einen Widerstand anpumpen. Das Blut staut sich in der Lunge, und es kommt zu bronchitis-ähnlichen Zuständen. Der Patient glaubt, keine Luft mehr zu kriegen, eine beängsti- gendes Gefühl, das ihn besonders im Liegen befällt, weil das

Blut dann nicht- in den Körper abfließen kann und durch

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Stauung die Nerven reizt. Diese Symptome weisen viel weniger auffallend auf das Herz hin als geschwollene Beine, Leber- stauung oder bläuliche Lippen. Deshalb hat die Schulmedizin lange bestritten, daß es überhaupt eine Linksinsuffizienz gebe. Als Kern 1948 darüber veröffentlichte, wurde er ausgelacht. Besonders kraß wurde die Ablehnung, als Kern Beschwerden oder Schmerzen im Herzbereich und in den dazugehörigen Ner- venzonen als Symptome einer Erkrankung des linken Herzens darstellte, die auch dann schon auftreten, bevor noch eine stär- kere Insuffizienz sichtbar geworden ist.

Zur Sonderstellung des Strophanthins

Im Nachwort zur „Digitalisbehandlung" berichtet der Edens- Schüler Heinz Zimmermann über die „erstaunlichen Erfolge, die Edens nun bei der organisch bedingten Angina pectoris er- zielte und zwar auch dann, wenn keine manifeste Herzschwäche nach den bisherigen Ansichten die Anwendung eines Digita- loides auch nur einigermaßen zu rechtfertigen schien. Nach drei Jahren konnte er an einem Erfolgsgut von mehreren 100 Kran- ken ,die intravenöse Strophanthinbehandlung als die sicherste Behandlung der organisch bedingten Angina pectoris einschließ- lich des Herzinfarktes' bekanntgeben und in die Klinik einfüh- ren. Diese Veröffentlichung, in Nr. 37 der Münchn. Med. Wo- chenschrift 1934, wird in der Medizingeschichte ein Markstein bleiben. Die von Edens hier neueingeführte Indikation war wirklich epochemachend; denn mit ihr begann ein neuer Ab- schnitt in der Herztherapie überhaupt."

Zimmermann wies nachdrücklich auf die erweiterte Indika- tion für Strophanthin bei Krankheiten hin, „bei denen man sich bisher irrtümlich gescheut hatte, das Strophanthin anzuwenden, oder bei denen man die berechtigte Ablehnung der Digitalis un- besehen auf das Strophanthin übertragen hatte. Zunächst war das Aufsehen über den umstürzlerischen therapeutischen Vor- schlag groß, und es blieb auch Edens das Schicksal nicht erspart, seine ärztliche Tat, die zweifellos dem Wohle der Kranken diente, einer unzulänglichen Kritik ausgesetzt und die Ausbrei- tung seiner Therapie durch mangelhafte Einwände behindert

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zu sehen." Edens habe jede Auseinandersetzung vermieden, denn er war überzeugt, „daß einmal eine Zeit kommen würde, in der man die Unterlassung der rechtzeitigen Strophanthin- behandlung als Kunstfehler verurteilen werde". Er entschied, daß die Wirkung von Strophanthin nicht in längeren Be- obachtungsreihen mit einem anderen Digitalisglykosid vergli- chen werden sollte: „Nachdem wir das Strophanthin einmal als das beste und sicherste Mittel erkannt haben, steht uns nicht mehr das Recht zu, es einem Kranken, geschweige einer Reihe von Kranken, nur aus wissenschaftlichen Gründen, nur zur Prü- fung einer noch unsicheren Wirkung eines anderen Mittels, vor- zuenthalten und dabei eine für die Heilung wertvolle Zeit zu verlieren."

Zur Infarktverhütung durch Strophanthin

Neuerdings sind in Brasilien zwei Arbeiten erschienen, die Edens*

Feststellungen bestätigen. Q. H. de Mesquita setzte intravenöses Strophanthin zuerst bei drohendem Myokardinfarkt ein und berichtete, die Erfolge seien „sehr gut, ja tatsächlich sogar er- staunlich".

Daraufhin behandelte er 154 Patienten, die mit der elektro- kardiografisch und klinisch gestellten Diagnose „akuter Herz- infarkt" in die Koronar-Intensivstation des Hospitals Mata- razzo in Sao Paulo aufgenommen worden waren, gleichfalls mit intravenösem Strophanthin und Zusatzmedikation. Die „mar- kanten Wirkungen" des Strophanthins ließen sich schon am ge- ringeren Bedarf von schmerzstillenden Medikamenten und Be- ruhigungsmitteln, am seltenen Auftreten von Herzarrhythmien, von Herzinsuffizienzen und kardiogenen Schockzuständen er- messen, vor allem aber an der niedrigen Sterblichkeitsrate von nur 7,7 Prozent. Außerdem sei das klinische Bild viel ruhiger, der Krankheitsverlauf viel weniger dramatisch. Zusammenfas- send schreibt Mesquita: „Der Myokardinfarkt kann durch recht- zeitige Anwendung intravenösen Strophanthins vermieden, an- dernfalls sein Verlauf gestoppt oder mindestens abgeschwächt

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werden." Deshalb sei die gegenwärtige Gewohnheit einer sym- ptomatischen Therapie „zu verwerfen" und an deren Stelle die sofortige Anwendung der Strophanthin-Therapie „aufzugrei- fen". Auch diese Arbeit wurde von der deutschen Kardiologie nicht zur Kenntnis genommen.

282

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286

Zur Begriffserklärung der koronaren Herzkrankheit

Der Begriff Koronarinsuffizienz' bedeutet lehrgemäß nicht nur eine Funktionsschwäche der Kranzgefäße, er soll auch die Folge- erscheinungen, also die Zerstörung im Herzmuskel miteinschlie- ßen. Büchner schreibt dazu: „Bei vermindertem Sauerstoffgehalt des Blutes kann, auch im nichtstenosierten Koronarsystem, eine akute oder chronische Koranarinsuffizienz dadurch eintreten, daß, in Anpassung an die Hypoxämie, die Durchblutung der Koronararterien zwar gesteigert wird, die Durchströmungs- fähigkeit des Koronarsystems aber nicht ausreicht, um die Wir- kung der Hypoxämie zu kompensieren."

Nach dieser Lehre entstehen Herzmuskelschäden also aus- schließlich nur aufgrund einer Koranarinsuffizienz, die auch dann postuliert wird, wenn sich das Koronarsystem als „nor- maldurchgängig'* erweist, also keine Verengung vorliegt. Zu welchen grotesken Vorstellungen das geführt hat, zeigt sich in einer späteren Veröffentlichung von Doerr: „Funktioniert z. B. die Sauerstoffdruckregelung in der Passagierkabine des Strato- sphärenflugzeuges nicht, gelangen die Reisenden unter die Be- dingungen der ,Sauerstoffnotl. Es entsteht u. a. auch eine Koro- narinsuffizienz." Der Sauerstoff-Mangel im Herzen wird dem- nach sogar dann auf ein Versagen der Herzkranzgefäße zurück- geführt, wenn er ganz andere Ursachen hat, also auch bei ge- sunden Passagieren, deren Kranzgefäße nachweislich voll funk- tionsfähig sind.

Zur Theorie der Gefäßverschlüsse durch Arteriosklerose

Kern unterscheidet zwischen nichtstenosierenden Atheromen und echten Verschlußkrankheiten. Als Atherosklerose charakterisierte Doerr diejenige Form der Arteriosklerose, „welche durch auf- dringlich starke Einlagerung sehr verschiedenartiger Triglycerid- Cholesterinester, Lipide und Fetteiweißverbindungen in die in- neren Gefäßwandschichten ausgezeichnet ist. Vom Standpunkt des gebildeten Laien handelt es sich um die Arteriosklerose."

Die Feststellung, daß Atherome nicht stenosieren, stammt

287

von Richard Thoma. Seine Experimente zeigen, daß nur die Gefäße von Leichen durch Atherome verschlossen sind, während das bei Lebenden nicht der Fall ist. Wenn mit dem Tod der Blutdruck aufhört, der im Leben die Kranzarterien um rund das Zwanzigfache dehnt, fallen die Arterien in sich zusammen. Sie haben nur noch einen Bruchteil ihres ursprünglichen Kali- bers, so wie ein Fahrradschlauch, dem die Luft ausgegangen ist. Um in den Leichengefäßen wieder den gleichen Zustand zu erzeugen, der zu Lebzeiten bestanden hatte, mußte Thoma in den Arterien des toten Körpers jenen Füllungsdruck hervor- rufen, der dem Blutdruck des Lebenden entsprach. Er ließ war- mes Paraffin mit Hilfe eines Druckgerätes in den Kreislauf ein- strömen, wo es sich rasch verbreitete und in den kleinsten Ge- fäßen zu erstarren begann. Die im Tod leergelaufenen und zu- sammengeschrumpften Arterien mitsamt ihren Arteriosklerose- polstern waren jetzt wieder genauso aufgespreizt wie vorher im Leben durch den Blutdruck.

Bei der späteren Leichenöffnung zeigte es sich, daß Gefäße mit Atheromen kreisrund geformt und durchgängig waren, die Fettpolster ragten nicht in das Gefäß vor und hatten keine stenosierende Wirkung. In tausenden Versuchen kam Thoma ausnahmslos immer wieder zu dem gleichen Ergebnis. Spätere Untersuchungen von Levene und Kreinsen haben diese Befunde bestätigt.

Ein Gefäß nach dem Tod läßt sich mit einem Fahrradschlauch vergleichen, dem die Luft ausgegangen ist. Niemandem würde es einfallen, auf einem Rad zu fahren, dessen Schläuche in einem solch miserablen Zustand sind. Und genauso falsch ist es, den Zustand eines Gefäßes nach dem Tod als den normalen Be- triebszustand des Organismus im Leben anzusehen. Arterien sind gummiartig dehnbare Schläuche, die im Lauf der Jahre an manchen Stellen wandschwach und ausgebeult werden. Dort kommt es dann zu Unregelmäßigkeiten in der Blutströmung, Wirbel treten auf, der Blutfluß wird empfindlich gestört. In solche durch den Blutdruck ausgebeulte Gefäßpartien lagert der Organismus Bindegewebe und andere Substanzen ein (Gho- lesterin, Fett, Kalk), die wie ein Beet oder wie ein Polster die

288

Ausbeulung „ausspachteln". Man bezeichnet solche Beete als Atherome (griech.: Brei). Danach ist also die Atheromatose oder Atherosklerose, jene spezielle Sonderform der Arterioskle- rose, die im allgemeinen Sprachgebrauch als die Arteriosklerose schlechthin bezeichnet wird, eine Selbstschutzmaßnahme des Organismus, die eine störende Ausweitung korrigiert.

Für Verschlußprozesse gelten andere Gesetzmäßigkeiten, die noch nicht befriedigend geklärt sind, obwohl eine Reihe inter- essanter Hypothesen besteht. Auf jeden Fall handelt es sich um andere Formen der Arteriosklerose als die fälschlich angeschul- digten Atherome.

Zum Thema Kreislauferkrankungen

Andere Leiden, die neben dem Herzinfarkt der Arteriosklerose zur Last gelegt werden, sind in erster Linie Gehirnschläge und Verschlußkrankheiten der Beine, allgemein als Raucherbein be- kannt. Aber auch im Gehirn scheinen die pathologischen Vor- gänge keine Folge einer Gefäßerkrankung zu sein. G. Quadbeck betont, „daß es keine Korrelation gibt zwischen den zerebralen Gefäßveränderungen und der Leistungsfähigkeit des Gehirns im letzten Abschnitt des Lebens. Bei frühzeitig Gealterten und so- gar bei Altersdementen findet man oft zarte Hirngefäße, wäh- rend man bei Verstorbenen, die bis ins hohe Alter ihren Beruf noch voll ausgeübt haben und hier Überragendes zu leisten im- stande waren, erhebliche arteriosklerotische Veränderungen an den Hirnbasisgefäßen beobachten kann".

Ganz anders liegen die Verhältnisse bei den peripheren Durch- blutungsstörungen. Zu dem normalen Gefäßinnendruck, der durch die Pumpleistung des Herzens erzeugt wird, kommt das Gewicht der Blutsäule. Deshalb ist im Bein sogar in den Venen der Blutdruck höher als etwa in den Arterien des Gehirns. Diese besonderen Druckverhältnisse sind die Voraussetzung da- für, daß es bei der Einwirkung zusätzlicher Faktoren zu Passa- gebehinderungen im Endstromgebiet kommt (Kapillaropathien). Aus diesem Grunde können bei Gefäßerkrankungen die präfor- mierten Anastomosen die Ausgleichsversorgung nicht überneh- men. Deshalb gibt es im Bein echte Verschlußkrankheiten.

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Zur Frage der Zuverlässigkeit der Koronardiagnostik

Aufschlußreich ist die Arbeit von FitzGibbon et al., die an

160 Herzkranken die Ergebnisse des Belastungs-Ekgs mit den

Koronarangiogrammen verglichen haben. Es zeigte sich, daß die

Übereinstimmung äußerst gering ist. So hatten z. B. von 101

Patienten mit schweren Koronarstenosen im Angiogramm 37 (37,5 °/o) normale Belastungs-Ekgs, unter Einbeziehung der fraglichen EKG-Befunde sogar 54 Patienten (55 %). Insgesamt hatten ohne die fraglichen Fälle 42 % der Patienten mit Steno- sen im Röntgenbild ein normales Ekg, 17 °/o ohne Stenosen im Röntgenbild ein abnormes Ekg und nur 27,5 % mit Stenosen im Röntgenbild auch ein abnormes Ekg.

Auf eine Kausalität zwischen Stenose und Ekg-Abnormität kann aus diesen Ergebnissen nicht geschlossen werden. Von Be- deutung ist dabei zusätzlich, daß die Ekg-Anomalien unter Be- lastung bei Patienten mit oder ohne Koronarstenose im Rönt- genbild qualitativ gleichartig sind. Wenn aber ohne Stenosen ge- nau die gleichen Anomalien auftreten wie bei den Fällen mit Stenose, stellt sich die Frage, ob diese gleichen Anomalien mit Stenosen nicht durch denselben Schädigungsmechanismus bewirkt wurden wie in den Fällen ohne Stenosen: Sind also die Stenosen in den Fällen mit abnormen EKG nicht die Ursache dieser Anomalien, haben sie die Versorgung überhaupt beeinträchtigt? Statistik kann Kausalzusammenhänge niemals beweisen, sie kann jedoch aus dem Fehlen eines Konnexes jeden Kausalzusam- menhang ausschließen. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind deshalb ein weiteres starkes Indiz für das Fehlen einer Kausalität zwi- schen Koronarstenosen und Ekg-Anomalien.

Zur Frage der Vasokongruenz:

Decken sich Gefäßverschluß und nekrotische Zonen?

Kern hatte darauf hingewiesen, daß die Nekrosen im Herz- muskel nicht mit dem Gefäßverlauf übereinstimmen, daß sie vasoinkongruent seien: „Wenn sich in der linksventrikulären Vorderwand Nekrosen finden und zugleich hier in der ernäh- renden absteigenden Vorderwandarterie Verschlüsse gefunden

290

werden, so wird allgemein auf eine Kongruenz der Befunde ge- schlossen. Unberücksichtigt bleibt dabei aber, daß viele Gebiete hinter der verschlossenen Arterie noch normal ernährtes, gut erhaltenes Myokard aufweisen, so in sämtlichen rechtsventriku- lären Anteilen, in den rechts- wie linksseitigen basisnahen Ge- bieten und — besonders aufschlußreich — inmitten der Nekrose- gebiete der linken Vorderwand auch große Inseln erhaltenen (also gut durchbluteten) Myokards. Unberücksichtigt bleibt ebenso, daß Nekrosen sich im Versorgungsgebiet anderer, nicht verschlossener Kranzarterien finden. Vasokongruenz bedeutet nicht, daß es genügt, wenn im vermeintlich verschlossenen Ge- fäßgebiet irgendwo Nekrosen liegen, sondern daß in diesem Ge- biet nur Nekrose, kein lebendes Myokard vorzuliegen hat und daß Nekrosen in keinem sonstigen, nicht verschlossenen Gefäß- gebiet vorkommen dürfen — wenn anders der Begriff nicht im

Selbstwiderspruch zu seiner Anwendung stehen soll."

Schoenmakers weist darauf hin, daß sich die große Nekrose aus mehreren kleinen bis mittelgroßen Herden zusammensetzen kann, „die noch schmale, leidlich intakte Myokardbrücken und -netze zwischen sich fassen", was der thrombotischen Verschluß- theorie widerspricht. Schoenmakers führt noch einen anderen Grund an, aus dem heraus die Wirksamkeit von Gefäßver- schlüssen in Frage gestellt werden muß: „Das buntgescheckte Aussehen eines Infarktbezirkes beruht oft darauf, daß der große Infarkt nicht in einer Zeitspanne aufgetreten ist, sondern daß mehrere Schübe von Nekrosen einander mit einem kleineren oder größeren zeitlichen Intervall gefolgt sind. Diese Beschaf- fenheit des Infarktes ist für viele Fälle besonders wichtig, weil man daraus, und natürlich aus der histologischen Untersuchung, angeben kann, daß es sich um einen mehrzeitigen Infarkt ge- handelt hat."

Doerr kommt deshalb auch zu der Überlegung, daß sich „der historische Infarktbegriff eine gewisse Veränderung in sei- ner definitorischen Fassung gefallen lassen" müsse. Er schlägt als neuen Begriff den „Nichtobturationsinfarkt" vor, was sinn- gemäß etwa soviel heißt wie Verstopfung ohne Verstopfung.

In seiner offiziellen Stellungnahme zum Herzinfarkt-Streit

291

betont Doerr, daß Innenschichtschäden keine Infarkte seien, und er begründete seine Feststellung damit, daß sie „nicht mit den örtlichen Vorgängen der Kreislaufstörungen im Gewebe* einhergehen. Obgleich sie demnach also metabolisch entstanden sind, werden sie von Doerr dennoch als „Dokumente einer Koronarinsuffizienz" dem Infarkt an die Seite gestellt.

Zur Rettung der Hypothese, daß Herznekrosen koronar ent- stehen, stützt sich Doerr auf folgendes Argument: „Wäre die ,Koronartheorie* der sog. Koronarinsuffizienz auf Sand gebaut, hätte jede Form einer chirurgischen Intervention, nämlich der operativen Beseitigung sog. Koronararterienversdilüsse keinerlei Sinn." Die Fragwürdigkeit dieser Methode enthüllt die Frag- würdigkeit dieser Beweisführung.

Zur Frage des Intimaödems

Der akute Verschluß ist ein zentrales Dogma der Koranar- theorie. Denn die allmähliche Stenosierung eines Gefäßes hat Anastomosenbildung zur Folge; der Durchblutungsmangel wird kompensiert. Welcher pathologische Prozeß kann aber solch einen akuten Verschluß bewirken, nachdem die Thrombose aus- scheidet, weil sie ja erst nach dem Infarkt entsteht?

Von mehreren Autoren wurde in letzter Zeit das Intimaödem ins Gespräch gebracht. Diese Vermutung hält einer kritischen Überlegung nicht Stand. Denn der ödemdruck ist so niedrig, daß er beträchtlich unter dem Arterien-Innendruck liegt. Er kann grundsätzlich niemals ebenso hoch werden wie der Innen- druck der Arterie, denn einen höheren Flüssigkeitsdruck als in den Arterien gibt es nirgendwo im Körper, jeder Flüssigkeits- druck ist direkt oder indirekt eine Folge des Arteriendrucks und kann somit nur niedriger sein als dieser. Demnach können die in Leichenarterien vorgefundenen Intimaödeme nur postmortal entstanden sein.

292

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Zum Statistik-Streit

Kern hat aus seiner Kartei jene 15 000 Patienten ausgewählt, die von ihm wegen Herzsymptomen behandelt worden waren und sich bereits in mindestens zwei Jahrgängen in dieser Be- handlung befanden. Die Addition der einzelnen Behandlungs- zeiten ergab mehr als 52 000 Behandlungsjahre. Kern machte folgende Rechnung auf: „Nach der Bundesstatistik sind im be- trachteten Zeitraum im Jahresdurchschnitt 70 von je 100 000 Menschen an Herzinfarkt gestorben. Mein Herzkrankengut setzt sich zu mehr als 99,5 °/o aus Patienten zusammen, die älter sind als 35 Jahre. Danach muß die Sterbezahl 70 der Bundes- statistik in der als Vergleichskollektiv herangezogenen Bundes- bevölkerung auf deren Hälfte über 35 Jahre bezogen werden. Im betrachteten Zeitraum waren tödliche Infarkte bei Personen unter 35 Jahren noch so selten, daß sie ohne Resultatverfäl- schung vernachlässigt werden können. Das Vergleichskollektiv kann demnach nur 50 000 Personen jährlich umfassen."

In seiner Stellungnahme zum Vorgehen des Rezensenten H.

Immich führte Kern aus:

„Denn es fällt auf, daß er Personenzahlen, Behandlungsjahre und Zeitverhältnisse nur zu so kleinem Teil berücksichtigt und den Behandlungsmodus so gestaltet hat, daß das Ausbleiben tödlicher Infarkte gerade noch statistisch als zufällig gedeutet werden kann. Hervorgehoben sei nur folgendes: Von den tat- sächlich behandelten 15 000 Herzpatienten bezieht der Rezen- sent nur die Hälfte, 7500, in seine Berechnung ein. Als Ver- gleichskollektiv wählt er die Gesamtbevölkerung einschließlich Säuglingen und Schulkindern, obwohl das rezensierte Buch ge- rade auch in Kapitel 16 ausdrücklich betont, daß die Herzkran- ken-Klientel von solchen Personengruppen frei ist. Er wendet die Bundesstatistik so an, als ob die Wahrscheinlichkeit für In- farkttod innerhalb 3,5 Jahren dieselbe wäre wie in einem Jahr.

Auch von der Zahl der Behandlungsjahre werden statt des Ge-

298

samtbetrags von 52 000 (= 100 Prozent) nur 7500 (= 15 Pro- zent) der Berechnung zugrunde gelegt."

Auch H. Rensch setzt sich mit den kritischen Stellungnahmen zu Kerns Dokumentation auseinander. Zuerst nimmt er Immichs Spiel mit Zahlen unter die Lupe:

„Die Aussage der Nullsterblichkeit durch Infarkte während 50 000 Patientenjahren wurde durch statistisch unsachgemäße und logisch falsche Behauptungen als so belanglos dargestellt, daß sich eine nähere Überprüfung »erübrige*. Das Erstaunlichste an diesem Vorgehen ist, daß sich offenbar niemand die Mühe machte, die Einwände auf Seriosität zu überprüfen!"

Rensch deutete sogar die Vermutung an, daß dahinter Ab- sicht gesteckt habe: „Auffällig ist, daß alle Denk- und Rechen- fehler Immichs in die gleiche Richtung führen, nämlich zur Re- duktion der Erfolgszahl von Kerns Myokard-Therapie. Das widerspricht der Statistik!*

Zu Kollers Unterstellung einer „massiven Untererfassung der Sterbefälle" führte Rensch aus, in diesem Falle hätte Kern „mehr als 800 Sterbefälle in seiner Praxis übersehen müssen, darunter sämtliche Infarkte gemäß Bundesstatistik, obwohl die Patienten im Mittel 3,5 Jahre bei ihm waren!"

Koller hatte Kern außerdem „systematische Unterlassungen" vorgeworfen: Gefährdete Patienten hätten Kern einfach ver- lassen, sobald sie die Unwirksamkeit seiner Therapie festgestellt hätten. Deshalb seien die zu erwartenden 100 tödlichen und 300 nichttödlichen nicht unter der Behandlung von Kern auf- getreten.

Dazu bemerkte Rensch: „Koller stellte sich also vor, daß alle diese 400 infarktgefährdeten Patienten Kern rechtzeitig ver- ließen, daher 100 Prozent Dunkelziffer! Eine solch präzise auto- matische Selektion der Infarktkandidaten ist schwer vorstell- bar." Aus diesem Grunde bezeichnete er die Konstruktion Kol- lers als unrealistisch.

Ein weiterer Vorwurf gegen die zur Debatte stehende Doku- mentation war der, Kern habe eine Nachkontrolle seiner Pa- tienten versäumt, seine Aussagen beschränkten sich nur auf einen Zeitraum von jeweils durchschnittlich 3,5 Jahren.

299

Nun hatte Kern allerdings niemals behauptet, ein Strophan- tinrezept sei ein Freifahrtschein in eine infarktfreie Zukunft. Er hatte im Gegenteil Beispiele veröffentlicht, die zeigten, daß gefährdete Patienten nach Absetzen der Strophantinbehandlung Infarkte erlitten hatten; und er hatte gerade darin die Über- legenheit seiner Therapie gegenüber jeder anderen bestätigt gesehen. Eine konsequente Beobachtung der Patienten nach Ab- setzen der Therapie betrachtete er als überflüssig, weil seine Statistik nur darauf abgestellt war, feststellen zu können, ob Patienten während der Therapie Infarkte erlitten hatten und wie viele Infarkte in einer vergleichbaren Bevölkerungs- gruppe im gleichen Zeitraum aufgetreten waren. Die Kontrolle galt nur der Wirksamkeit während der Dauerbehandlung.

„Sobald die Dauerkorrektur unterbrochen wird, herrschen wieder die alten Nachteile des Dauerschadens eventuell bis zur Katastrophengefahr oder Katastrophe selbst. Trotzdem würde niemand deswegen die Wirksamkeit der Korrektur während der Anwendung bezweifeln, unabhängig davon, ob nach ihrem Ab- setzen die Katastrophe noch ausgeblieben oder schon eingetreten ist. Damit ist der Vorwurf unterlassener Nachuntersuchungen in sich sinnlos*, kritisierte Rensch. Niemand würde ja auch die Wirksamkeit einer Brille bestreiten, bloß weil nach Absetzen der Brille die Sehkraft wieder unzureichend ist.

Zu dem Vorwurf der „massiven Untererfassung der Sterbe- fälle" führte er an: „Mit Sicherheit ist die primitive Ausrech- nung der insgesamt zu erwartenden Todesfälle aus der Anzahl der nach dem Bundesdurchschnitt zu erwartenden Infarkte — ,ein tödlicher Infarkt auf neun andere Todesfälle, 100 tödliche Infarkte bei Kern zu erwarten, dazu 900 Tote aus anderen Ur- sachen* — nicht für jede Praxis gültig, geschweige denn für

Kerns Herzpraxis."

Kern hatte 179 Todesfälle in seiner Klientel für den Zeit- raum der statistischen Erfassung angegeben, 86 von ihnen waren an anderen Herzkrankheiten als Infarkten gestorben. Diese 86, den 93 an anderen Ursachen Verstorbenen gegenübergestellt, zeigten bereits, daß sich in seiner Praxis ungewöhnlich viele

Herzkranke eingefunden hatten, daß seine Klientel sehr herz-

300

gefährdet gewesen sei und deshalb nicht mit einem beliebigen anderen Kollektiv verglichen werden könnte. Dennoch sei die Zahl der Herztodesfälle bei 50 000 Herzpatienten extrem niedrig.

„Es ist aber auch klar, daß man die zu erwartende Anzahl von Todesfällen nicht etwa dadurch ausrechnen kann, daß man die jährliche Anzahl von Todesfällen der BRD durch die An- zahl der niedergelassene Ärzte teilt, da hierbei weder die Art der Praxis noch die Anzahl der Patientenjahre berücksichtigt werden kann", führt Rensch aus. „Kollers Vorwurf, ,zu wenig Tote* fußt daher weder auf reellen statistischen Kenntnissen, noch berücksichtigt er die besondere Art der Praxis, die in Kerns Fall durch das extreme Überwiegen von Herztodesfällen gegen- über anderen Todesarten gekennzeichnet ist. Wenn Kollers Ein- wand im ersten Augenblick auch verblüffend klingt, so hält er einer sachlichen Prüfung jedoch nicht stand." Überdies muß be- rücksichtigt werden, daß die weitaus meisten Patienten in Kli- niken, Krankenhäusern, Unfallstationen, Altersheimen, Pflege- heimen usw. sterben. So wie es heute kaum noch Entbindungen in der Wohnung, sondern fast nur noch in der Klinik gibt, so sind auch die Todesfälle zu Hause sehr selten geworden. Von manchen Ärzten hört man sogar, daß sie in ihrer jahrzehnte- langen Praxis noch keinen Sterbefall erlebt haben, weil sie Schwerkranke immer noch rechtzeitig an die Klinik überwiesen haben. Das sollte an sich auch Statistikern bekannt sein. Die Division „Gesamtsterbezahl durch die Zahl niedergelassener Ärzte" ist deswegen „unrealistisch" (Rensch).

Zum Problem einer Dunkelziffer, weil womöglich einige In- farkte aus unterschiedlichen Ursachen nicht erfaßt worden sein könnten, merkt Rensch an: „Im folgenden wird gezeigt, daß auch bei Annahme einer unwahrscheinlich großen Dunkelziffer noch immer ein erheblicher Erfolg von Kerns Myokard-Thera- pie im Vergleich zur Koronar-Therapie mit 99 Prozent Aus- sagesicherheit nachweisbar ist." Schließlich faßt er das Ergebnis seiner Berechnungen zusammen:

„Auch wenn fünf tödliche Infarkte vorgekommen oder nicht erkannt worden wären, reduziert die Myokard-Therapie noch immer die »normale' Infarktgefahr (Bundesdurchschnitt =100

301

Prozent) auf zwölf Prozent, verhütet also 88 Prozent der töd- lichen Infarkte!"

In einer seiner grundsätzlichen Überlegungen stellte R. Vir- chow fest: „Die statistischen Zusammenstellungen, welche man zur Erprobung der Heilmittel angelegt hat, können kein Resul- tat liefern, da es sich beim Behandeln nie um Massen, sondern nur um einzelne Kranke handelt; hätte man statt der Tabellen die einzelnen Krankheitsgeschichten genau geführt..., so hätte man sicherlich überzeugende und brauchbare Tatsachen gewin- nen müssen. Es können nur Studenten und Ärzte ohne Erfah- rung sein, welche sich zu Panegyrikern der therapeutischen Skepsis hergeben; die tägliche Erfahrung genügt vollkommen, um jedem unbefangenen Praktiker die Überzeugung von der Wirksamkeit der Arzneimittel und der Wirkungsfähigkeit des

Arztes zu gewähren. Gewisse Dinge werden von dem gesunden Menschenverstände und der einfachen und isolierten Beobach- tung so vollkommen erkannt, daß die gelehrteste Untersuchung mit einem unendlichen Zahlenaufwande nicht genügt, um diese

Erkenntnis zu vernichten."

Zur Objektivierung von Herzschmerzen

K. Kötschau hat darauf hingewiesen, daß beim Auftreten von Herzsymptomen in den meisten Fällen im Ausstrahlungsbereich des linken Herzens von Muskelfibrillen angelagerte Binde- gewebsgelosen entstehen, die als Muskelhärten imponieren. Werden solche Gelosen durch Segmenttherapie ausgeschaltet, kommt es zu einer Besserung der Beschwerden und zur Steige- rung der Leistung. Kötschau weist vorsorglich darauf hin, daß sich „die Gelosen nur nach ausgiebiger Ölung der Haut tasten" lassen.

Seine Beobachtungen decken sich mit den Beobachtungen von Kern und Mitarbeitern. Die Gelosen in Linksherzsegmenten verschwinden sehr rasch unter Therapie des Linksmyokards..

„Die erste Registrierung gesundheitlicher Störungen ist... subjektiv, d. h. eine gestörte Empfindlichkeit... Es ist bemer- kenswert, wie eine naturwissenschaftlich konsequent fortschrei-

302

tende Medizin auf soldie Weise wieder beim Subjekt, d. h. bei der Befindlichkeit des Patienten, anlangt. Sie zeigt dabei eine erstaunliche Parallele zur Physik, die auch auf dem Wege zu den letzten Realitäten einer »objektiven Außenwelt* schließlich die Spuren des eigenen Menschengeistes entdeckt hat", schreibt H. Schaefer und zeigt damit den neuesten Trend auf.

303

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307

IV.

Zum Resorptions-Streit

Als exakter Beweis für die schlechte Resorption oralen Stroph- anthins gelten der Pharmakologie die neueren radio-immu- nologisdien Untersuchungen von K. Green0. Dabei ist die Dar- stellung eines Antigens Voraussetzung, also eines Stoffes, der im Organismus die Bildung von Antikörpern hervorruft. Das ist bei herzwirksamen Glykosiden durch die Bindung an Albumin, einen Eiweißkörper möglich. Besonders bei Digitalis ist die Herstellung solcher stabiler Eiweiß-Kopplungsprodukte ver- ständlich. Fraglich wird dieser Versuch bei dem stark wasser- löslichen g-Strophanthin, dessen schnelle Ausscheidung aus dem Körper ja gerade darauf beruht, daß ein solches Eiweiß-Bin- dungsvermögen kaum oder gar nicht zustandekommt.

Bei der radio-immunologischen Glykosidbestimmung wird das Glykosid im Blutserum oder im Harn mit einer bestimm- ten Menge des gleichen, aber radioaktiv gemachten Glykosids an Antikörper gebunden, die beim Tier mittels des erwähnten Antigens erzeugt worden sind. Dabei wird vorausgesetzt, daß radioaktives und natürliches Glykosid aus der Probe im glei- chen Mengenverhältnis an die Antikörper gebunden werden.

Aus dem Oberschuß des durch Impulsmessung bestimmbaren nicht gebundenen radioaktiven Glykosids wird direkt auf die Menge des gebundenen radioaktiv markierten Glykosids und indirekt auf die Menge des gebundenen natürlichen Glykosids geschlossen.

Mit Hilfe der Elektronen-Massenanlagerungsspektrographie hatte M. v. Ardenne untersucht, wie beständig Strophanthin- Moleküle sind. Dabei zeigte es sich, daß sie schon kurz nach dem Wirkungseintritt „zerfallen", d. h. eine hydrolytische Abspaltung des Rhamnosylrestes erfolgt. Dieses inaktive, metabolisch wirk- same Strophanthin hat aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht die gleichen oder gar keine Reaktionen auf die spezifischen, aus dem Kaninchen gewonnenen Antikörper, wie das für das aktive Strophanthin gelten mag.

308

Diese Abspaltung des Zuckerrestes macht auch verständlich, warum orales Strophantin trotz objektivierter Therapiewirkung solch eine auffallend geringe Toxizität hat und auch bei hoher Dosierung nur geringfügige Nebenwirkungen auftreten und diese auch praktisch nur auf den Schleimhäuten des Magen- Darm-Kanals.

Für die radio-immunologische Glykosidbestimmung bedeutet diese Zustandsänderung des Strophanthinmoleküls aber, daß bei der angegebenen Versuchsanordnung Antikörper für diese Sekundärsubstanz gar nicht zustande gekommen sind, weil nur Antikörper aus natürlichem Strophanthin verwendet wurden.

Deshalb konnten mit dieser Methode sogar vom intravenös ins Blut gespritzten Strophanthin nur ein bis zwei Prozent nach- gewiesen werden. Die übrigen 98 bis 99 Prozent des noch vor- handenen Strophanthins konnten mit dieser Methode nicht er- faßt werden. Diese 98 bis 99 Prozent des intravenösen Stroph- anthins als „unresorbiert" zu bezeichnen, bloß weil eine fehler- hafte Technik sie nicht feststellen kann, wäre wissenschaftlich nicht korrekt. Das gleiche gilt für die ermittelten ein bis zwei Prozent oralen Strophanthins.

Aber wenn auch diese Methode für die Ermittlung der Re- sorption ungeeignet ist, so kann man doch damit die Blutkon- zentration feststellen, die für eine volle, herztherapeutische Strophanthinwirkung nötig ist. Und dieser Wert wird in glei- cher Höhe und Herzwirksamkeit auf intravenösem wie auf oralem Wege erreicht. Ja, er liegt bei oraler Zufuhr sogar etwas höher, wenn die für beide Wege bekannten Dosen verabreicht werden. Damit hat Greeff gerade das aufgezeigt, was bestritten wird: die volle Wirkspiegelhöhe und Herzwirksamkeit von richtig angewendetem oralem Strophanthin.

Zum Nachweis der Resorption

M. von Ardenne errechnete eine Resorptionsquote von 50 bis 100 Prozent. Seinen Untersuchungen wurde widersprochen, aber sie wurden nie widerlegt. Kern hatte Patienten, die am Ende des Dünndarms einen künstlichen Ausgang durch die Bauch- wand hatten, orales Strophanthin in üblicher kräftiger Dosis zu

309

trinken gegeben. Darauf wurde der Darmsaft untersucht, der sich aus dem künstlichen After entleerte. Niemals konnten bei normalem Passagetempo auch nur die geringsten Reste von un- resorbiertem Strophanthin nachgewiesen werden. Schlußfolge- rung: Es gibt keine unresorbierten Reste, also muß die ver- abreichte Strophantinmenge schon bis zum Ende des Dünn- darms resorbiert worden sein.

Zur Frage der exakten Dosierung

Seit Jahrzehnten gibt es eine sogenannte Sättigungslehre für

Herzglykoside. Danach gilt der Bedarf als „gesättigt", sobald Symptome verschwunden sind — für jeden Patienten individuell mit anderer Dosis. Als aber Kern sich auf dieses Sättigungs- prinzip berief, wurde es verworfen.

Zur Wirksamkeit oralen Stropbanthins bei Herzinsuffizienz

Neuerdings ist sogar der Nachweis gelungen, daß mit oralem Strophanthin nicht nur die metabolische, sondern auch die energetische Situation des Myokards günstig beeinflußt werden kann. W. Rentsch vom Laboratorium für Elektromedizin und Elektronik in Pirna/DDR konnte zeigen, daß bei Verabrei- chung von entsprechend konzentriertem oralem g-Strophanthin bei latenter Herzinsuffizienz die gleiche positiv-inotrope Wir- kung erzielt wird wie bei iv-Injektion. Diese Ergebnisse wur- den mit Hilfe des kardialen Anspannungsindez ermittelt, der es erlaubt, Minderungen der kontraktilen Anpassungsfähigkeit der Herzinsuffizienz zu erkennen. Nachdem die erzielte Index- verbesserung für beide Applikationsarten eine bedeutende Stei- gerung in gleicher Höhe ausweist, ist müßig geworden, die Re- sorption oralen Strophanthins weiter in Frage zu stellen. Im Gegenteil: schon seit Greeff für orales und intravenöses Stroph- anthin die gleiche Wirkspiegelhöhe nachgewiesen hat, ist un- streitbar, daß voll wirksame Mengen oralen Strophanthins re- sorbiert werden.

„Es ist anzunehmen,  daß  die metabolische Wirkung  des

310

g-Strophanthins eng mit seiner positiv-inotropen Wirkung ver- knüpft ist, denn durch die stärkere Mitnutzung der Milchsäure als Energiesubstrat infolge Strophanthin-Gabe wird auch die energetische Situation des Myokards verbessert", erläutert M. von Ardenne. „Nach diesem Ergebnis ist jetzt eine weitere Ab- lehnung der standardisierten perlingualen Applikation von g-Strophanthin ... nicht mehr zu verantworten."

Zur Diskussion Halhuber-Kern

K. Donath hatte behauptet, daß Kern und Mitarbeiter es trotz der Bereitschaft eines qualifizierten Klinikers abgelehnt hätten, die von ihm „behaupteten therapeutischen Erfolge in kontrol- lierten Untersuchungen nachzuprüfen". Kern forderte Donath daraufhin auf, doch selbst klinische Prüfungen mit diesem Medi- kament vorzunehmen. Statt nach seinem Vorwurf darauf einzu- gehen, bat Donath nach drei Monaten Bedenkzeit um Verständ- nis dafür, daß er die Diskussion abbrechen wolle. In dem zu- sammen mit M. J. Halhuber verfaßten Brief heißt es: »Wir scheinen verschiedene Sprachen zu sprechen, und dadurch sind fast ohne Unterbrechung Mißverständnisse unvermeidlich. Es spielt dabei keine Rolle, wer an dieser Sprachverschiedenheit »schuld* ist. Nur wegen dieser sprachlichen Probleme und der psychologisch verschiedenen Ausgangslage, die ein Gespräch un- möglich zu machen scheint, hat Halhuber aufgrund langjähriger bisheriger Erfahrungen die Konsequenz ziehen müssen, die Dis- kussion mit Ihnen persönlich abzubrechen."

Kern antwortete: „Halten Sie solches Vorschützen eines sprachlichen' Verständnis-Unvermögens für angemessen Ihrem öffentlichen Amt zur Versorgung unzähliger Infarktgefährde- ter? Oder für befreiend von juristischer Schuld-Zurechnung? ... Es gibt Entschuldigungsversuche, die noch eine Zusatzschuld offenbaren. Wenn ein Autofahrer durch Linksfahren einen Un- fall verschuldet hat und dann zur Entschuldigung vorgibt, die Rechtsfahrpflicht und die sonstigen so leicht erlernbaren Ver- haltensregeln weder aus der Literatur zu kennen noch durch Be- fragung erfolgreicherer Kollegen erfahren zu können, so be-

311

wahrt ihn das keineswegs vor Strafe und Schadenersatz, son- dern disqualifiziert ihn überdies von weiterem Führerschein- besitz."

In Heidelberg gab Donath seine Antwort darauf. W. Roth- mund hatte erklärt: „Ich nehme an, daß Sie uns hier abnehmen, daß wir eine Hypertonie diagnostizieren können .. ."

Donath: „Nein!"

Rothmund: „Das glauben Sie nicht?"

Donath: „Wenn Sie den Anfangsblutdruck nehmen, so ist er immer hoch!"

Rothmund: „Herr Kollege, wir ziehen den Manschettenreflex ab, dann stimmt es."

Donath: „Na und?"

Hypertonie ist eine der gefürchtetsten Erkrankungen unserer

Zeit. Wenn ein Arzt behauptet, daß er bei 95 Prozent seiner

Fälle mit kardiogener Hypertonie eine Senkung der Werte zur Norm erzielen könne, dann müßten seine Ausführungen eigent- lich auf größtes Interesse bei seinen Kollegen stoßen. Statt des- sen sprach Donath Rothmund die ärztliche Qualifikation ab.

Zum Vorwurf des Heilers

Dazu führte Rudolf Virchow, der als einer der Begründer einer naturwissenschaftlichen Medizin gilt, 1846 in der Jahres- sitzung der »Gesellschaft für wissenschaftliche Medicin' aus: „Nach unserer Anschauung involvirt der Begriff der Medicin, der Heilkunde ohne Weiteres den des Heilens, obwohl es nach der neuesten Entwicklung der Medicin so scheinen könnte, als wenn es darauf eigentlich nicht ankäme. Mediciner kann daher nur derjenige genannt werden, der als den letzten Zweck seines

Strebens das Heilen betrachtet."

312

Literaturverzeichnis

Kapitel IV

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27. 12.1967 bis 1. 2. 1971

Briefwechsel Schmidsberger/Halhuber

3. 3. 1971 bis 31. 8. 1971

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Vorwort

Virchows Archiv Band 1,1847

M. von Ardenne

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Cardiol. Bull. Acta cardiol. 1975

315

V.

Zur Resorptionsfrage

Die Untersuchungen im Wiener Hanüsch-Krankenhaus werfen ein neues Licht auf die radioimmunologischen Untersuchungen zur Resorptionsfrage. Wenn K. Greeff eine Resorptionsquote von rund 2 % bei oralem Strophantin angibt, dann muß er sich fragen lassen, wie es zu erklären ist, daß die erhebliche Menge von 0,8 Milligramm Digoxin intravenös beim Hypoxietest wir- kungslos bleibt und die überaus geringe Menge von 0,12 Milli- gramm g-Strophanthin (2% von 6 Milligramm) eine signifi- kante Wirkung zeigt. Es bieten sich nur zwei Erklärungsmög- lichkeiten an: entweder stimmt die von Greeff ermittelte Re- sorptionsquote nicht, oder die Wirkung des g-Strophanthins un- terscheidet sich grundsätzlich von der der Digitalis.

Zum Problem der Suche nach Risikofaktoren

Eine Fachzeitschrift glossiert die statistisch programmierte Suche nach Risikofaktoren. Gibt es wirklich nur fünf?

„Da belehrt uns ein Blick in die vom »selecta'-Ardiiv unter dem Stichwort .Herzinfarkt' gesammelten Zeitungsausschnitte weniger Jahre schnell eines Besseren. Da lauert der heimtücki- sche Herztod in sämtlichen Spalten und Kolumnen. Weitere, fast stets mit statistischer Signifikanz ausgestattete Risikofakto- ren sind demnach: in einer Großstadt zu leben, gern lange zu schlafen, öfter Rohrzucker zu essen, sich an einem Montag zu befinden, an einer Hauptverkehrsstraße zu wohnen, an Cal- ciummangel zu leiden, Seitensprünge zu machen, eine sitzende Lebensweise zu bevorzugen, in einem hochindustrialisierten Land zu leben, sich in einer Tiefdruck-Wetterlage aufzuhalten, einen Bandscheibenschaden zu haben, höherer Angestellter zu sein, mittlerer Angestellter zu sein, kleiner Angestellter zu sein, Arbeiter zu sein.

Ausgesprochen gut gegen Herzinfarkt ist es dagegen, die

Blutgruppe Null zu haben, hartes Wasser zu trinken, eine hö-

316

here Schulbildung zu haben, vegetarisch zu essen, die »Pille* zu nehmen, ein rangniedriger Mönch in einem Trappistenkloster zu sein, fluoriertes Wasser zu trinken, sich viel Bewegung zu machen, gern Fisch zu essen, seinen Heparinspiegel hochzuhal- ten, regelmäßig Aperitifs zu trinken, ferner: höherer Angestell- ter zu sein, mittlerer Angestellter zu sein, kleiner Angestellter zu sein, Arbeiter zu sein.

Danach richte sich nun das Leben ein, wer kann. Wir aber beginnen zu begreifen: nichts weiter ist also nötig als die kon- sequente und unmittelbare Konfrontation von jedermann zu- gänglichen Fakten, um schlagartig die ganze Widersprüchlich- keit, den blanken Zynismus, die immanente Lebensfeindlichkeit der pluralistischen Leistungsgesellschaft zu entlarven. Für uns ergibt sich daraus wiederum nur eine logische Konsequenz: Zer- schlagt diese Gesellschaft!"

Auch M. J. Halhuber hat sich über dieses Problem seine Ge- danken gemacht: „Diese Risikofaktoren in reichem Ausmaß zu beeinflussen, ist bekanntlich kein Problem der Medizin oder mißlingt, weil sie versagt... Dies ist ein Problem der Ände- rung unserer Sozialstruktur..."

J. Henle, Entdecker der Nierenschleifen, schrieb 1844, es sei jene „laxe Logik eingerissen, welche die Medizin, den sogenann- ten exakten Naturwissenschaften gegenüber, zum Gespött ge- macht hat; nur in der Medizin gibt es Ursachen, die hunderter- lei Wirkungen haben oder deren Wirkung nach Belieben einmal ganz ausbleiben kann, nur in der Medizin darf der selbe Effect aus den verschiedenartigsten Quellen abgeleitet werden. Man werfe einen Blick auf das Kapitel von der Aetiologie in den Handbüchern und Monographien: folgt nicht fast bei jeder Krankheit... dasselbe Heer von Schädlichkeiten...? Dies ist gerade so wissenschaftlich, als wenn ein Physiker lehren würde: der Fall der Körper rühre her vom Wegziehen eines Brettes oder auch eines Balkens, vom Abreißen eines Seiles oder Drahtes, von der Existenz einer Öffnung u. dgl."

317

Zur Schädigung des Myokards durch Risikofaktoren

Kern bezeichnet die Risikofaktoren als Schadensfaktoren. Nach seiner Vorstellung wird die Herzgesundheit auf folgende Weise beeinträchtigt:

Ein Patient hat Übergewicht und hohen Blutdruck. Sein Herz kann die Mehrarbeit mit den normalen Muskelzellen nicht be- wältigen. Andererseits hat es keine Möglichkeit, die Zahl seiner Zellen zu vermehren, um kräftiger zu werden. Deshalb hyper- trophiert es, das heißt, es vergrößert seine Zellen durch Dicken- wachstum, um auf diese Weise die Muskelmasse zu erhöhen. Dadurch ist es zwar leistungsfähiger geworden und den über- mäßigen Anforderungen zunächst einmal gewachsen. Es wird aber auch anfälliger gegen schädliche Einflüsse.

Je dicker eine Zelle geworden ist und je mehr Leistung von ihr verlangt wird, desto größer ist einerseits ihr Nahrungs- bedarf, andererseits fallen um so mehr Stoffwechsel-Schlacken an, muß um so mehr „Müll" abtransportiert werden. Aber gleichzeitig sind auch die Transportwege länger geworden, auf denen die Nährstoffe heran- und der Abfall „weggekarrt" wird. Die Zellen beginnen sich an ihrem eigenen Abwasser zu vergif- ten. Denn während sich die Masse der Zelle vervierfacht hat, konnte sich die Oberfläche der Zelle, die Fläche der Zellmem- bran (Zellwand) nur verdoppeln. Durch diese Austauschfläche bezieht sie ihre Nahrung, zwar diffundiert mehr Nährstoff hin- durch als vorher, aber immer noch ungenügend wenig im Ver- hältnis zum gestiegenen Bedarf. Hat schon der „Engpaß Durch- blutungs-Stopp" das Blutangebot reduziert, so kommt für die hypertrophierte Zelle jetzt noch der „Engpaß Zellmembran" hinzu. Zur Illustration: so voll die Trinkflasche auch sein mag und so sehr ein Baby auch immer saugt, es kann in der Zeit- einheit nicht mehr Milch schlürfen, als durch das winzige Loch im Gummisauger hindurchgeht.

Es heißt zwar, daß Hypertrophie sich erst dann schädlich auswirkt, wenn das Herz dadurch eine bestimmte kritische Größe erreicht hat — als Faustregel gelten 500 Gramm. Doch die Vertreter der „metabolischen" Infarkt-Theorie weisen dar-

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auf hin, daß das Herz nicht einmal während der Nachtstunden zur Ruhe kommt und sich erholen kann. Zudem sind die von Natur aus gefährdeten Innenschichten bei Hypertrophie durch den zusätzlichen „Engpaß Zellmembran" in einer sehr schlech- ten Versorgungslage. Werden jetzt zeilschädigende Einflüsse wirksam (z. B. Infekte), dann wird die Situation gefährlich. Es kommt zu einer Stoffwechselnot, die schließlich die Leistungs- fähigkeit beeinträchtigt.

Das rechte Herz ist von Natur aus günstiger dran, weil es weniger belastet wird. Es pumpt weiter unvermindert Blut ins linke Herz, das aber nicht mehr die gleiche Menge in der glei- chen Zeit weiterpumpen kann. Es bleibt Restblut in der linken Kammer zurück — etwa wie in einem Gummiball, der ein Loch hat: hält man ihn unter Wasser und pumpt rhythmisch mit der Hand, so füllt er sich mit Wasser und leert sich wieder. Läßt aber der Druck der Hand nach, so bleibt Wasser in der Höhle zurück.

Im Herzmuskel kommt es jetzt zu folgender Notsituation: Seine Muskelwand ist von Adern durchzogen, damit die ein- zelnen Gewebsschichten, also auch die Innenschichten, ernährt werden können. Aus den Kranzarterien strömt das Blut von außen in diese immer feiner werdenden Gefäße und Gefäßchen hinein, verzweigt sich in die Kapillaren bis hin zu den Zellen. Bleibt aber Restblut in der Kammer zurück und pumpt das rechte Herz kräftig weiter, so wird der Innendruck der linken Kammer höher als der Kapillardruck in den Innenschichten. Dadurch ist der Durchblutungs-Stopp der Systole zum Dauer- zustand geworden, der auch während der Diastole anhält. Die ernährenden Gefäße sind abgeschnürt, so wie eine Armvene, wenn der Arzt den Arm abbindet, um Blut zu stauen. Für die LIS bedeutet das: wenn sich nicht rasch etwas ändert, müssen sie absterben.

Aber kaum ist auf diese Weise die höchste Alarmstufe ein- getreten, läuft ein raffinierter Alarmplan des Organismus ab. Der Körper hilft sich gegen die lebensbedrohende Gefahr mit- tels der Hypertonie. Es kommt zu einem Druckanstieg, der in der Fachsprache als Erfordernis-Hochdruck bezeichnet wird.

319

Doch was Hilfe für den Notfall ist, bedroht auf die Dauer selbst die Gesundheit. Denn dieser Hochdruck wird ja erst durch eine Gewaltleistung des linken Herzens ermöglicht, das seine Reserven mobilisiert, um sich selbst zu retten. Es kann die Mehrleistung deshalb nicht ohne zunehmende Schädigung be- wältigen. Notwendig müssen sich die Zellen weiter vergrößern, um der steigenden Belastung gewachsen zu sein; es kommt da- durch zu einer weiteren Verschlechterung des Stoffwechsel-Aus- tausches, zur zunehmenden Verminderung der Leistung, in der Folge zu noch höherem Ansteigen des Druckes — ein Teufels- kreis ist in Gang gekommen, der ohne wirkungsvolle Hilfe zur Übersäuerung und zum Kettenprozeß des Zelltodes führt.

Hier muß die gezielte Behandlung eingreifen. So wertvoll das Vorbeugen etwa in Form des Ausschaltens von Risikofakto- ren auch sein mag — damit allein ist es jetzt nicht mehr getan. Nur eine erfolgreiche Therapie kann jetzt noch das Schlimmste verhüten.

Xu Nahrungscbolesterin und Blut-Fettspiegel

Von vielen Forschern wird behauptet, zwischen der Höhe des Cholesterin-Niveaus und dem Verzehr von tierischen Fetten bestehe in der Regel eine positive Korrelation. Aber: in die USA ausgewanderte Iren essen weniger tierische Fette als ihre Landsleute zu Hause; dennoch liegt ihr Cholesterin-Niveau höher. Schweizer Bauern haben niedrigere Cholesterin-Werte als die Bürger von Basel, obwohl sie ebenso viel Fett essen.

H. Glatzel bemerkt dazu: „Wenn es zu Anfang schien, als bestünden zwischen Fettverzehr und den Blutniveaus eine ein- deutig positive Korrelation, dann sind diese Beziehungen mit zunehmender Differenzierung der Versuchsanordnungen und Länge der Versuchsdauer im Laufe der Jahre immer fragwürdi- ger geworden."

Der US-Food and Nutrition Board stellt fest: „Die welt- weiten Populationsstudien und epidemiologischen Untersuchun- gen lösen somit nicht das Problem von Nahrungsfetten, Blut- lipiden und Atherosklerose. Extrem fettarme und, umgekehrt,

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extrem fettreiche Kostformen sind vereinbar mit niederem Plas- macholesterinniveau. Sogar Kostformen mit reichlich gesättigten

Fetten gehen mit niederem Cholesterinniveau einher."

Dazu erläutert Glatzel: „Vergleiche räumlich getrennt leben- der Kollektive lassen, wenn auch als Regel mit vielen Aus- nahmen, eine positive Korrelation zwischen Fettverzehr und Cholesterinniveau erkennen: mit der Höhe des Fettverzehrs steigt das Cholesterinniveau. Bei Vergleichen innerhalb eines Kollektivs gleichartiger, unter gleichen Bedingungen lebender Menschen fehlt aber eine solche Korrelation: die Angehörigen ein und desselben Kollektivs, die viel Fett verzehren, liegen mit ihrem Cholesterinniveau nicht höher als die Angehörigen des Kollektivs, die nur wenig Fett essen...

Bemerkenswert in diesem Zusammenhang sind Beobachtun- gen, die zeigen, daß das Cholesterinniveau von Angehörigen verschiedener Kulturkreise selbst dann verschiedene Einstellungs- tendenzen erkennen läßt, wenn der Fettverzehr der Kollektive praktisch gleich groß ist."

Zusammenfassend schreibt Glatzel: „Aus der unübersehbaren Fülle unterschiedlicher Lebensbedingungen und Lebensgewohn- heiten allein den unterschiedlichen Fettverzehr herauszugreifen und verantwortlich zu machen für andere Merkmalunterschiede, ist reine Willkür.*

Zum Senken von Blut-Fettspiegeln

Abnorme Blut-Fettspiegel und Cholesterinwerte sind ein Indiz für gestörte Stoffwechselfunktionen. Deshalb kann ihnen bei richtiger Einschätzung diagnostische Bedeutung zukommen. Dar- aus aber direkte therapeutische Konsequenzen ableiten zu wol- len, ist eine unzulässige Vereinfachung. H. Schaefer gibt zu bedenken: „Es bleibt bis zur Stunde völlig ungewiß, ob man eine Krankheit, die nicht morphologisch interpretierbar ist, aus funktionellen Daten voraussagen, erst recht, ob man ihren wei- teren Ausbruch in manifeste .Krankheit* präventiv verhindern kann."

321

Ein „Wegdrücken" von Blut-Fettspiegel ist ein Kurieren am Symptom und kann die Ursache nicht beeinflussen. Auch wenn ein Mittel dafür im pharmakologisdien Sinn eine Wirkung hat, ist damit über die therapeutische Nützlichkeit noch nichts ge- sagt, es kann ebensogut schaden oder biologisch belanglos blei- ben. Diese Frage ist für das „Wegdrücken" von erhöhten Blut- fettspiegeln zum Schutz vor Herz- und Gefäßkrankheiten noch völlig offen, ja bisher kaum gestellt oder bearbeitet worden.

Ein anderes Kapitel ist der Einsatz solcher Lipidsenker bei der Gefahr von Fettembolien. Hier ist ihre Anwendung kausale Therapie, die Wirkung gleich Wirksamkeit, also lebensrettend.

Zum Unterschied zwischen Klinik und Praxis

R. Virchow bezeichnete es als „Schuld der Kliniker", daß „der Spalt zwischen der wissenschaftlichen und der praktischen Me- dizin so groß ist, daß man von dem gelehrten Arzt behauptete, er könne nichts, und von dem praktischen, er wisse nichts. Die- ser Spalt zwischen Wissenschaft und Praxis ist ziemlich neu: unser Jahrhundert und unser Vaterland haben ihn zustande gebracht."

Kein praktischer Arzt möge daher auf den therapeutischen Messias aus Klinik und Labor hoffen, sondern sich des Satzes erinnern: „... so hilf dir selber!" Auch der praktische Arzt habe ein „natürliches, wohlerworbenes Recht, seine Erfahrungen für ebenso positiv zu halten und der Welt vorzulegen als der Kliniker".

322

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„Kernspaltung" selecta 52,1971

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